Pro Archia poeta - Erster Satz

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Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon ille ego qui » Sa 29. Okt 2016, 12:23

Salvete!

Quid suavius, quid gratius, quid dulcius feriis! ;-) Tandem aliquando licet legere! ;-)
... und zwar die Rede auf Archias. Jedoch bereitet mir schon der erste Satz Kopfzerbrechen, wofür nicht zuletzt die Übersetzung (von O. Schönberger) verantwortlich ist:

Lat:
Si quid est in me ingeni, iudices, quod sentio quam sit exiguum, aut si qua exercitatio dicendi, in qua me non infitior mediocriter esse versatum, aut si huiusce rei ratio aliqua ab optimarum artium studiis ac disciplina profecta, a qua ego nullum confiteor aetatis meae tempus abhorruisse, earum rerum omnium vel in primis hic A. Licinius fructum a me repetere prope suo iure debet.

Ü:
"Wenn ich, ihr Richter, einiges Talent zum Redner habe, dessen geringes Maß ich allerdings fühle, oder einige Fertigkeiten im Reden, womit ich mich, und das soll nicht geleugnet werden, nicht gerade oberflächlich beschäftigt habe, ..."

Ist diese (sehr logisch klingende) Übersetzung möglich? Das Wort "non" steht ja im Lateinischen nur einmal. Es gibt ja, glaube ich, im Lateinischen das Phänomen, dass sich ein einfache Verneinung auf mehrere Wörter/Satzteile beziehen kann (in einer Weise, wie es im Dt. nicht möglich ist). Kann man das in einer Grammatik nachlesen? :-)

Bene valete!
Christianus ILLE
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon Tiberis » Sa 29. Okt 2016, 17:32

salve, Christiane !

die von dir zitierte übersetzung mag suggerieren, dass sich "non" nicht nur auf infitior bezieht, sondern auch das wort mediocriter verneint. dem ist aber nicht so. mediocriter = in bescheidenem umfang, also "einigermaßen" u.dgl.
klarer ist hier die übersetzung von Karl Vretska,übrigens meinem ehem. uni- lehrer ;-) (texte zur forschung, bd.II, WBG Darmstadt 1979):
..oder wenn irgendeine fertigkeit in der rede (scil.: in mir wohnt), in der ich - ich will es nicht leugnen - einigermaßen bewandert bin... (topos der bescheidenheit !)
ego sum medio quem flumine cernis,
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon Sokrates » Sa 29. Okt 2016, 19:34

Salvete,

ich verstehe nicht ganz, wie du diesen "Doppelbezug der Negation" meinst, bester ille. :oops:
Wie kann sich eine Negation denn auf zwei Sachen gleichzeitig beziehen?
Vielleicht eine kurze Auffrischung:
Es gibt Fälle, in denen der Skopus der Negation des Satzes gerade der Satz selbst ist, sich ein vorausgehendes non auf die gesamte Aussage bezieht:
Non libri legendi peritus sum. Nicht=des-Buch-Lesens-kundig=ich-bin -> Es ist nicht der Fall, dass ich ein Buch lesen kann.
(Nicht zu verwechseln mit dem Fall, in dem der Fokus der Negation auf libri liegt: Es ist der Fall, dass ich nicht ein Buch lesen kann (,sondern nur eine Inschrift).
Dann gibt es Fälle wie infitoir , nego etc., bei denen ist die "Negation" schon lexikalisch verankert ist bzw. οὔ φημι mit AcI, wo vom D aus gesehen eine Erhebung der Negation in den Matrixsatz erfolgt. Eine solche polemische Negation liegt hier vor, ist aber gleichzeitig mit o.g. Phänomen verknüpft, wobei meines Erachtens der Skopus hier eben das Prädikat (und also ein Satz) ist, als:
es ist nicht der Fall, dass ich nicht behaupte, dass ich mittelmäßig gebildet bin o.ä. ->
Ich leugne nicht, dass ich etwas Bildung habe.

Die erste Übersetzung nun betont diesen, wie Tiberis richtig sagt, Topos der Bescheidenheit, indem sie die Litotes setzt, aber dies ist ein sekundärer Ursprung der Negation, im Lateinischen steht davon nichts, es folgt aber:
Ich leugne gar nicht, dass ich nicht ungebildet bin (einiges vermag)...

Gerne würde ich die angesprochene Doppelbezüglichkeit weiter dargestellt sehen :) :nixweiss:

LG,
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon Tiberis » Sa 29. Okt 2016, 21:30

noch eine bemerkung dazu:

in diesem ersten satz verwendet Cicero das stilmittel der gradatio(klimax) , verbunden mit einer dreigliederung (trikolon):
1. wenn ich nur irgendwie talentiert bin -. mag mein talent auch noch so gering sein (exiguum)
2. wenn ich irgendwie geübt im reden bin - darin bin ich, zugegeben, einigermaßen versiert (mediocriter)
3. wenn ich nur irgendeine kenntnis dieser sache habe (..),mit der ich mich mein ganzes leben lang beschäftigt habe (nullum aetatis meae tempus abhorruisse)
(dann sollte vor allem A.Licinius .. den ertrag (näml. seines beitrags zu Ciceros bildung) einfordern)


also: talent > gering ; übung > mittelmäßig ; kenntnis > hoch (aufgrund lebenslanger beschäftigung)

schon aus diesem grund wäre die annahme einer litotes non mediocriter (nicht nur mittelmäßig= sehr ordentlich, sehr gut etc) nicht plausibel.
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon ille ego qui » Sa 29. Okt 2016, 23:08

Danke für eure Ausführungen.

