Wortbildung bei Herkunft

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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon Tiberis » Di 17. Apr 2018, 21:08

cometes hat geschrieben:Bedenkt man, dass beim Krieg im schwierigen Gelände der Alpen der taktischen Operation, Tarnung und Täuschung bzw. dem Überraschungsangriff besondere Bedeutung zukommt, könnte "Und bemerkt will ich nicht werden, (solange) bis ich (vor Ort/da) bin" (dann ist es nämlich zu spät für den Feind) oder "Und bemerkt will ich nicht werden, solange ich (am Leben) bin" intendiert gewesen sein.


ein auf den ersten Blick interessanter Gedanke, optime cometes, der sich aber bei näherer Betrachtung als wenig plausibel erweist.
"Und bemerkt will ich nicht werden, (solange) bis ich (vor Ort/da) bin" "sum/esse" in der Bedeutung "da sein/ vor Ort sein" ?? für eine solche Interpretation wäre doch zumindest "adsum" zu erwarten.
"Und bemerkt will ich nicht werden, solange ich (am Leben) bin" Naja, als Motto für den Geheimdienst mag sowas durchgehen, aber doch wohl nicht für ein Gebirgsjägerregiment, Täuschung hin, Tarnung her. :lol: Und für einen Bischof (!) (s.o.) wäre das sowieso völlig unpassend.
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon cometes » Di 17. Apr 2018, 22:33

Gebirgsjägerlatein :) Ich schrieb ja nicht von ungefähr intendiert, mit der zweiten, in der Tat missverständlichen Variante meinte ich auch nicht, dass sie lebenslang undercover zu arbeiten beabsichtigen. Die Frage, warum das Motto im Unterschied zu denen der anderen Regimenter so wenig offensichtlichen militärischen Bezug zu den Alpini aufweist und überdies, soll von mehr Sein als Schein die Rede sein, so umständlich formuliert wirkt (esse quam videri nach der Art von nec descendere nec morari hätte es doch getan), halte ich jedenfalls für offen. ]
Der Bischof könnte das Motto im Glauben an die Deutung non per sembrare, ma per essere einfach übernommen haben, das besagt also wenig.

Edit: In einem leider nicht vollständig einsehbaren Artikel in I diritti della scuola aus 1940 heißt es: "Il motto di questo glorioso Reggimento è il seguente: «Che io non sia visto finchè non son giunto » (Nec videar dum sim)".
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon Tiberis » Di 17. Apr 2018, 23:18

cometes hat geschrieben: « finchè non son giunto

hm, das verstehe ich , wenn ich mich auf meine bescheidenen italienischkenntnisse verlassen will, folgendermaßen: ".. solange ich nicht angekommen bin". wie das dem lateinischen "dum sim" entsprechen soll, erschließt sich mir nicht.
:?
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon Prudentius » Mi 18. Apr 2018, 08:30

„Nec videar dum sim“. Gabriele d’Annunzios Übersetzung lautet: “Tutto per essere, nulla per apparire“.

Zythophilus hat geschrieben:Das nec scheint auf einen Zusammenhang zu hinzudeuten, ...


Ja, es ist ja eine Konjunktion (Bindewort), man kann sich also drei Punkte vorher denken, ..., und es ist auch leicht zu ergänzen, denn die beiden Prädikate videri und esse geben ja das bekannte Motto "Plus esse quam videri", aus der Adelsethik und Rittermoral.
Die Weiterführung mit nec bedeutet eine Radikalisierung, die beiden Begriffe stehen sich nun nicht mit einem Mehr und Weniger gegenüber, sondern das videri wird ganz negiert, der Komparativ durch die strikte Negation ersetzt; das Erscheinen wird also nicht als geringer, sondern als gar nichts gegenüber dem Sein eingestuft. Also Annunzio gibt es schon richtig wieder.
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon cometes » Mi 18. Apr 2018, 11:48

Die Deutung, die nec als Ausdruck einer Steigerung, mit Hinweisung auf einen schon vorhandenen od. zu denkenden Begriff, wie es im Georges heißt, liest, hielte ich dennoch für ansprechender, wenn sie mit einer leichten Bedeutungsverschiebung bei videri, die zusätzlichen Sinn, der sich auf die Alpini als militärische Größe bezieht, erzeugt, einherginge: "[(Lieber) sein als scheinen (will ich)] ... und nicht einmal gesehen werden, bis ich bin." Das 5. Regiment machte sich also möglichst unsichtbar, bis es im Vollbesitz seiner Tugenden plötzlich im Kampfgeschehen auftritt. La fulmine, Rapido e potente, Fulmineo come l'aquila, forte come il leone haben für mich eine ähnliche Stoßrichtung.
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nec videri dum sim

