abweichende Metrik

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abweichende Metrik

Beitragvon sinemetu » So 19. Jun 2016, 10:50

Hallo,

im aktuellen Gotteslob unter der Nummer 461 firmiert ein Lied namens "Mir nach, spricht Christus, unser Held".

Darin findet sich in Strophe schlussendlich die Zeile: "Wer nicht gekämpft, trägt auch die Kron des ew'gen Lebens nicht davon".

Wir finden hier zumindest von der norddeutschen Aussprache her, in anderen Dialekten mag es anders sein, in gültiger Dichtung einen Verstoß gegen das Metrum, indem ein Längenmißverhältnis zwischen Kron und davon besteht.

Wenn jetzt in zweitausend Jahren Philologen kommen, und angenommen, es existieren nur noch ein paar Relikte des Deutschen unter anderem diese Verszeile, werden diese konstatieren, in davon muß das O lang sein, denn es muß sich ja auf Kron reimen.

Nun wollt ich mal die Lateiner fragen, da man die Längen und Kürzen von Vokalen im Latein ja oft aus Versen ableitet, wie man sich gegen derartige philologische Mißverständnisse wappnet. Wie nennt man sowas? Ist sowas auch nachgewiesen in Lat. Dichtung? Gibt es sowas, daß ein und dasselbe Wort mal lang mal kurz verwendet wird?
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon ille ego qui » So 19. Jun 2016, 14:20

- unreiner Reim
- fueris mit langem und kurzem i, hic (dieser) kurz oder positionslang, ibi mit und ohne jamben- bzw. endsilbenkürzung, flexible metrische behandlung von muta cum liquida uvm.
Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen et egressus silvis vicina coegi,
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon sinemetu » So 7. Aug 2016, 10:18

Ich habe noch eine Gesangbuch-Fundstelle mit unreinem Reim: Und zwar Gotteslob 380 ... Großer Gott, wir loben Dich .. dat alte Te deum .. in Strophe 10 heißt endlich: .. rett aus Sünden, rett aus Tod, sei uns gnädig lieber Gott ... was meine Theorie untertützt, daß die Goten das alte Gottesvolk sind .. :-)

Spaß beiseite: Wenn sowas in Dichtung vorkommt, kann man dann davon ausgehen, daß zuerst die Melodie da war, und dann sekundär der Vers draufgezwungen wurde, falls nicht für die Abweichung ein Dialekt verantwortlich ist?

Was denkt Ihr darüber?
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon Prudentius » Mo 8. Aug 2016, 09:42

sinemetu hat geschrieben:... Verstoß gegen das Metrum, indem ein Längenmißverhältnis zwischen Kron und davon besteht.


Im d. Vers zählen ja Hebungen und Senkungen, nicht Längen und Kürzen, also ist ein solches Mißverhältnis gar nicht da; das -von ist eine Hebung.
Aber was den Reim stört, ist die unterschiedliche Qualität des o: bei Kron ein geschlossenes o, und bei davon ein offenes; wir sind da sehr genau: "Ofen" mit geschlossenem o, die Lippen spitzen sich wie bei u; "offen" dagegen mit offenem o, der Mund geht auf fast wie bei a.

Du verdienst ein Lob für aufmerksames Lesen im Kirchenbuch :klatsch:
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon sinemetu » Mo 8. Aug 2016, 10:13

Prudentius hat geschrieben:
sinemetu hat geschrieben:... Verstoß gegen das Metrum, indem ein Längenmißverhältnis zwischen Kron und davon besteht.


Im d. Vers zählen ja Hebungen und Senkungen, nicht Längen und Kürzen, also ist ein solches Mißverhältnis gar nicht da; das -von ist eine Hebung.


das versteh ich nicht ...??? Der Reim geht doch auf Vokalqualitäten.
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon sinemetu » So 4. Sep 2016, 10:34

Ich hab noch eine Fundstelle: Gotteslob 461, 2. Strophe

Ich bin der Weg, ich weise wohl, wie man wahrhaftig wandeln soll.


