Skandieren Ovid Am I, 9

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Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon MeropsApiaster » Do 15. Nov 2018, 20:54

Guten Abend :)
Ich habe mich die letzten Tage mit metrischer Analyse und insbesondere dem Skandieren befasst.
Habe dabei die wichtigsten Grundregeln wiederholt und mich an Ovids Amores versucht, bin aber noch sehr unsicher.
Konkret hätte ich folgende Frage: Wie genau stehen Naturlängen und Positionslängen in Konkurrenz zueinander, bzw. woher weiß ich ob eine Naturlänge auch im Vers lang sein muss. Einerseits kommt es ja immer wieder vor, dass Wörter im Vers anders ausgesprochen werden als in Prosa, sprich auch Längen und Kürzen woanders sind als wenn das Wort gesprochen wird. Andererseits heißt es man solle im Vers unter anderem nach "Naturlängen suchen", aber woher weiß ich denn welche Naturlängen auch im Vers gelten und welche zugunsten des Versmaß aufgegeben werden?
Versteht ihr was ich meine?
Habe es bisher so gemacht, dass ich zuerst die Positionslängen bestimmt habe, das hat meist ausgereicht mir den Rest logisch zusammenzureimen. Aber kann ich darüber hinaus mich auch auf Naturlängen verlassen, die auch im Vers immer lang sind ( z.B. Ablativ Singular a-Deklination)?
Hier die ersten vier Distichen von Am I, 9, skandiert von mir, wäre dankbar für eine Rückmeldung ob richtig oder falsch und für eine Antwort auf die Frage oben!

Militat omnis amans, et habet sua castra Cupido-
- uu - uu - uu - uu - uu - -
Attice, crede mihi, militat omnis amans.
- uu - uu - - uu - uu -
quae bello (e)st habilis, Veneri quoque convenit aetas:
- - - uu - uu - uu - uu - -
turpe senex miles, turpe senilis amor.
- uu - - - - uu - uu -
quos petiere duces animos in milite forti,
- uu - uu - uu - - - uu - -
hos petit in socio bella puella viro:
- uu - uu - - uu - uu -
pervigilant ambo, terra requiescit uterque;
- uu - - - - - uu - uu - -
ille fores dominae servat, at ille ducis.
- uu - uu - - uu - uu -
militis officium longa (e)st via: mitte puellam,
- uu - uu - uu - - - uu - -
strenuus exempto fine sequetur amans;
- uu - - - - uu - uu -

Danke!
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon Tiberis » Fr 16. Nov 2018, 01:34

MeropsApiaster hat geschrieben:bzw. woher weiß ich ob eine Naturlänge auch im Vers lang sein muss.


jede Naturlänge ist selbstverständlich auch im Vers eine solche, wie überhaupt die Quantitäten eines Wortes immer dieselben sind, unabhängig davon, ob dieses Wort in einem Vers oder in einem Prosasatz steht!
Anders sieht es mit der Betonung aus: Während beispielsweise in der Prosa ein zweisilbiges Wort (mit wenigen Ausnahmen) immer auf der ersten Silbe betont wird (= Wortakzent auf der ersten Silbe), richtet sich die Betonung im Vers vorwiegend nach dem Versakzent (beispielsweise die 1. Silbe in einem Daktylus); dennoch verschwindet auch im Vers der Wortakzent nicht völlig. Ihn hörbar zu machen, ist die große Kunst beim Lesen von Versen. Auf jeden Fall aber wird der Wortakzent vom Versakzent überlagert.
Dein Ansatz, beim Skandieren zuerst die Positionslängen festzustellen, ist absolut richtig. Was die Naturlängen betrifft, solltest du zunächst lernen, welche Endungssilben immer lang sind, dann hast du schon viel gewonnen.
deine Skandierung ist, soweit ich sehe, richtig bis auf den vorletzten Vers:
militis officium longa (e)st via: mitte puellam,
- uu - uu - uu - - - uu - -
richtig wäre: - uu - uu - - - uu - uu - u
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon ille ego qui » Fr 16. Nov 2018, 07:29

Soweit ich sehe, hat sich die communis opinio mittlerweile weitgehend von einem versakzent, gar im Sinne des iktus entfernt. Fakt ist: wenn man die silbenquantitäten wirklich korrekt spricht (worauf sich an der Schule nicht viele verstehen), dann entsteht ein hörbarer rhythmus ohne zusätzliche Anstrengung. Und zwar ein rhythmus der quantitäten, nicht der betonungen (ungewohnt, aber doch fassbar fürs deutsche Ohr).

