Brieftempus (Futur II)

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Re: Brieftempus (Futur II)

Beitragvon Tiberis » Di 10. Jan 2017, 15:30

ich kann dir nicht ganz folgen, optime Prudenti.

nach meinem verständnis drückt ein realis ein geschehen aus, das unter einer bestimmten bedingung/ voraussetzung jedenfalls eintritt:
wenn du bis freitag mittag deinen teilnahmeschein abgibst (bedingung), nimmst du an der verlosung teil.
was wäre hier "unbestimmt" oder "bloß gedacht" ? hier geht es auch um einen ganz konkreten zeitpunkt, der ja teil der bedingung ist.
für "bloß gedachte" kondizionalsätze gibt es ja den potentialis, oder?
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Re: Brieftempus (Futur II)

Beitragvon Prudentius » Mi 11. Jan 2017, 09:22

Überlege so, optime Tiberis! Wenn die Sache bestimmt sein sollte, müsste sie so lauten: "Da du deinen Teilnahmeschein rechtzeitig eingereicht hast, nimmst du an der Verlosung teil".
Hier aber liegt der unbestimmte Fall vor: unbestimmt ist, ob du deinen Schein rechtzeitig abgibst, und unbestimmt ist, ob die Teilnahme realisiert wird.
Es liegt ein Schwebezustand über drei Möglichkeiten vor:
A: du gibst rechtzeitig ab und nimmst teil,
B: du gibst nicht ab und nimmst nicht teil.
C: du gibst nicht ab und nimmst doch teil (vllt. durch eMail?).

Die vierte Variante
D: Du gibst ab und nimmst nicht teil
ist ausgeschlossen.

Du hast im Grunde recht, die Konditionalaussage ist als Ganzes genommen eine bestimmte, feste Angelegenheit (A); aber ich betrachte die Teilsätze jeweils getrennt für sich, jeder der beiden kann zutreffen oder nicht, so dass ich das Bild "A bis C" vor Augen habe und die Unentschiedenheit meine festhalten zu sollen.
Also bietet sich der Kompromiss an: der Konditionalsatz ist als Einheit genommen etwas Bestimmtes, als Gefüge genommen etwas Unbestimmtes.

Der Potentialis ist eigentlich nicht würdig, eine eigene Spielart von Konditionalsatz darzustellen; die Konjunktive unterstreichen nur das unbestimmte Element der Teilsätze, wie ja auch bei Einzelsätzen; ich würde den Potentialis als Spielart des Realis ansehen.
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Re: Brieftempus (Futur II)

Beitragvon ille ego qui » Mi 11. Jan 2017, 10:12

Nebenbei: Im Deutschen fällt meinem Eindruck nach der Potentialis in der Protasis zusammen mit dem Irrealis (!), meistens zumindest.

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Re: Brieftempus (Futur II)

Beitragvon Tiberis » Mi 11. Jan 2017, 13:58

Prudentius hat geschrieben:Hier aber liegt der unbestimmte Fall vor: unbestimmt ist, ob du deinen Schein rechtzeitig abgibst, und unbestimmt ist, ob die Teilnahme realisiert wird.

natürlich ist alles zukünftige oder als zukünftig gedachte letztlich unbestimmt, so gesehen glaube ich deine argumentation zu verstehen. aber - um auf deinen "kompromissvorschlag" zurückzukommen - ich meine, entscheidend ist letztlich doch das verhältnis von protasis zu apodosis (wenn A, dann B).
:)
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Re: Brieftempus (Futur II)

Beitragvon Prudentius » Do 12. Jan 2017, 11:12

nach meinem verständnis drückt ein realis ein geschehen aus, das unter einer bestimmten bedingung/ voraussetzung jedenfalls eintritt:


Einverstanden, aber nach meinem Gefühl steckt in dem Begriff Bedingung eine semantisch verpackte Ungewissheit: das Wesen einer Bedingung ist ja, dass sie eintritt oder nicht eintritt; und so kommt wieder dieser Schwebezustand in den doch nicht so realen "Realis", und deshalb hat ma ihn ja auch umgetauft.

Du möchtest diese Ungewissheit mit der Ungewissheit der Zukunft in Verbindung bringen,aber das ist hier nicht wesentlich, denn die Konditionale brauchen nicht im Futur zu stehen: "Wenn dieses Rechteck einen Inkreis hat, ist es ein Quadrat", ohne einen Zeit-Parameter.

Vllt. kann ich noch durch bessere Beispiele das Gemeinte verdeutlichen, z.B. so: "Wenn irgendeine Zahl Teiler von 12 ist, dann ist sie auch Teiler von 60", hier sieht man schon an dem Pronomen das Indefinite, es ist gar keine bestimmte Zahl genannt, Protasis und Apodosis befinden sich im Schwebezustand, möchte ich sagen. Und doch hat das Satzgefüge auch den Charakter der Eindeutigkeit, die man so greifbar machen kann: "Die Teiler von 12 sind Teiler von 60".

Man kann diese Thematik auch in einem weiteren Horizont betrachten, es liegt ein Wechelspiel von Gegensätzen vor, Unbestimmtheit der Teile und Bestimmtheit des Ganzen, der Begriff "Dialektik" fällt mir ein, das führt zu Hegel, dem dialektischen Dreischritt: These: unbestimmte Teilsätze, Antithese: bestimmtes Ganzes, Synthese: Zusammenspiel der Gegensätze im Begriff des Konditionalen; das geht letztlich auf Platon zurück: die Einheit der Idee und die Vielheit der Sinnendinge.
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