Kann man jetzt schließen, daß im Schlesischen Dialekt (Angelus Silesius ist der Autor) wohl auf soll sich reimte?
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon Zythophilus » So 4. Sep 2016, 11:12

Das würde ich nicht vermuten, wenngleich ich es auch nicht ausschließen kann. Lieder - nicht nur Kirchenlieder - aus allen Epochen weisen solche Reimpaare auf, bei denen die Silben, die sich reimen sollen, nicht wirklich gleich sind, speziell wenn es um lange und kurze Vokale geht. Offenbar reichte es den Autoren auch so. Paul Gerhardt, ebenfalls ein bekannter Verfasser von Kirchenliedern, aber kein Schlesier, reimt ebenso "Bahn" auf "kann" ("Befiehl du deine Wege", Strophe 1), und da gibt's noch unzählige andere Beispiele.
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon sinemetu » So 4. Sep 2016, 11:25

Mir schwebt der Gedanke vor, sowas kommt, wenn die Musik im Vordergrund steht, und nur mit Text "unterlegt" wird. Andererseits kann ich mir genau das bei A.S. und P.G nicht vorstellen, (Den Großteil der Melodien zu den Liedern A. S. schrieb der Breslauer fürstbischöfliche Musiker Georg Joseph. Die heute bekannten Werke Paul Gerhardts, 139 deutsche Liedtexte und Gedichte, sowie 15 lateinische Gedichte, wurden u. a. von Johann Crüger, Johann Georg Ebeling und Johann Sebastian Bach vertont. Gerhardt selbst war ein bescheidener, behutsamer und anspruchsloser Dichter. Beide Sätze Wiki-Zitate) waren beide doch Dichter. Wodurch haben Sie sich denn zu sowas hinreissen lassen? Hatten Sie was zu sagen?
Zuletzt geändert von sinemetu am So 4. Sep 2016, 11:51, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon marcus03 » So 4. Sep 2016, 11:46

Im "Sound" des Liedes stört der Reimfehler wohl kaum jemanden. :)

Eher schon hier:

So, nun mach ich auch schon Schluss,
und send' euch 'nen schönen Sonntagsgruß. :)
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon cultor linguarum antiquarum » So 4. Sep 2016, 12:24

und nerv' Euch nicht mehr mit meinem Stuss.

Reimt sich zwar, aber stimmt nicht, denn Marcus schreibt zwar Lustiges, aber keinen Stuss!
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon marcus03 » So 4. Sep 2016, 12:39

cultor linguarum antiquarum hat geschrieben: Marcus schreibt zwar Lustiges, aber keinen Stuss!


Dafür kriegst du glatt einen Kuss
und einen Teller voll Apfelmus
Ich hoff', er wird ein Hochgenuss
und eine Freud' im Organismus. ;-)

Vertonung nicht erwünscht! :lol:
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon Zythophilus » So 4. Sep 2016, 14:02

Ich habe ebenfalls den Eindruck, dass öfter die Texte von Kirchenliedern zu bereits vorhandenen Melodien verfasst wurden, aber auch der umgekehrte Fall, also die Vertonung eines bestehenden Textes kommt vor. Auch gibt es Lieder, bei denen Melodie und Worte vom selben Autor stammen.
Oft wird die Sprache dem Vers- und Reimschema angepasst, fast möchte ich sagen zurechtgebogen: Das ist zwar nicht dasselbe, aber vergleichbar mit dem, was man bei antiken Dichtern als metrische Lizenz bezeichnet.
Dein Reim "Gruß - Schluss", oh Marce03, hat eine ziemlich genaue Entsprechung in einem Kirchenlied, in der Strophe 4 von "Tauet, Himmel, den Gerechten":
Denn ein Engel schwebte nieder
bracht in Nazareth den Gruß
jener Jungfrau, die uns wieder
nach dem Falle trösten muß.
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon Zythophilus » So 4. Sep 2016, 14:51

Sogar das Reimpaar "Gruß - Schluss" selber kommt vor in der deutschen Version von "Ave Stella Maris":
Gabriels erhabner Gruß
brachte dir des Himmels Schluß
...
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon sinemetu » So 4. Sep 2016, 15:21

Zythophilus hat geschrieben:Sogar das Reimpaar "Gruß - Schluss" selber kommt vor in der deutschen Version von "Ave Stella Maris":
Gabriels erhabner Gruß
brachte dir des Himmels Schluß
...



Gruß muß mal kurz gewesen sein, so wie heute noch manche von "Gruss" sprechen, ohne Kohlengruss zu meinen. Grüssen wird ja immer noch mit Doppel-s geschrieben. Bei langem u würde man ein grüsen erwarten.
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Re: abweichende Metrik

Beitragvon medicus » So 4. Sep 2016, 15:48

sinemetu hat geschrieben: ohne Kohlengruss zu meinen


Kohlengrus
Wikipediazitat:
Die Bezeichnung „Grus“ steht allgemein für eine lockere mittelkörnige Substanz (wortverwandt mit Grieß, Grütze)
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