Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Fr 19. Apr 2019, 17:08

Hallo Prudentius, mit thesis vs. physis sehe ich das Equivalent (oder Vorbild) zur lateinischen Dichotomie cultura vs. natura. Was mich allerdings wundert ist, dass Heinemann in seiner Studie mit dem Thema "Geschichte des griechischen Naturbegriffs" auf seinen 300 Seiten unzählige Zitate anführt, aber kein einziges Mal θέσις /thesis auftaucht, kannst du dazu eine Textstelle aufzeigen? Es würde sich dann um absoluten Gebrauch des Wortes handeln, im Sinne von "Naturgegebenheit per se", richtig? Das ist dann aber noch nicht das Naturganze als universitas rerum innatarum, ut lapides, arbores, colles, etc?
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Prudentius » So 21. Apr 2019, 09:51

Heinemann kenne ich nicht, aber dieser Gegensatz physis vs. thesis beherrscht die ganze klassische Zeit, die Sophisten zur Zeit des Sokrates waren darin führend; Platons ganzes Bemühen zielt darauf ab, ein Wissen zu gewinnen, das auf physis beruht, also fest verankert ist in der Natur der Sache, und nicht wie menschliche Satzung veränderbar.
Platons Dialog Kratylos geht um das Thema, ob die Richtigkeit der Namen auf der Natur beruht, oder auf Konvention, also thesis oder nomos.
Beim Recht gibt es außer den von menschlichen Gesetzgebern formulierten Gesetzen auch ein "Naturrecht", die "ungeschriebenen Gesetze" werden sie einmal bei Sophokles genannt; bei uns klingt das Thema noch nach, unter den Stichwörtern Naturrecht, Menschenrechte, Widerstandsrecht.

Was dir vorschwebt unter dem Naturbegriff, das ist, glaube ich, erst seit der Zeit der Industrialisierung entstanden, das Leiden des modernen Menschen an der Entfremdung vom eigentlich Menschlichen, das treibt den Menschen in den Wald, und das bewegt die Fahrzeugkolonnen an den Wochenanden hinaus in die Natur. Das bewegte auch schon Karl Marx, der den Menschen aus der Entfremdung befreien wollte, indem er ihn in den Besitz der Produktionsmittel setzen wollte.

Aber die Antiken hatten dieses Gefühl noch nicht, si sahen den Menschen noch als Teil der Physis.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Mo 22. Apr 2019, 14:45

So hatte ich es auch geahnt, super Antwort von Prudentius, danke! :klatsch:
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon ille ego qui » Sa 18. Mai 2019, 19:04

Georges:

campi. agri. rus. (vgl. Tiberis)
animalia sataque


Vielleicht nur unmittelbar ein Beitrag zur Diskussion, dennoch ein Distichon aus dem Pantheon, an das ich gerade denken musste (immerhin bringt die hier erwähnte Natur-Macht die zur Debatte stehende „Natur“ hervor):

Ille hic est Raphael, timuit quo sospite vinci
rerum magna parens et morienti mori.

:)
Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen et egressus silvis vicina coegi,
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
arma virumque cano ...
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Sa 18. Mai 2019, 20:34

Zur Diskussion stand das Naturgegebene (qualitates innatae) in Abgrenzung zum Naturganzen (mundus rerum nativarum, ein klobiger Behelfs-Ausdruck). Von letzterem sind rus, campus, etc. Teilbegriffe, bzw. besondere Ausprägungen. Ich fand das Argument einleuchtend, daß sich der Mensch damals noch nicht so weit von der Natur entfernt hatte um die Natur als Abgrenzung zur "Kunstwelt" zu benötigen oder zu schätzen. Natur war damals allgegenwärtig, allein das Stadtgetümmel war vielleicht ähnlich unserer Naturferne, und das Stadtgetümmel hat man dann mit dem konversen Begriff "rus" kontrastiert.
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