Beitragvon consus » Mi 18. Apr 2018, 12:00

Vielen Dank für die Diskussionsbeiträge. Ich persönlich denke, dass eine Deutung, die hinausläuft auf "Mehr sein als scheinen - viel leisten und wenig hervortreten", wie es etwa Helmuth Graf von Moltke ausdrückte, auch im Sinne der Penne nere ist.
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon Zythophilus » Mi 18. Apr 2018, 16:47

Es sieht so aus, als ob als Motto dieser Einheit, das von 1931 bis 1934 und dann wieder nach dem Weltkrieg verwendet wurde, eigens für sie erfunden und nicht von anderswo übernommen wurde. Die generelle Deutung ist etwa "Mehr Sein als Scheinen"; wenn sie so falsch wäre, hätten doch schon manche protestiert, außerdem war Gabriele D'Annunzio, von dem die gewissermaßen offizielle Deutung stammt, im Jahre 1931, als das Alpiniregiment 5 dieses Motto zum ersten Mal bekam, noch am Leben. Vielleicht gibt es ja Dokumente über die Verleihung und auch die intendierte Bedeutung dieser Worte.
http://www.smalp90.it/VARIE/distintivi/reggimenti.htm
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon cometes » Mi 18. Apr 2018, 19:53

Dass D'Annunzio das Motto durch besagte Übersetzung geadelt habe, wird, wenn ich nicht irre, ausschließlich in einem Artikel der Hauspostille des Gruppo Alpini di Varese namens Penne Nere aus dem Jahre 2014 behauptet.
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Beitragvon consus » Mi 18. Apr 2018, 21:50

cometes hat geschrieben:Dass D'Annunzio das Motto ... geadelt habe, wird ... ausschließlich in einem Artikel der Hauspostille des Gruppo Alpini di Varese namens Penne Nere aus dem Jahre 2014 behauptet.
So ist es in der Tat, Cometes. Ich gestehe, dass mir bisher keiner einen Beleg für diese Behauptung nennen konnte. Wie dem auch sei, diese Übersetzung des Mottos scheint Beifall zu finden. Videant amici nostri Itali...
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon Zythophilus » Mi 18. Apr 2018, 22:56

Was wissen wir über das Motto? Wir wissen, dass es auf jeden Fall von 5. Alpiniregiment verwendet wurde und jetzt wieder wird. Die Übersetzung entspricht, wo eine solche vorkommt, zumindest vom Sinn her der Übersetzung, die als die von D'Annunzio bezeichnet wird. Eine andere Deutung habe zumindest ich nicht gefunden. Eine Herkunft oder einen Schöpfer des Mottos habe ich ebenfalls nicht finden können.
D'Annunzio ist, wenn auch nicht direktes Mitglied der faschistischen Partei, doch dem Regime Mussolinis verbunden, sodass ihm Patriotisches bzw. Nationalistisches schon zusagen sollte. Gewisse Beziehungen zu Alpiniregimentern bestehen: Das Motto des 9. ( “d’aquila penne ugne di leonessa”) stammt von ihm, auch mit dem 5. hatte er zu tun http://www.gruppoalpininoviligure.alter ... al1956.pdf.
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon Prudentius » Do 19. Apr 2018, 17:45

D'Annunzio liebte halsbrecherische Aktionen, 1918 überflog er mit einem Kleinflugzeug Wien und warf Flugblätter ab (der italienische Adler breitete seine Schwingen, "penne nere", aus), und noch kühner, im Jahr 1919 besetzte er mit Söldnern auf eigene Faust Fiume / Rijeka und versuchte, die Stadt für Italien zu gewinnen, was ihm den Beifall Mussolinis einbrachte.

Er ist aber ein Schriftsteller von Format, eine große Begabung, und die Italiener halten sein Andenken hoch, indem viele Straßennamen an ihn erinnern.
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon Prudentius » Fr 20. Apr 2018, 08:08

Am Schluss hören wir uns ihre Hymne an!

https://www.youtube.com/watch?v=csCiF1DN5Wk
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Re: Wortbildung bei Herkunft

Beitragvon Zythophilus » Sa 21. Apr 2018, 07:41

Abgesehen von der semantischen Bedeutung des Mottos hat eine Alpini-Kaserne in einem willkürlich als Vipiteno benannten Ort natürlich eine Symbolik, die dem Großteil der dortigen Bevölkerung sehr wohl - und äußerst unangenehm - bewusst ist. Ob die Alpini-Denkmäler in Südtirol, die, indem sie die Gefallenen des Abessinienkrieges ehrten, natürlich auch die Überlegenheit der Italiener über Barbaren aller Art symbolisierten, lateinische Inschriften aufweisen, weiß ich nicht; beliebt sind sie jedenfalls nicht, wie der "Kapuziner Wastl", dessen Name harmlos klingt, zeigt. Die lateinischen Aufschriften auf dem faschistischen Siegesdenkmal in Bozen machen es vermutlich auch für ausgewiesene Lateinliebhaber nicht erträglich.
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