Valete! :)
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon Prudentius » Fr 16. Nov 2018, 10:59

Nimm lieber die richtigen Symbole: —◡◡
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon Tiberis » Fr 16. Nov 2018, 17:15

ille ego qui hat geschrieben:Soweit ich sehe, hat sich die communis opinio mittlerweile weitgehend von einem versakzent, gar im Sinne des iktus entfernt.

Mag sein, aber auch die Mehrheit hat nicht immer Recht. Spätestens dort, wo eine Silbe anceps ist , wie am Ende eines Pentameters, wäre bei einer Missachtung des Versakzents der Versrhythmus völlig zerstört.
Ein Beispiel:

vix Priamus tanti totaque Troia fuit.

Troía fúit ?? welcher "hörbare Rhythmus" sollte bei einer derartigen Betonung entstehen?
Abgesehen davon: Auf welche Argumente stützen sich die Anhänger dieser sogenannten communis opinio eigentlich, wenn sie den Versakzent ablehnen?
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon Tiberis » Fr 16. Nov 2018, 22:48

Stomachatus hat geschrieben:schau mal das Video, das ich verlinkt habe

dieses Video habe ich mir schon gestern angesehen, weiß aber nicht, was das mit der Frage Wortakzent vs. Versakzent zu tun haben soll. Die den Distichen unterlegte, ein wenig monotone Musik orientiert sich jedenfalls ausschließlich am Versakzent.
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon ille ego qui » Sa 17. Nov 2018, 16:52

Salvete!

Da Pentameter ab einem bestimmten Zeitpunkt fast immer mit mit einem zweisilbigen Wort enden, fällt der Wortakzent regelmäßig auf die vorletzte Silbe. Da bekommt man dann sogar eine Art Versakzent gratis, aber er entspricht nicht dem sog. Iktus.
Einen künstlichen Vers-Akzent, der so regelmäßig den Wortakzenten zuwiderläuft, gibt es in keiner Sprache. Poesien aber, die allein auf Quantitäten beruhen, gibt es sehr wohl. Da müsste man einen Iktus erst mal beweisen. Denn Rezitatoren, die ihn weglassen und den Zuhörer dennoch keine Sekunde am Verscharakter des Gehörten zweifeln lassen, gibt es mittlerweile einige nicht schlechte. Wissenschaftlich könnte man beim „Iktus“ von einer nicht notwendigen Hypothese sprechen.
Wissenschaftliche Literatur kann ich an der Stelle gerne angeben.
Meines Wissens geht man fürs Lateinische auch von einem eher schwach ausgeprägten (dynamischen?) Akzent aus, sodass auch Tiberis‘ Ohren und Rhythmusgefühl sich davon wohl nicht allzu sehr stören ließen.

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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon ille ego qui » Sa 17. Nov 2018, 17:00

Das finde ich recht gut gelesen, ohne Iktus (Musik und Bilder möge man ausblenden):

https://www.youtube.com/watch?v=YVhvvQL ... ture=share
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon Zythophilus » Sa 17. Nov 2018, 17:17

Da keiner von uns vor 2000 Jahren dabei war, bleibt alles graue Theorie. Oder gibt es Hinweise antiker Autoren, die die eine oder andere Variante plausibel machen?
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon MeropsApiaster » Sa 17. Nov 2018, 17:36

Danke Tiberis :)

verwirrt war ich vor allem weil in Flauchers Reclam-Buch zur Metrik die Positionslängen eingeführt werden mit "Eine Silbe gilt im Vers als lang, wenn xy". Das lies mich erst daran zweifeln ob die zuvor erwähnten naturlangen Silben also von der Verslänge ausgenommen sind.
Macht aber auch für mich inzwischen nur so Sinn wie Du geschrieben hast und habe das auch bei Zgoll so gefunden. Mit dem Wissen um Längen und Kürzen der Endungen in den Deklinationen und Konjugationen geht es nochmal wesentlich leichter.
Was macht man aber wenn die Lücken nach dem Eintragen dieser Endungen und der sicheren Positionslängen (muta cum liquida erst einmal ausgenommen) trotzdem noch zu groß sind?
Zum Beispiel in folgendem Vers:
Saepe soporatos invadere profuit hostes
Die erste Silbe ist lang, ebenso die letzten beiden und der fünfte Versfuß steht als Daktylus schon mal fest. Weiter ist die Silbe -tos wegen der Akkusativendung der o-Deklination lang.
Aber wie gehts dann weiter? :nixweiss:
Rät man dann einfach?

