Lukrez-Stelle

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Beitragvon marcus03 » Fr 14. Apr 2017, 09:47

Frage an unsere Metrikexperten:

sed nihil dulcius est, bene quam munita tenere

Es geht um das NIHIL. Müsste es nicht NIL lauten? Im Internet findet man viele Stellen mit NIL.

Auch das Skandier-Programm PEDE CERTO kommt mit NIHIL nicht klar und zeigt ERROR an, während es mit NIL
klappt.
HIL muss doch positionslang sein. Damit geht der Vers nicht mehr auf. :?
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Zythophilus » Fr 14. Apr 2017, 10:01

Natürlich kann hier nur die kontrahierte, also lange Form nil passen. Mag sein, dass auch die Schreibung nihil schon gelegentlich einsilbig gesprochen wurde.
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon marcus03 » Fr 14. Apr 2017, 10:28

Gratias tibi ago maximas, o vir artis poeticae peritissime semperque admirabilissime! :D
Scio quidem tales quaestiones rem esse, quae Germanice "Klacks" appellatur. :)

PS:
Memento diei papae cuiusdam natalis! Si carmen a te compositum non accipiet, periculum fuerit, ne ille hunc diem "in aquam cadere sinat". ;-)
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Medicus domesticus » Fr 14. Apr 2017, 11:27

Wir hatten die Diskussion im albertmartinforum. Viele neue Ausgaben haben nihil, Zythophile, auch Tusculum 2013 an zwei Stellen. Eine Mail an einen ehemaligen Dozenten von mir brachte Klarheit:
Es gibt eine zweite Stelle bei Lukrez, Buch II, 673:
si nihil praeterea, tamen haec in corpore tradunt
in den Handschriften ist nihil überliefert, so dass es belassen wird. Kontraktion muß der Leser machen.
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Prudentius » Sa 15. Apr 2017, 08:05

sed nihil dulcius est, bene quam munita tenere

Ist es euch schon aufgefallen: nihil/nil ist Subjekt, also der Satz handelt von nichts, aber er sagt etwas aus? Wie erklärt sich das?

Das munita ist das Schlüsselwort, auf templa edita sapientum bezogen, das Motiv der Absicherung, der Weise ist in Sicherheit, sine parte pericli, die Sprache ist verräterisch, man erkennt, was die Seele des Autors nötig hat; es ist ein Merkmal der gesamten hellenistischen Philosophie, nicht mehr nach der Welt im ganzen und dem Sein zu fragen, sondern auf die eigene Seele zu blicken und sie vor den Abgründen von Angst und Tod zu bewahren; die Philosophie hat also einen psychoanalytischen Schwenk gemacht, kann man sagen.
Lukrez scheint an der "bipolaren Störung" gelitten zu haben, es wird überliefert, er habe das Gedicht "per intervalla insaniae" geschrieben.
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon marcus03 » Sa 15. Apr 2017, 10:05

Prudentius hat geschrieben:Lukrez scheint an der "bipolaren Störung" gelitten zu haben,


cf:
Wenn aber einer ohne diesen Musenwahnsinn zu den Pforten der Dichtkunst kommt, in der Überzeugung, er könne auch wohl durch Kunst ein guter Dichter werden, der wird teils selber als ein Ungeweihter erachtet, teils wird seine Dichtung als die des Besonnenen von der der Wahnsinnigen verdunkelt.
(Platon, Phraidros)

Lukrez befindet sich in illustrer Gesellschaft:
https://bipolarkreis.wordpress.com/2012 ... -bipolare/

PS:
Platon soll angeblich auch bipolar gewesen sein. Das habe irgendwo mal gelesen. Weiß jemand mehr darüber?

So war Aristoteles der Ansicht, es gebe „kein großes Genie ohne einen Schuss Verrücktheit“.

