Zu manchen falsch gebildeten Komposita

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Re: Zu manchen falsch gebildeten Komposita

Beitragvon cometes » Sa 24. Mär 2018, 17:27

quid tu de ea re sentis, o doctissime cometes?


Bei der Aufschlüsselung von inter-cid-ere und inter-i-re folge ich dir im Wesentlichen,
bei inter-fic-ere bin ich von der Ableitung der direktionalen Qualität nicht überzeugt. Woher kommt das "aus"? Stimmt die vorgeschlagene Analyse, dass die direktionale Modifikation der durchs Präfix gegebenen Ortsbestimmung aus der Basis kommt, müsste sie durch fac-ere erfolgen. Wie begründest du das aus dessen Semantik, mit anderen Worten, welche Richtung hat es im Lateinischen in seiner allgemeinsten Bedeutung des Tuns oder Bewirkens für dich?


Denk dran, es kann außer dem affizierten Objekt auch das effizierte bezeichnen, also "eum interficere" machen, dass er durch den Rost fällt.


Ich bin nicht sicher, ob ich dich recht verstehe, aber gerade die effizierende Bedeutung ließe sich doch mit "jemanden in die Mitte machen", d.h. das tun, was bewirkt, dass er dort landet, vereinbaren, wobei auch hier wieder das Präfix die Orts-, die Basis die Richtungsbestimmung lieferte, beide im Zusammenspiel den Zielort der gesamten Handlung. Das ginge auch mit deinem Hinweis auf die Semantik der Mitte zusammen, die bald die nahe Zugehörigkeit zu einer Menge, bald den trennenden Raum bezeichnete.
inter- kann man hingegen nicht wie einen zweiten Akkusativ des Wirkungsziels auffassen, also aliquem inter-fic-ere wie aliquem consulem facere begreifen, sonst hieße es ja "jemanden zur Mitte machen".
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Re: Zu manchen falsch gebildeten Komposita

Beitragvon Tiberis » Sa 24. Mär 2018, 23:43

vielleicht tun wir uns leichter, wenn wir bei interficere von der Bedeutung "verderben, zugrunde richten" ausgehen. ("töten" scheint eher sekundär zu sein)
facere = machen, herstellen u.dgl., intendiert also auf ein Ergebnis.
inter - ficere könnte also bedeuten, dass man etwas macht, das dann gleichsam sich in einem "Zwischenraum" wiederfindet, das sozusagen "in den Zwischenraum hinein" gemacht wird.
wenn ich bei der Herstellung von Sachen etwas produziere, das nicht zu dem intendierten Ergebnis führt, ist dieser von mir gemachte Gegenstand ja "verdorben" und fällt somit in diesen "Zwischenraum" zwischen erfolgreich hergestellten Gegenständen hinein (konkret z.B. in einen Abfallkorb).
:?
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Re: Zu manchen falsch gebildeten Komposita

Beitragvon cometes » So 25. Mär 2018, 19:54

Ich denke, das kommt schon hin. Der Zwischenraum, Zielgebiet des Tuns in inter-fic-ere, ist eben auch der Ort, an bzw. in dem die Dinge verschwinden wie durch Lücken, Löcher und Spalten. Man vergleiche zu dieser Vorstellung vom Zwischenraum etwa inter-luc-ere, wo es aus (auch hier wird wieder die direktionale Modifikation von der Basis luc-ere geleistet) diesen Lücken, Löchern und Spalten, Ritzen, Rissen und Fugen scheint, mit anderen Worten, hervorschimmert.

Dass bereits in der Spätantike der Motivierungsgrad des Wortes gering gewesen sein dürfte, lässt sich z.B. an De differentiis vocabulorum 523 (Pseudo-Fronto) ablesen. Dort heißt es:

Occidere et interficere et perimere et iugulare et necare. interficere et perimere prisca sunt, occidere ob caedem dictum est, iugulare ob iugulum, necare a nece, interficere a facto.