Nur zur Erklärung meines (wohl) Missverständnisses: "mediocriter" klingt irgendwie herabsetzend und fügte sich für mich auf den ersten Blick weniger gut in die Logik. Die zitierte Übersetzung schien den Wortlaut des Lateinischen fast ins Gegenteil zu verkehren - was mir wie eine Glättung der Logik vorkam. Nun gut, "mediocriter" kann sowohl heißen "nur mittelmäßig" oder - von der anderen Seite herkommend - "zumindest einigermaßen okay/gar nicht so schlecht" ;-)

Übrigens habe ich die Textstelle, an die ich vage zurückdachte, als ich von seltsam doppelbezüglicher Negation faselte ;-), gerade herausgekramt. Sie ist natürlich schon von deutlich anderer Art:
Es handelt sich um den Beginn des 4. Buches der Astronomica des Manilius:

Quid tam sollicitis vitam consumimus annis
torquemurque metu caecaque cupidine rerum
aeternisque senes curis, dum quaerimus, aevum
perdimus et nullo votorum fine beati
victuros agimus semper nec vivimus umquam,                  5
pauperiorque bonis quisque est, quia plura requirit
nec quod habet numerat, tantum quod non habet optat,
cumque sibi parvos usus natura reposcat
materiam struimus magnae per vota ruinae
luxuriamque lucris emimus luxuque rapinas,                  10
et summum census pretium est effundere censum?


unglücklich, da die Wünsche kein Ende nehmen
oder einfach: "durch kein Ende der Wünsche glücklich zu kriegen"

Also wie schon gesagt: Das ist hier ein deutlich logischerer Fall. Ich hatte nur eine vage Erinnerung an dieses Phänomen und dachte, vielleicht liegt hier wieder etwas Komisches vor :D

Entschuldigt ... :)
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon Sokrates » Sa 29. Okt 2016, 23:39

Ja, jetzt verstehe ich, was du meinst, lieber ille, und kann sogar deine Begrifflichkeit nachvollziehen. Es ist doch gar nicht schlimm, wenn man durch seine Äußerungen eine Diskussion anstößt, im Gegenteil, ich finde die Formulierung sehr interessant und werde mir das mal genauer ansehen, doch zuvor verabschiede ich mich in die Nacht,
LG
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"e-Latein"

Beitragvon Prudentius » So 30. Okt 2016, 09:03

Liebe Teilnehmer,

wir sind ein "e-Latein"-Forum, und mir kommt es vor, dass ihr aus dem "e-" zu wenig macht, dass ihr nur "postet" und "threads" produziert, aber sonst ein e-freies Latein praktiziert. Ich denke an dieses "non", und ich frage mich, wie dieses non in einer e-Grammatik zu behandeln wäre.

Wir machen eine grundlegende Unterscheidung zwischen "Dateien" und "Befehlen", es muss genau auseinandergehalten werden, was das eine und was das andere ist; deshalb darf man auch gewisse Symbole, die Teile von Befehlen sind, nicht als Teile von Namen benutzen. Der Grund der Unterscheidung ist, dass beide Arten unterschiedliche Verarbeitungsmodi haben, dass man mit den einen nicht machen kann, was man mit den anderen machen kann.
Mit "non/nicht" ist ein Befehl gemeint, keine Datei; die Grammatik kennt allerdings diese Unterscheidung nicht, und so fallen wohl diese Wörter einfach unter die Adverbien.
"Non" bezeichnet die Funktion "Negation", wird auf einen ON/OFF-Schalter bezogen und bedeutet "umschalten".
Man kann es sich als Drücken auf einen Kippschalter vorstellen, "Power ON/OFF", wenn man daraufdrückt, gehen bekanntlich die Lichter aus. Dieser Kippschalter ist uns geläufig, wenn das Eingabefenster "Ich bin mit den Vertragsbedingungen einverstanden" kommt und dabei ein aktiviertes Feld angeklickt werden muss, damit der Warenkorb nicht leer bleibt.

Beispiel für einen Befehl soll mal "Kopieren" sein! Ehe man diesen Befehl aktivieren kann, muss man einen Bereich markiert haben, es muss abgegrenzt werden, was kopiert werden soll.

