"ruhig bleiben"

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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Tiberis » So 20. Jan 2019, 14:38

salve, Christiane!

Grundsätzlich verstehe ich ja deine Bedenken bezüglich der Unterscheidung von Wort- und Satzverneinung. Es gibt wohl auch Beispiele, wo eine klare Trennung nicht vorgenommen werden kann.
Aber sehen wir uns das im einzelnen an:
Non dixi te esse stultum, sed minoris ingenii.

Hier hast du dich offenbar zu sehr vom deutschen Sprachgebrauch leiten lassen, denn der deutsche Satz lautet ja wohl: "Ich habe nicht gesagt, dass du dumm bist, sondern minder begabt."
Tatsächlich liegt die Betonung einerseits auf dem Gegensatz dumm - minderbegabt, andererseits auch auf dixi. Um beidem gerecht zu werden, müsste man wohl schreiben: Non stultum te esse dixi,...
So würde die Negation sowohl das Adjektiv als auch das Prädikat verneinen.
Hältst du "ne discamus scholae! Sed (discamus) vitae!" für ganz unmöglich

Wenn man den Gegensatz auf zwei (von einander unabhängige) Aufforderungen aufsplittet, warum nicht? (statt sed würde ich dann eher immo nehmen)
Weiterhin kann man m.M.n. auch sagen "non discimus scholae, sed vitae".

Nein, denn die Betonung liegt ganz eindeutig auf den gegensätzlichen Wörtern scholae bzw. vitae. Es muss also definitiv heißen: Non scholae, sed vitae discimus.
P.S.: Was für eine N. (und ggf. mit welchem Fokus) zum Beispiel liegt vor in einem Satz wir "non equidem summo amore erga te flagro, sed mihi places / sed tamen te in gregem nostrum accipiam"?

Hier ist kein wirklicher Gegensatz zu erkennen, somit ist auch keine Wortnegation erforderlich. Die Negation könnte also auch unmittelbar vor flagro stehen.
ille ego qui hat geschrieben:Zur Frage der Litotes mich einmal: Gerade in Kopula-Fällen, wo man ja das Prädikatsnomen zum Prädikat zu zählen pflegt, scheint mir die Frage, ob Wort- oder Satznegation recht schwierig und für den Litotes-Effekt mitunter unerheblich... (Ich bin nicht ahnungslos = non nescio = nescius non sum/ non nescius sum...?)?

richtig. In Fällen wie diesen (doppelte Verneinung!) handelt es sich immer um eine Litotes. Und hier kann tatsächlich nicht zwischen Wort- und Satznegation unterschieden werden. Dennoch: Ausnahmen bestätigen die Regel! :D

vale! :-D
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon ille ego qui » Mi 23. Jan 2019, 15:59

Nein, denn die Betonung liegt ganz eindeutig auf den gegensätzlichen Wörtern scholae bzw. vitae. Es muss also definitiv heißen: Non scholae, sed vitae discimus.


Oh je, muss ich mich jetzt wirklich auf die Suche begeben? Ich finde schon einen schon einen entsprechenden Beleg :D
Übrigens habe ich meinen "non dixi"-Satz formuliert mit einem Satz des von dir weniger geschätzten Prof. Stroh im Ohr (Non equidem dixi linguam Latinam esse inter vivas, sed mortuam esse concessi) - aber das nur nebenbei ;)
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Tiberis » Mi 23. Jan 2019, 20:58

ille ego qui hat geschrieben:Non equidem dixi linguam Latinam esse inter vivas, sed mortuam esse concessi

Gegen diese Formulierung ist ja auch nichts einzuwenden, denn hier handelt es sich um zwei Sätze (!), die außerdem keinen Gegensatz darstellen.
Bezügl. W. Stroh habe ich nie dessen fachliche Qualifikation angezweifelt, einzig seine affektierte Art zu rezitieren, verursacht mir körperliches Unbehagen. :cry:
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon marcus03 » Do 24. Jan 2019, 09:42

Tiberis hat geschrieben:einzig seine affektierte Art zu rezitieren,

Sein werbewirksames Markenzeichen? ;-)
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon ille ego qui » Mo 28. Jan 2019, 20:51

"Non equidem dixi linguam Latinam esse inter vivas, sed mortuam esse concessi."