Man hält das Wort also für sehr alt und erkennt gerade noch, dass es auf facere verweist, möchte es von der Tat (wohl im Sinn der frevelhaften, verbrecherischen Tat schlechthin) herleiten (eine zu hohe Erwartung an Ergebnisse antiker Analysemethoden ist allerdings nicht ganz fair).
Zuletzt geändert von cometes am Mo 2. Apr 2018, 11:43, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Zu manchen falsch gebildeten Komposita

Beitragvon ille ego qui » So 1. Apr 2018, 17:26

Nicht aber die Wortbildung an sich ist Glücksspiel, niemand bildet neue Wörter, die in der Kommunikation verstanden werden und anschlussfähig, nicht einfach dadaistische Spielereien (für die ich einiges übrig habe) sein sollen, willkürlich, sonst funktionierte Sprache nicht, Verständlichkeit wäre im Nu erodiert.


zufällig insofern - wie beschrieben -, als es mannigfache möglichkeiten gibt, eine neue sache zu benennen - im Rahmen (oder zumindest nicht weit jenseits) der zur Verfügung stehenden wortbildungsregeln -, möglichkeiten, die jeweils auch immer nur einzelne aspekte eines phänomens herausgreifen können.

... wobei (stichwort "Verständlicheit") auch nicht jede neu gebildete benennung von jedem sprachteilnehmer - ohne "lernen" - unmittelbar dem benannten gegenstand zugeordnet werden können muss. selbst jemand, der bereits erfahrungen mit dem internet (und auch seiner funktionsweise) gemacht hat, wird eine benennung wie "Netz" o.Ä. nicht unbedingt aus sich (oder auch dem kontext eraus) heraus unmittelbar als name eben des internets identifizieren.

zugegeben: wer dann erst einmal die zuordnung von wortbildung und ding hergestellt hat, wird in vielen fällen (keineswegs und nicht notwendigerweise in allen) die wortbildung durchaus als mehr oder minder sinnig/nachvollziehbar empfinden.

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Re: Zu manchen falsch gebildeten Komposita

Beitragvon ille ego qui » So 1. Apr 2018, 17:26

Nicht aber die Wortbildung an sich ist Glücksspiel, niemand bildet neue Wörter, die in der Kommunikation verstanden werden und anschlussfähig, nicht einfach dadaistische Spielereien (für die ich einiges übrig habe) sein sollen, willkürlich, sonst funktionierte Sprache nicht, Verständlichkeit wäre im Nu erodiert.


zufällig insofern - wie beschrieben -, als es mannigfache möglichkeiten gibt, eine neue sache zu benennen - im Rahmen (oder zumindest nicht weit jenseits) der zur Verfügung stehenden wortbildungsregeln -, möglichkeiten, die jeweils auch immer nur einzelne aspekte eines phänomens herausgreifen können.

... wobei (stichwort "Verständlicheit") auch nicht jede neu gebildete benennung von jedem sprachteilnehmer - ohne "lernen" - unmittelbar dem benannten gegenstand zugeordnet werden können muss. selbst jemand, der bereits erfahrungen mit dem internet (und auch seiner funktionsweise) gemacht hat, wird eine benennung wie "Netz" o.Ä. nicht unbedingt aus sich (oder auch dem kontext eraus) heraus unmittelbar als name eben des internets identifizieren.

zugegeben: wer dann erst einmal die zuordnung von wortbildung und ding hergestellt hat, wird in vielen fällen (keineswegs und nicht notwendigerweise in allen) die wortbildung durchaus als mehr oder minder sinnig/nachvollziehbar empfinden.

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Re: Zu manchen falsch gebildeten Komposita

Beitragvon cometes » Mo 2. Apr 2018, 12:20

... auch immer nur einzelne aspekte eines phänomens herausgreifen können.


Merkwürdigerweise verlässt nicht wenige logodaedali bei der Suche nach neuen lateinischen Wörtern der Glaube an dieses sprachliche Ökonomieprinzip, sie wollen in der Bildung selbst so viel an Bedeutung unterbringen, dass diese, weit davon entfernt, von einem Flug zur Sonne träumen zu dürfen, es wegen Überladung nicht einmal von der Startpiste schafft.

Man könnte sich auch einmal ansehen, ob und wie erstsprachliche Herkunft und Bildungssozialisation bei Neuprägungen unterschwellig zur Bevorzugung bestimmter Muster führen. Vielleicht erhellte das manche Ursache erbitterter Grabenkämpfe.

