abweichende Metrik

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Re: abweichende Metrik

Beitragvon marcus03 » So 4. Sep 2016, 15:57

sinemetu hat geschrieben:Grüssen wird ja immer noch mit Doppel-s geschrieben.


In der Schweiz vllt., aber bei uns heißt es immer noch "grüßen".

http://www.duden.de/rechtschreibung/grueszen

Mit freundlichen Grüßen,
die dir hoffentlich den Nachmittag versüßen.
Wie willst du für den Fehler diesmal büßen?
Vorschlag: Mit guten, saftigen Gemüsen.
Gerne auch mit ein paar fetten Riesen! ;-)

Riese= US-1000$-Note (dt. Tausender gibt's ja nicht mehr)
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon Willimox » So 4. Sep 2016, 18:17

Die angeführten Beispiele sind der Kategorie "unreiner Reim" zuzuordnen.

1) Der Begriff ist nicht unbedingt pejorativ gemeint, signalisiert aber auf jeden Fall eine gewisse Abweichung von reimtechnischen Hochnormen.

2) Ein berühmtes Beispiel für unreinen Reim ist ein/der Gretchenmonolog bei Goethe:

Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!


Leicht frankforterisch-dialektal gesprochenes "neiche" lässt sich hier als Erklärung und eine gewisse Lizenz/Dispens von der Hochnorm anführen. Wie überhaupt im zeitlichen Vorfeld der hochdeutschen Dichtung solche Reime gut zu finden sind. Eben weil es erst Tendenzen zu einer lautlichen (Hoch-)Normierung gibt.

3) Diskrepanz von Länge und Kürze findet sich auch in Höhenkammliteratur zu Genüge, wenn auch immer noch als Ausnahme erkennbar:

Eichendorff: Nachts

Ich wandre durch die stille Nacht,
Da schleicht der Mond so heimlich sacht
Oft aus der dunklen Wolkenhülle,
Und hin und her im Tal
Erwacht die Nachtigall,
Dann wieder alles grau und stille.


4) Diskrepanz von betont und unbetont in der gleichen Silbe, Inkongruenz zwischen metrischem Akzent und prosaischem Wortakzent also, gehört hier auch her.

Schiller setzt (Spaziergang)- wahrscheinlich sehr bewusst - einen solchen Aufmerksamkeitsakzent in einem daktylusorientierten Poem. Für Latinistas und Distichongenießer von einigem Interesse... :chefren:

Glückliches Volk der Gefilde! Noch nicht zur Freiheit 1 erwachet,
Theilst du mit deiner Flur fröhlich das enge Gesetz.
(.......)
Sucht das vertraute Gesetz in des Zufalls grausenden Wundern,
Sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.
Körper und Stimme leiht die Schrift den stummen Gedanken,
Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt.
Da zerrinnt von dem wundernden Blick der Nebel des Wahnes,
Und die Gebilde der Nacht weichen dem tagenden Licht.
Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! Zerriss' er
Mit den Fesseln der Furcht nur nicht den Zügel der Scham!
Freiheit 2 ruft die Vernunft, Freiheit3 die wilde Begierde,
Von der heil'gen Natur ringen sie lüstern sich los.
Ach, da reißen im Sturm die Anker, die an dem Ufer
Warnend ihn hielten, ihn faßt mächtig der fluthende Strom;

Das Lexem Freiheit ist in 1 und 2 mit seiner Prosabetonung in den Hexameter eingepflegt.
In der Position 3 würde bei gleicher Betonung ein Hebungsprall entstehen. Der ist aber hexametertechnisch
sehr problematisch. Also müßte man bei 3 die zweite Silbe betonen.

In der fachlichen Analyse dieser Passage sind drei Ansätze zu finden:
a) Nachahmung der antiken Metrik, sie ist quantitierend: Frei und heit sind beide gleich lang. Also funzt es dann, klassisch gesehen.
b) Semantischer Hinweis im metrischen Subtext: Freiheit der Vernunft ist das eine, eine "richtige"Freiheit. Die Freiheit der (revolutionären) wilden Begierde ist was anderes, wohl auch eine Verdrehung der "wahren" Freiheit.
c) Ebenfalls möglich: Eine schwebende Betonung, in der das Wort auf jeden Fall einen Aufmerksamkeitsakzent erhält und so einen Echoraum beim Rezipienten öffnet...