Kennt jemand die Stelle?
http://orf.at/stories/2006396/2006408/

PPS (Zu Lukrezens Krankheit):
Die neuere Forschung steht diesem ausschließlich bei Hieronymus überlieferten Zeugnis kritisch gegenüber.[6] Teils wird vermutet, dass sich die Stelle ursprünglich auf Lucullus bezogen habe, der am Ende seines Lebens geistig verwirrt gewesen sein soll;[7] in der Textüberlieferung seien die beiden Namen verwechselt worden. Teils sieht man in der Stelle einen Widerhall eines Gedichts von Statius, der Lukrez Leidenschaftlichkeit (furor arduus) zuschreibt.[8] Andere Forscher beziehen die Passage auf eine polemische Äußerung des Kirchenschriftstellers Lactantius; darin wendet er sich gegen die Lehre Epikurs, auf der all das beruhe, was Lukrez „zusammenspinnt“ (delirat).[9] Außerdem nimmt man an, dass sich die Erzählung vom Liebestrank aus dem Schlussteil des vierten Buchs von De rerum natura herleitet; darin spottet Lukrez über die Liebe und die Verrücktheiten des Verliebten.[10] Die Mehrheit der modernen Forschung hält Lukrez’ angeblichen Wahnsinn daher für eine christliche Legende, die bewusst in Umlauf gebracht wurde und ihn in Verruf bringen sollte.[11]
(Quelle: wiki, Lukrez)
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 15. Apr 2017, 10:39

marcus03 hat geschrieben:So war Aristoteles der Ansicht, es gebe „kein großes Genie ohne einen Schuss Verrücktheit“.

Kennt jemand die Stelle?


Aristoteles Problemata 954 a34 ff:

Πολλοὶ δὲ καὶ διὰ τὸ ἐγγὺς εἶναι τοῦ νοεροῦ τόπου τὴν θερμότητα ταύτην νοσήμασιν ἁλίσκονται μανικοῖς ἢ ἐνθουσιαστικοῖς, ὅθεν Σίβυλλαι καὶ Βάκιδες καὶ οἱ ἔνθεοι γίνονται πάντες, ὅταν μὴ νοσήματι γένωνται ἀλλὰφυσικῇ κράσει. Μαρακὸς δὲ ὁ Συρακούσιος καὶ ἀμείνων ἦν ποιητής, ὅτ' ἐκσταίη. ὅσοις δ' ἂν ἐπανθῇ τὴν ἄγαν θερμότητα πρὸς τὸ μέσον, οὗτοι μελαγχολικοὶ μέν εἰσι, φρονιμώτεροι δέ, καὶ ἧττον μὲν ἔκτοποι, πρὸς πολλὰ δὲ διαφέροντες τῶν ἄλλων, οἱ μὲν πρὸς παιδείαν, οἱ δὲ πρὸς τέχνας, οἱ δὲ πρὸς πολιτείαν.


Vgl. auch Seneca, De Tranquilitate Animi, 17,10:

Nam, siue graeco poetae credimus, "aliquando et insanire iucundum est"; siue Platoni, "frustra poeticas fores compos sui pepulit"; siue Aristoteli, "nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit".
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon marcus03 » Sa 15. Apr 2017, 10:50

Gratias tibi ago multas.
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 15. Apr 2017, 10:54

Auch noch Cicero, De Oratore 2,194:
Saepe enim audivi poetam bonum neminem - id quod a Democrito et Platone in scriptis relictum esse dicunt - sine inflammatione animorum exsistere posse et sine quodam adflatu quasi furoris.
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Zythophilus » Sa 15. Apr 2017, 12:28

Ich würde einmal auf die Behauptung, Lukrez sei verrückt gewesen, nicht zu viel geben. Immerhin stammt sie von Hieronymus und lässt sich somit gut als Polemik gegen einen Autor erklären, dessen Theorie vom zufälligen Zusammenstoß der Atome sich nicht mit der Schöpfungstheologie zusammenbringen ließ. Das Schwanken zwischen nihil und nil scheint mir außerdem noch keine bipolare Störung zu sein. :lol:
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon marcus03 » Sa 15. Apr 2017, 12:54

Zythophilus hat geschrieben: Das Schwanken zwischen nihil und nil scheint mir außerdem noch keine bipolare Störung zu sein.

