"ruhig bleiben"

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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Christophorus » Mo 14. Jan 2019, 18:33

marcus03 hat geschrieben:"In manchen Sprachen, auch in deutschen Dialekten, stellt die doppelte Verneinung tatsächlich eine Verneinung dar



Man denke auch an das eingerissene "Kein Wort zu niemandem!" .
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon ille ego qui » Di 15. Jan 2019, 16:49

Salvete!

Litotes wird ja mit unter auch als Untertreibung definiert (doppelte Verneinung im Sinne einer besonders deutlichen Bekräftigung wäre dazu dann lediglich eine Unterform). Wenn man also mit „nicht aufgeregt sein“ meint „besonders ruhig sein“ – ob man nun von einer Wort- oder Satzverneinung ausgeht –, könnte man vielleicht doch von einer Litotes sprechen.

Valete!
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Prudentius » Di 15. Jan 2019, 17:39

Tiberis hat geschrieben:Eine Litotes hingegen ist an eine Wortverneinung gebunden, z.B. non/haud invitus id fecissem ...


Lieber Tiberis, wir leben in verschiedenen Welten, wieder einmal :) , Verständigung schwierig. Ich würde, von der Logik her inspiriert, unter Negation eine Syntax-Funktion sehen, die mit den Satzteilen Attribut und Prädikat zu tun hat; für die Grammatik ist aber wohl Negation ein Wort, non.

Ich würde also sagen, meist bezieht sich die Negation auf das Prädikat; das gilt auch für deine beiden Beispielsätze; denn das invitus bei "haud invitus id fecissem" ist ein Unter-Prädikat, wir nennen es ja auch Prädikativum.

Ich würde toleranter sein und nicht solche Abgrenzung machen; was man gewöhnlich an Beispielen findet, fällt unter Prädikatsnegation, wie "das ist nicht schlecht", not amused, nicht ohne Grund, nicht von ungefähr, kommt nicht aus heiterem Himmel, bleibt nicht ohne Folgen; überhaupt viele Ausdrücke mit "nicht ohne ..."; nicht enden wollender Beifall ...; non ignoro, nonnulli, nonnumquam ...

Die Figur heißt Litotes, Zurückhaltung, Einfachheit, Bescheidenheit; denn wenn man sagt "Es war nicht schlecht" anstatt "Es war gut", dann stellt man eine schwächere Behauptung auf, also man drückt sich bescheidener aus.
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon ille ego qui » Sa 19. Jan 2019, 00:04

Und dennoch wird der Litotes oft die Funktion von Betonung und Verstärkung zugeschrieben...
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Tiberis » Sa 19. Jan 2019, 01:26

Prudentius hat geschrieben:Ich würde also sagen, meist bezieht sich die Negation auf das Prädikat; das gilt auch für deine beiden Beispielsätze; denn das invitus bei "haud invitus id fecissem" ist ein Unter-Prädikat, wir nennen es ja auch Prädikativum.Ich würde toleranter sein und nicht solche Abgrenzung machen

Ob "Unter-Prädikat" :roll: oder nicht, ist hier ganz irrelevant, lieber Prudentius.
Hingegen ist die Stellung der Negation sehr wohl von Belang, jedenfalls im Lateinischen.
Nehmen wir halt ein anderes Beispiel:
a) non sine causa id feci. (Ich habe das nicht ohne Grund = aus gutem Grund gemacht) > Litotes.
b) sine causa id non fecissem. (Ohne Grund = grundlos hätte ich das nicht gemacht) > keine Litotes.
Bezieht sich also die Negation im Beispiel a) auf das Prädikat? wohl nicht.
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon medicus » Sa 19. Jan 2019, 12:50

:book: Dieses treffliche Beispiel,Tiberi, magister prudentissime, hat selbst der Medicus verstanden. :D
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon ille ego qui » Sa 19. Jan 2019, 15:41

Tiberis hat geschrieben:Aus der Stellung der Negation geht hervor, dass es sich hier um eine Satzverneinung handelt:
turbatus non est = er ist nicht in Unruhe versetzt worden.
Eine Litotes hingegen ist an eine Wortverneinung gebunden.


Ich würde bezweifeln, dass zum Beispiel (trotz leider mauer Beleglage) ein so großer semantischer Unterschied besteht zwischen „non nescius sum“ und „nescius non sum“, sodass ich die Frage von Litotes oder nicht-Litotes hier auch nur bedingt tangiert sehe. Überhaupt ist wohl die Stellung der Negation deutlich komplizierter - oder: freier -, als uns eine „harmonistische Schulgrammatik“ (O. Seel) :D möchte glauben machen (von den bei näherem Zusehen höchst problematischen Begriffen Wort- und Satznegation ganz zu schweigen ;) ).