5) All diese Überlegungen zur Reinheit oder Unreinheit sind auch deswegen nicht unbedingt pejorativ zu nutzen, weil es eben unterschiedliche Kategorien/Normen lyrischen Sprechens gibt: die silbenzählende, die hebungszählende, die musikalisch quantitierende, die bloße Reimbindung ... die Kombination aus hebungszählender und reimbindungsorientierter Lyrik....

6) Markus03 etwa schwabuliert in der prosaisch-lyrisch-volkstümelnden Tradition und fertigt immer wieder - auf persönlich native Defizite hinweisend - "freie Knittelverse". Er nutzt die bloße Reimbindung und verzichtet auf flankierende metrische Regularitäten:

Auch lasst euch gar nicht diß betrüben
Wenn der schreckliche grimmende brüllende Löw wird einher schieben.
Andreas Gryphius, Absurda Comica oder Herr Peter Squenz

Zytho, stell die Pulle - ächz, die Marmeladadinger - kalt!
Zytho, stell die Flascherl´n kalt

Markus03 und Sinemetu, Brakbekl auch kommen bald.

:chefren:
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon marcus03 » So 4. Sep 2016, 19:25

Willimox hat geschrieben:6) Markus03 etwa schwabuliert in der prosaisch-lyrisch-volkstümelnden Tradition und fertigt immer wieder - auf persönlich native Defizite hinweisend - "freie Knittelverse":


Ja,so mach ich meine Verse,
ganz primitive und auch (leicht?) perverse.
Sie sind schon längst mein Markenzeichen,
sogar den Teufel brächten sie zum Weichen.
Wahrer Dichter Gunst ist so nicht zu erschleichen,
sondern lassen die Meister nur entsetzt erbleichen.
Manch einer säh mich am liebsten bei den Leichen,
begraben unter hohen, schweren Eichen.
Damit es ja gibt kein Entweichen. ;-)
marcus03
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon Zythophilus » So 4. Sep 2016, 20:14

4) Diskrepanz von betont und unbetont in der gleichen Silbe, Inkongruenz zwischen metrischem Akzent und prosaischem Wortakzent also ...

Unumstritten waren solche Verse bzw. die Betonung eines Wortes auf einer anderen Silbe, als dem Prosaakzent entsprach, nicht, mochten sie auch von Goethe oder Schiller kommen. So ätzt Fürchtegott Christian Fulda:
In Weimar und in Jena macht man Hexameter wie der,
Aber die Pentameter sind doch noch excellenter.
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon Tiberis » Mo 5. Sep 2016, 00:06

Willimox hat geschrieben:In der Position 3 würde bei gleicher Betonung ein Hebungsprall entstehen. Der ist aber hexametertechnisch
sehr problematisch. Also müßte man bei 3 die zweite Silbe betonen.

ich glaube nicht, dass es von Schiller intendiert war, "freiheit" (pos.3) auf der 2. silbe zu betonen.
vielmehr ist dieses scheinbare "aufeinanderprallen" zweier hebungen bedingt durch die scharfe antithese vernunft - wilde begierde: die gegensätze werden - so verstehe ich es - durch die mittelzäsur (penthemimeres) getrennt, die durch das hinzufügen einer pause(!) in der senkung verstärkt wird. berücksichtigt man beim lesen diese pause, erscheint auch dieser hexameter durchaus stimmig.

im übrigen wimmelt es selbst in den besten deutschen gedichten von solchen angeblich "unreinen" reimen, wenn man schon diesen durchaus pejorativ gemeinten ausdruck verwenden will. man werfe beispielsweise einen blick auf Schillers "lied von der glocke":
da reimt sich z.b.
bräunen - erscheinen
Röte - Städte
Gebäude - weide
sucht - Flucht

usw.
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