Ebenso ist es mit dem "non", dieser Befehl ist überhaupt nur sinnvoll, wenn vorher markiert ist; die Markierung erfolgt in der lebendigen Sprache nicht so direkt, das muss man eben erschließen. Also als e-Lateiner sollten wir bei "non" gleich fragen; was negieren? Das ist immer erste Voraussetzung; die Anweisung "Ausschalten!" ist sinnlos, solange nicht gesagt ist, was.
Man könnte also dieses ahnungsvolle Herumtasten im Nebel und dieses Suchen nach Fokus vermeiden, wenn man sich über solche Hintergründe im klaren ist - die e-Weisheit verhilft uns dazu. :)
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon Sokrates » So 30. Okt 2016, 10:25

Salvete,

was du sagst ist für sich genommen natürlich richtig, aber wo ist der Bezug zur Sprache? Man kann diese Erkenntnisse doch eben nicht unmittelbar auf sie beziehen.
Ebenso ist es mit dem "non", dieser Befehl ist überhaupt nur sinnvoll, wenn vorher markiert ist; die Markierung erfolgt in der lebendigen Sprache nicht so direkt, das muss man eben erschließen

Dieser Unsicherheit entspringt doch der Versuch, die Zuordnung mit Skopus/Fokus zu sichern. Ein negierter Satz ist zwingend immer in seiner Gesamtheit negativ, eine negative Assertion, aber mit der Besonderheit, dass es ein Glied(teil) im Satz gibt, das die Negation begründet (und daher der Fokus ist). Und zur polemischen Negation: man sollte diese negierte Proposition, logisch gesehen, doch von der negierten Aussagen/deren Gehalt trennen.
Anders gesagt: wie würdest du diese Stelle lösen?

LG
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon Medicus domesticus » So 30. Okt 2016, 11:01

Ich denke, Prudenti, wie ich schon mal geschrieben habe, dass man eine Sprache eben nicht 100% mit den Regeln der Mathematik belegen kann. Gerade Sprache hält sich nicht immer an Axiome, Vorschriften und klaren Grundregeln. Wieviele Beispiele haben wir hier schon bearbeitet, ohne dass eine klare Regel sichtbar war. In einzelnen Dingen der Sprachlogik stimme ich dir zu, die man ähnlich der mathematischen Logik behandeln kann, aber nicht grundsätzlich.
Ich höre in diesem Cicerosatz eine gewisse Ironie gegenüber den iudices heraus (Ein understatement Ciceros in der Einleitung.), gerade wenn man bedenkt, dass die Rede 62 v. Chr. gehalten wurde, quasi zur Hauptzeit Ciceros Macht. Obwohl er dies in seiner Anfangszeit schon gemacht hat (damals aber noch als junger Advokat und in der Zeit Sullas): In der Einleitung zur Rede für S. Roscius Amerinus.

@ille:
Prof. Janka (LMU) übersetzt die Stelle übrigens so:

(1) Wenn was steckt in mir an Talent, ihr Richter,
dessen Geringfügigkeit mir bewusst ist, oder etwas an Redepraxis,
in der ich, wie ich nicht abstreite, halbwegs versiert bin ...


Quelle: http://tinyurl.com/j8juhcz
Zuletzt geändert von Medicus domesticus am So 30. Okt 2016, 14:12, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon ille ego qui » So 30. Okt 2016, 12:17

Danke für eure Beiträge :)
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Re: Pro Archia poeta - Erster Satz

Beitragvon Prudentius » Mo 31. Okt 2016, 21:53

Vllt. kann ich noch mal was dranhängen!

Sokrates hat geschrieben: ... was du sagst ist für sich genommen natürlich richtig, aber wo ist der Bezug zur Sprache? Man kann diese Erkenntnisse doch eben nicht unmittelbar auf sie beziehen.


Hallo Sokrates,
ich möchte ja werben, nicht kritisieren, es genügt wohl, sie "mittelbar" zu beziehen, denn Skopus und Fokus kommen auch nicht unmittelbar vor, ich denke, es ist hier nützlich, nach dem Markierungsbereich eines Befehles, hier "Negation", zu suchen.

" ... in qua me non infitior mediocriter esse versatum"; infitior "ich bestreite" enthält eine Negation, es ist klar, der ACI wird negiert: "dass ich darin einigermaßen bewandert bin"; als zweites steht die Negation non da, und deren Geltungsbereich ist das infitior mitsamt Anhang. Man kann sich also auch so ausdrücken: infitior hat den Fokus im ACI und non hat den Fokus im erweiterten Prädikat infitior; das würde ich dann auf deine Frage: " wie würdest du diese Stelle lösen?" als Lösung vorschlagen.

dass man eine Sprache eben nicht 100% mit den Regeln der Mathematik belegen kann.


Hallo Medice dom., aber es müsste dann weniger als "äh" oder "hm" sein, denn diese kann man noch logisch paraphrasieren :-D ; natürlich, wir lassen den ganzen technischen Formelkram beiseite, wenn wir können, aber du siehst ja, es tauchen immer wieder Anlässe auf, um darauf zurückzugreifen.

Allgemeiner gesagt, ich möchte euch mit dem Gedanken befreunden, dass es Strukturübereinstimmungen zwischen unserer Grammatik und anderen Wissenschaften gibt, so dass sich bei Schwierigkeiten ein Blick über den Zaun lohnt.

Lgr. P. :)
Prudentius
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