Bei folgendem Vers finde ich es leichter:
nec freta pressurus tumidos causabitur Euros
Da kann ich mir die fehlenden sieben silben in "freta pressurus tumi" irgendwie herleiten, sodass sich das ergab:
- vv - - - vv - - - vv - -
Stimmt das denn? Oder gilt ein Vokal auch vor doppeltem s grundsätzlich als positionslang?
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon MeropsApiaster » Sa 17. Nov 2018, 17:39

MeropsApiaster hat geschrieben: Oder gilt ein Vokal auch vor doppeltem s grundsätzlich als positionslang?


Bzw. die Silbe, in der der Vokal vorkommt..
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon ille ego qui » Sa 17. Nov 2018, 17:46

Aus der Hüfte heraus:
Scheinbare Iktusbelege bei den Grammatikern sprechen gerade gegen den uns bekannten Iktus, wenn man sich die Verse, die hier zitiert werden, ansieht. Nachzulesen bei Stroh „Thesis und Arsis“*. Hoch spannender Aufsatz.
Ferner gibt es eine Stelle (bei Cicero?), Komödienverse klängen beinahe wie Prosa. Kaum sinnvoll, wenn man Verse anders betont hätte.
Valete.


* „Betont“ werden da nicht unsere Iktusstellen, sondern - scheint es auf den erste Blick - der Beginn jedes Fußes. Stroh vesrucht eine Erklärung dieser rätselhaften Stellen und vermutet, dass beim Ausschreiten (Skandieren) beim Grammatiker die einzelnen Versfüße voneinander separiert und jeweils nach Paenultima-Gesetz betont wurden, um den Metrikneuling die einzelnen Versfüße herausarbeiten zu lassen (fürs theoretische Verständnis des Versaufbaus).
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon ille ego qui » Sa 17. Nov 2018, 17:48

Eigentlich rät man nicht, sondern man greift auf sein Wissen der Naturlängen zurück (die im Wörterbuch und in Grammatiken stehen). Das Raten und Puzzeln ist schulische Praxis (die oft zur richtigen Lösung führt) und verstellt nicht selten den Blick auf das echte Wesen des lateinischen Verses.
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon Zythophilus » Sa 17. Nov 2018, 18:22

Wenn man einen Teil der Silben schon aufgrund gewisser Gegebenheiten (Stellung im Vers, zwei folgende Konsonanten o.ä.) bestimmt hat, braucht man nicht raten, sondern kann gemäß den Gesetzmäßigkeiten die restlichen auch bestimmen. Nehmen wir den Hexameter: Die vorletzte Silbe ist lang, davor kommen mit ganz wenigen Ausnahmen zwei kurze. Haben wir schon eine kurze Silbe eindeutig identifiziert, wobei es sich nicht um die letzte Silbe handelt, dann wissen wir, dass die davor oder danach ebenfalls kurz sein muss, weil Kürzen in diesem Vers nur paarweise vorkommen.

ille hat geschrieben:Ferner gibt es eine Stelle (bei Cicero?), Komödienverse klängen beinahe wie Prosa.
"Beinahe wie Prosa" heißt eben nicht genau so wie Prosa. Wenn der Autor, diese Ähnlichkeit für Komödienverse so betont, dann scheint er mir mehr auf die Besonderheit gerade solcher Verse hinweisen zu wollen, die in ihrem Kontext sinnvollerweise wie alltägliche Sprache klingen sollen. Damit wäre das - ich weiß, dass es vermutlich ein argumentum ex silentio ist - eher ein Hinweis darauf, dass sonstige Verse eben nicht wie Prosa klängen.
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Re: Skandieren Ovid Am I, 9

Beitragvon Tiberis » Sa 17. Nov 2018, 19:38

MeropsApiaster hat geschrieben:


nec freta pressurus tumidos causabitur Euros
Da kann ich mir die fehlenden sieben silben in "freta pressurus tumi" irgendwie herleiten, sodass sich das ergab:
- vv - - - vv - - - vv - -
Stimmt das denn? Oder gilt ein Vokal auch vor doppeltem s grundsätzlich als positionslang?


ja ! Positionslänge besteht auch vor Doppelkonsonant ! Deine Skandierung ist also richtig. :)
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