Ich glaube, dies ist ein recht schönes Beispiel für einen Satz, wo eine Satznegation gesehen werden kann, wobei freilich innerhalb des Satzes ein Wort besonders betont und in gewisser Weise mit der Negation besonders verbunden ist. Gerade hier, vermute ich, sind wir nah an einem Graubereich zwischen Wort- und Satznegation.

An etwas Ähnliches dachte ich auch bei meinem Versuch "Non discimus scholae (Lernen wir für die Schule? - nein). Sed discimus vitae."
Mag aber sein, dass ich mich irre, wenn ich einen solchen Satz für sagbar halte ;-)
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Zythophilus » Sa 2. Feb 2019, 12:14

Die Litotes ist normalerweise ein Paradebeispiel für eine Wortnegation. Wenn eine "nicht ungefährliche" Bestie irgendwo ihr Unwesen treibt, besagt das doch, dass es eine Bestie gibt. Die Negation ist nicht zwangsläufig das Gegenteil: Wenn etwas kein Unglück ist, ist es nicht automatisch Glück. Positiv formuliert es Torberg, wenn er die den deutschen Foristen wahrscheinlich weniger bekannte Tante Jolesch sagen lässt: „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist“. "Noch ein Glück" ist sehr relativ. Der Neffe, der statt in den Gegenverkehr zu geraten nur gegen das Brückengeländer prallte, hatte "noch ein Glück", aber wirkliches Glück wäre es gewesen, keinen Unfall zu haben.

Formal gesehen ist eine Litotes die Verneinung eines negativen Begriffs, also im Deutschen zumeist ein Wort mit "un-" oder "-los". Ich würde aber auch negativ verstandene Begriffe wie "schlecht" in einer Art inhaltlicher Litotes dazurechnen.
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Lychnobius » Sa 2. Feb 2019, 14:02

Denkt man an Formulierungen wie: "Das ist nicht nett von dir" oder "Das war keine Glanzleistung", dann zeigt sich allerdings, dass man nur einen Teil der Fälle abdeckt, die als Litotes bezeichnet werden, wenn man hierunter die Verneinung eines negativen Begriffs versteht.
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon medicus » Sa 2. Feb 2019, 15:53

Lychnobius hat geschrieben: "Das war keine Glanzleistung",


Solche Worte pflegen Magister im Munde zu führen, wenn Klassenarbeiten zurückgegeben werden. :prof2:
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Zythophilus » Sa 2. Feb 2019, 17:57

Zwei Dinge, die nicht so viel miteinander zu tun haben, werden unter „Litotes“ zusammengefasst: doppelte Negation und Negation des Gegenteils. Das schafft Verwirrung.
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Prudentius » Sa 2. Feb 2019, 21:10

Zythophilus hat geschrieben: Das schafft Verwirrung.


Man kann dem etwas abhelfen, indem man die Logik-Kiste aufklappt :-D .

Man unterscheidet zwei Arten von Gegensatz:

(1) "Konträrer Gegensatz": gut - schlecht,
(2) "Kontradiktorischer Gegensatz": gut - nicht gut.

Der Unterschied ist der, dass es bei (1) einen Zwischenbereich gibt und bei (2) nicht; denn wenn etwas nicht gut ist, muss es nicht schleht sein.

Dieser Unterschied erlaubt ein Jonglieren zwischen beiden Formen, wie wir es bei der Litotes haben. Ich kann noch näher darauf eingehen, mache aber erstmal für heute Schluss.

Auch über "Wortnegation" ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
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Re: "ruhig bleiben"

Beitragvon Prudentius » So 3. Feb 2019, 18:42

Mit dieser Unterscheidung kann man die Litotes ganz gut begrifflich fassen; ich gebe mal eine Anleitung zur Litotes von "gut":
1, Bilde den konträren Gegensatz zu gut: "schlecht";
2. bilde dazu den kontradiktorischen Gegensatz: "nicht schlecht"!

Warum ich mich sträube, eine "Wortnegation" anzunehmen? Ich sehe lästige Folgerungen darin und möchte diese vermeiden. Diese Folgerungen sind: Negation ist ein Wechsel der Satzwahrheit, sie hängt also am Satz; ein Wort kann ja nicht wahr oder falsch sein; nur ein Satz kann es; ein Wort kann höchstens zutreffend oder unpassend sein. Wir müssten also erst Wortwahrheit definieren, um sie negieren zu können; das ist gar nicht zu machen.
Weiterhin: Wenn Satz ud Wort negiert werden können, was ist dann das Gemeinsame von Wort- und Satznegation?
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