Neben den schon aufgezählten Unterschieden zu Wortbildungsprozessen lebender natürlicher Sprachen ist die hohe oder fast ausschließlich nachahmende Motivation zu nennen. Man hechelt gewöhnlich dem lexikalischen Bestand der Gegenwart (verschiedener Sprachen) hinterher, dass das Lateinische Quelle einer genuinen Neuschöpfung wäre, die bisher Ungesagtes oder Unbenanntes in der Lebenswelt erstmals verkehrsfähig macht, dürfte die Ausnahme sein.
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Re: Zu manchen falsch gebildeten Komposita

Beitragvon Prudentius » Mo 2. Apr 2018, 16:01

... Wortbildungsprozessen ...


Nach meinem Gefühl seid ihr noch nicht ganz am Ziel angekommen, man sollte elementarer ansetzen, es wären zwei Faktoren zu berücksichtigen: einmal das Chaotische des Symbolsystems selbt und dann das völlig Undurchsichtige der Zuordnung der Symbole zu den Sachen, die das Subjekt vornimmt; undurchsichtig ist es deshalb, weil es unbewusst abläuft.

Das Chaotische, laienmäßig beschrieben: Ausgangspunkt sind die vielen Nervenzellen mit ihren vielen Verästelungen und ihren Verbindungen mit einander (Synapsen, Kontaktstellen); an ihnen können elektrische Entladungen weitergegeben werden, die man als "Signale" auffassen kann. Das ist schon so ziemlich alles, woraus sich der "Geist" mit allem Drum und Dran aufbaut. Er baut sich aber nicht von selber auf, sondern der Mensch muss aktiv werden, er muss konstruieren, d.h. Ordnung in dem Chaos schaffen.

Un dann das Undurchsichtige, Subjektive alles Sprachlichen; ich stelle es mir so vor: Die Mama sagt zu dem Säugling: "Sag mal "ma-ma"!", aber sie sagt ihm nicht, wie er das machen soll; es bleibt ihm nichts übrig als mit seinen Dendriten und Synapsen herumzuexperimentieren und bestimmte Verkettungen irgendwie mit Lallauten zu verbinden, bis die Mama zufrieden ist. Er muss sich also eine Kodierungstabelle aufbauen, auf der die Synapsensignale mit bestimmten Lauten fest verbunden werden. Wie die Tabelle aussieht, kann natürlich niemand wissen, aber der Säugling fängt so an zu lernen.

Es bauen sich viele Abhstraktionstufen auf, erst ganz weit oben kommt das Kausale, das Regelhafte, das Korrekte; diesen Hintergrund sollte man sich bei der ganzen Diskussion bewusst machen; die rationalen Erwägungen sind nur wie das Gekräusel auf der Oberfläche des tiefen Meeres.
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Re: Zu manchen falsch gebildeten Komposita

Beitragvon Laptop » Do 14. Jun 2018, 04:02

(Tiberis schrieb:) Vielmehr denke ich, dass wir das ursprüngliche Ziel, ein angemessenes lateinisches Äquivalent für den Begriff "Internet" zu finden, nicht aus den Augen verlieren sollten.
Sehe ich auch so. Lasst uns von Allgemeinstandpunkten loskommen und konstruktiv en detail sein, ich greife mal das fragliche *interrete auf. Wie Willimox gesagt hat, ist es eine Lehnübersetzung der anglophonen Wortbildung "interconnected networks". Lehnübersetzungen sind so beliebt, da sie bequem sind. Der Nachteil ist, daß sie manchmal den Geist der Zielsprache nicht treffen, da hat Stomachus schon recht. Beispielsweise bekannt ist das "nicht wirklich" für englisch "not really". Oder gerade in Mode ist auch "alles gut" für englisch "all good". Jeder kann für sich entscheiden, ob er solche Neubildungen akzeptiert, oder bloß toleriert. Für den Begriff "Internetz" ist vielleicht, neben dem praktischem und eher umgangssprachlichen "rete", zusätzlich auch eine fachsprachlicher-anmutende Gr.-Lateinische Wortneubildung nützlich, was denkt Ihr? Trifft nicht die gr. Vorsilbe "meta-" eher den Sinn des anglophonen "inter-", ich meine den Sinn "übergreifend", "übergeordnet"? Kann man daraus nicht was schönes bilden? Das Über-Netz? Das globale Computer-Netzwerk?
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