Das Schwanken zw. NIHIL und NIL könnte auf eine solche Störung bei den Abschreibern oder Textherausgebern hindeuten.
Allerdings fehlen die notwendigen inhaltlichen Pole. Also greift die Diagnose nicht wirklich.
Damit dürfen alle Betroffenen als richtig gepolt gelten. ;-)

PS:
Hoc problema mihi carmen desiderare eoque prorsus dignum esse videtur.
Nunc quidam papa quaedamque bipolaritas dubiosa expectant, dum poetice honorentur. ;-)
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Prudentius » So 16. Apr 2017, 08:11

"Per intervalla insaniae" - das ist eine unbestätigte Nachricht, nicht mehr und nicht weniger.
Dass man einen solchen Befund hinweginterpretieren wollte, liegt vllt. daran, dass früher die psychoanalytische Aufklärung noch nicht so weit fortgeschritten war; Erkrankung bedeutete Ächtung.

Beim Wahn muss man wohl die Begriffe etwas auseinandersortieren, es gibt die "manisch-depressive Störung", es gibt die dichterische Ergriffenheit, "furor poeticus", Enthusiasmos, Gott-Besesssenheit, Musen-Inspiration, und es gibt den Rausch, durch Alkohol oder andere Drogen.

Bei Platon ist die Rede von der Mania des Dichters und Philosophen ein literarisches Stilmittel im Dienste seiner indirekten oder impliziten Darstellung seiner Ideenlehre, also der Metaphysik, ein Hindeuten auf das Transzendente.

Bei den älteren Gr., z.B. Pindar, gehörte das Dichten einer höheren Sphäre an ("Musen"), im Gegensatz dazu stand im Hellenismus das Technische im Vordergrund, "Alexandrinismus"; und das war für Rom maßgeblich; der "poeta doctus" war das Ideal, "Regelpoetik" nannte man es; Horaz betont in der "Ars poetica", dass der Dichter lange an dem stilus kaut, bis er die richtige Formulierung gefunden hat.
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Zythophilus » So 16. Apr 2017, 08:56

Wir werden das Problem nicht lösen. Eine gewisse Exzentrik mag wie bei vielen Dichtern vorgelegen haben, aber ob Hieronymus überhaupt an Details aus Lukrez' Leben herankommen konnte, ist mehr als fraglich.
Interessant kommt mir außerdem der angeführte Grund des Wahnsinns vor: Wenn Hieronymus einen Liebestrank als Ursache nennt, so tut er das wohl nicht in Unkenntnis der Ovid-Stelle Philtra nocent animis, vimque furoris habent. (Ars II 106)
Was wissen wir von antiken Liebestränken? Gibt es Hinweise darauf, dass sie psychotrope Substanzen enthielten und tatsächlich in dieser Hinsicht schädlich waren? Oder wurden hier Ursache und Wirkung vertauscht, wenn psychisch labile Menschen zu solchen Tränken griffen?
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon Medicus domesticus » So 16. Apr 2017, 11:49

Zythophilus hat geschrieben:Was wissen wir von antiken Liebestränken?

Berühmt ist die Alraunenwurzel (Mandragora officinarum) auch als Aphhrodisiakum bereits in der Antike. Sie ist aber ebenfalls stark giftig. Die Wirkung ist ähnlich der der Tollkirsche (Atropa belladonna) [Roth/Daunderer/Kormann; Giftpflanzen, S.485].

Eigenschaften und Wirkungen:
Die Wurzel der Alraune wirkt stark beruhigend bis berauschend und halluzinogen.
Die Halluzinationen können von einem trance ähnlichen Schlaf begleitet werden.
Ausserdem hat sie eine schmerstillende und abführende Wirkung.
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Re: Lukrez-Stelle

Beitragvon marcus03 » So 16. Apr 2017, 12:04

Die Dame in Delphi? Die soll auch unter Drogen gestanden haben, was aber umstritten scheint:

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mens ... 45502.html
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