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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Tiberis » Sa 19. Jan 2019, 17:12

ille ego qui hat geschrieben:von den bei näherem Zusehen höchst problematischen Begriffen Wort- und Satznegation ganz zu schweigen

Warum du diese Begriffe als "höchst problematisch" ansiehst, optime Christiane, erschließt sich mir nicht. Zumal bekanntlich die Wortverneinung sich auf die Art der Negation auswirkt, vgl. MBS 107,3.
Wenn wir den bekannten Spruch Non scolae sed vitae discimus als Aufforderung formulieren, dann heißt es eben NON (und nicht etwa ne) scolae discamus, sed vitae!
Mit welchen Begriffen wir das nun versehen, ist letztlich unerheblich, der Unterschied zwischen Wort-und Satzverneinung besteht dennoch.
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Prudentius » Sa 19. Jan 2019, 18:41

Ich soll euch einen Gruß von der Logik übermitteln und euch mitteilen, dass es gar keine Wortnegation gibt; denn die Negation ist definiert als "Änderung des Wahrheitswerts eines Satzes", oder Vertauschung von w und f (wahr und falsch); non ist der Bedeutungsträger dieser Negation.
"un-gerecht" ist nicht die Negation von "gerecht", sondern das Gegenteil oder der Gegensatz. Aber "Das ist ungerecht" ist die Negation von "Das ist gerecht".
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon marcus03 » Sa 19. Jan 2019, 19:27

Prudentius hat geschrieben: dass es gar keine Wortnegation gibt;

Was ist dann eine NGO (Nicht-Regierungsorganisation) oder ein Nicht-Europäer oder ein nicht deutsches Produkt? :?
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Tiberis » Sa 19. Jan 2019, 22:37

Prudentius hat geschrieben:Ich soll euch einen Gruß von der Logik übermitteln und euch mitteilen, dass es gar keine Wortnegation gibt

Lieber Mr. Spock, auf dem Planeten Vulkan gibt es sie vielleicht tatsächlich nicht, sehr wohl aber in der lateinischen Sprache. Den "Gruß von der Logik" kannst du dann , sozusagen posthum, gleich auch an Kühner-Stegmann, Menge und alle anderen übermitteln, die sich um die Struktur und Syntax der lateinischen Sprache verdient gemacht haben. Sie alle unterscheiden - bar jeder Logik, wie wir jetzt wissen :-o - die Begriffsnegation von der Satzverneinung an ungezählten Beispielen. Was für ein Pech, dass sie zu Lebzeiten nichts von Prudentius' Logisch-elektronischer Grammatik gehört haben...
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Prudentius » So 20. Jan 2019, 10:30

Marce, meinst du denn, dass "Regierungsorganisation" für sich allein genommen, ohne Prädikat, wahr oder falsch sein kann, so dass man es negieren kann: "nicht Regierungsorganisation"?

Ich muss mir die Sache noch überlegen, wie ich auf alles antworten soll, muss auch erst entironisieren :-D ; ich antworte erst einmal auf Ille:

ille ego qui hat geschrieben:Ich würde bezweifeln, dass zum Beispiel ... ein so großer semantischer Unterschied besteht zwischen „non nescius sum“ und „nescius non sum“, sodass ich die Frage von Litotes oder nicht-Litotes hier auch nur bedingt tangiert sehe.


Hallo Ille, ich würde so sagen: es kommt nicht darauf an, ob non vor oder nach nescius sum steht, sondern man sollte das non funktional sehen: auf welches Prädikat wirkt es? Auf nescius oder auf feci? Die Antwort ist klar: steht es hinter nescius, dann negiert es das feci, andernfalls das nescius; (das nescius rechnet als Prädikat, nämlich als Unter-Prädikat, es ist ja Prädikativum).
Tiberis hat recht mit der Unterscheidung der beiden Sätze als mit und ohne Litotes; denn wenn das non sich gar nicht auf nescius, sondern auf feci bezieht, dann liegt keine doppelte Verneinung und keine Litotes vor. Ich bestreite nur die Unterscheidung zwischen Wort- und Satznegation; in beiden Fällen liegt Satznegation vor, aber beim 2. Beispiel ist keine doppelte Negation vorhanden.
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon ille ego qui » So 20. Jan 2019, 12:25

Salve Tiberis,

die Begriffe sind zwar nützlich und erfassen schon etwas, was in der Sprache angelegt ist. Für problematisch halte ich sie dennoch.
Es beginnt damit, dass eine Satznegation laut MBS auch am Satzanfang - nicht vor dem Prädikat - stehen kann. Weiterhin kann man m.M.n. auch sagen "non discimus scholae, sed vitae".
Ferner kann der Begriff Wortnegation wohl von Satz zu Satz Unterschiedliches bezeichnen, vor allem die Negation einerseits eines Begriffsinhalts (vgl. dt. un-), andererseits eines fokussierten Satzgliedes (man muss hier wohl vom Einzelwort absehen) in Abgrenzung zu gedachten oder genannten Alternativen.
Vor allem in Fällen, wo die Negation vor dem Finitum steht bzw. dem Prädikat, lässt sich beobachten, wie uneindeutig und vage die Begriffe zumindest in ihrer Anwendung bleiben (müssen).

Zur Frage der Litotes mich einmal: Gerade in Kopula-Fällen, wo man ja das Prädikatsnomen zum Prädikat zu zählen pflegt, scheint mir die Frage, ob Wort- oder Satznegation recht schwierig und für den Litotes-Effekt mitunter unerheblich... (Ich bin nicht ahnungslos = non nescio = nescius non sum/ non nescius sum...?)?
Vale/te.

P.S.: Was für eine N. (und ggf. mit welchem Fokus) zum Beispiel liegt vor in einem Satz wir "non equidem summo amore erga te flagro, sed mihi places / sed tamen te in gregem nostrum accipiam"?
(Vgl. nebenbei "kein" als Satznegation im Deutschen (ich habe keine Ahnung / keine Gefühle für dich / keine Lust dich zu treffen...)
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon ille ego qui » So 20. Jan 2019, 12:28

Hältst du "ne discamus scholae! Sed (discamus) vitae!" für ganz unmöglich, Tiberis?
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon ille ego qui » So 20. Jan 2019, 12:48

Und noch ein Verwirrbeispiel:

Non dixi te esse stultum, sed minoris ingenii.
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