Lebendiges Latein - Latinitium.

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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon marcus03 » Mi 1. Jan 2020, 08:50

Was soll einen Schüler motivieren, eine Sprache zu sprechen, die keiner spricht und nur in der
Schule vorkommt?
Es gibt immer ein paar Freaks, aber die Masse der Schüler bringt Latein hinter sich und wählt es ab.
Latein betreibt man langfristig am besten als Privatvergnügen mit Gleichgesinnten.
Wir vergessen zudem, dass Latein für den Schüler nur eines von vielen Fächern ist,
mit denen er klar kommen muss.
Viele wählen Latein auch gerade deshalb, weil man es nicht sprechen muss und es das
kleinere Übel ist (geringer Wortschatz, rettende Zusatzteile, im Abi ist sogar ein zweisprachiges Wörterbuch zugelassen).

Laptop hat geschrieben:Wie kann ich ihn so begeistern, daß er es von sich aus lernen will?

Darüber wird schon seit Generationen nachgedacht, der Erfolg ist mehr als bescheiden.
Latein ist für die Masse ein Puzzlespiel (Dichter insbesondere) mit Sätzen, die es zu knacken gilt, und diese dann halbwegs verständlich zu übersetzen. Daran wir sich auch kaum etwas ändern.

Was mich begeistert, muss andere lange nicht begeistern.Die Interessen und Neigungen der Menschen
sind nunmal verschieden, aus welchen Gründen auch immer. Zwischen begeistert sein und begeistern
liegen oft Welten. Was der eine toll findet, findet der andere langweilig, nervig oder uninteressant.

Pädagogische Theorie und Realität klaffen auch im Fach Latein weit auseinander.
Der Mensch ist eben nicht so, wie die Theorie ihn sieht und gern hätte.
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 1. Jan 2020, 09:43

marcus03 hat geschrieben:Was soll einen Schüler motivieren, eine Sprache zu sprechen, die keiner spricht und nur in der Schule vorkommt?

Ich glaube, dass da dann auch nur noch ein paar Schüler übrigbleiben, die mitmachen. Im Übrigen muß man erst Lateinlehrer finden, die gut Latein sprechen können. So schön und gut es ist, es wird nicht umgesetzt werden, wenn man betrachtet, dass es Jahre dauert, um einen Lehrplan mal einigermaßen anzupassen.
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon marcus03 » Mi 1. Jan 2020, 09:52

Man stelle sich vor, welch großen modernen Wortschatz man bräuchte um halbwegs über den heutigen Alltag
lateinisch zu reden. Oder über Themen,Politik und Wirtschaft und Gesellschaft.
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 1. Jan 2020, 10:00

Nicht mal Ørberg wird in Gymnasien großflächig umgesetzt. Meist wird das Zeitproblem angesprochen. Aus keinem Schüler muß heute ein perfekter Latinist gemacht werden. Man hätte genügend Zeit, wenn man die Ziele neu setzen würde.
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon marcus03 » Mi 1. Jan 2020, 10:13

Medicus domesticus hat geschrieben:Man hätte genügend Zeit, wenn man die Ziele neu setzen würde.

Welche könnten/sollten das sein? Warum wäre das Zeitproblem dadurch lösbar?
An den Basics kommt man nicht vorbei und die sind m.E. zeitaufwendig genug, bis sie sitzen. :?
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 1. Jan 2020, 10:22

Mehr Zeit ist nicht immer mehr. Wir hatten deutlich mehr Stunden in Latein, aber war deswegen die Qualität und das, was bei den Schülern ankam, besser? In einer damaligen 35 Schüler Lateinklasse meiner Zeit waren vielleicht 8-10 Leute gut bis sehr gut. Der Mittelteil war am ausgeprägtesten (3-4). Der Rest war gefährdet.
Von meinen Kindern macht keiner Latein nach der Schule weiter, sie haben andere Interessen, obwohl es ihnen am Anfang Spass gemacht hat. Ich denke, dass sie auch desilussioniert worden sind.
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon marcus03 » Mi 1. Jan 2020, 10:43

Wir waren anfangs 46 Schüler (mit 6 Stunden Latein, Sechstagewoche) in der Klasse! Da hätten auch 10 Wochenstunden nicht ausgereicht.
Die junge Lehrkraft war immer am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Der Jahresstoff wurde nicht geschafft. In Jahr darauf hatten wir einen brutalen Pauker,
bei dem statt Freude nur Angst aufkam. Erst im 3.Jahr wurde es besser. Der Lehrer
war top und locker. Er hat meine Freude am Latein erst geweckt, auch wenn das Übersetzen
oft viel zu wörtlich war. Immerhin mussten wir 5 Jahre lang auch ins Lateinische übersetzen,
aber zuletzt eher am Rande.
Ich kenne keinen aus meiner Schule (humanistisches Gym), der Lateinlehrer wurde.
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon marcus03 » Mi 1. Jan 2020, 17:26

In NRW z.B. gehen 50% der Schüler auf das Gymnasium

Wow! Quantität um jeden Preis.
Wieviel davon machen Abi, um dann zu den 30% zu zählen, die das Studium abbrechen?

Longipes hat geschrieben:Die Frage, wozu Latein eigentlich gut sein soll, habe ich mir erst gestellt, als ich meine Studiengänge gewählt habe.

ZU welcher Antwort bist du gekommen? Warum bist du Lateinlehrer geworden?

Longipes hat geschrieben:Schüler hinterfragen selten die Gründe für ihren Spaß an einem Fach – Lebensweltbezug und Nutzbarkeit sind viel weniger wichtig als eine innere Motivation, die vielleicht nur darauf beruht, dass man es recht gut beherrscht.

Das sehe ich genauso.
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon mystica » Mi 1. Jan 2020, 19:13

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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon Tiberis » Mi 1. Jan 2020, 20:30

(delevi)
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon Tiberis » Mi 1. Jan 2020, 20:31

Mystica hat geschrieben:So denke ich, dass man in der Schule auch den Lateinunterricht wie eine moderne Fremdsprache kultivieren sollte. Vor allem aber sollte der Lateinunterricht für Anfänger mit leicht verstehbaren Texten aus unserer Zeit beginnen, die die SchülerInnen und StudentInnen in ihrer konkreten Lebenswelt abholen.
Dies könnten z.B. lateinische Texte von Twitter Botschaften des Papstes sein, das Studium der Vulgata, Imitatio Christi a Thoma Kempsis und[u] päpstliche Enzykliken, philosophische und theologische Texten von Thomas von Aquin, Augustinus und Bernhard von Clairvaux


Ich bezweifle sehr, dass päpstliche Enzykliken und theologische Texte des Thomas v. Aquin u.a. "leicht verstehbare Texte" sind, die die "Schüler in ihrer konkreten Lebenswelt abholen" . :roll:
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon marcus03 » Do 2. Jan 2020, 09:01

Longipes hat geschrieben: wir müssen stattdessen durch unser Tun dafür sorgen, dass die Bedeutung des Lateinischen wieder breitere Anerkennung findet.

Was schlägst du konkret vor?
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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon mystica » Do 2. Jan 2020, 10:29

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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon mystica » Do 2. Jan 2020, 10:44

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Re: Lebendiges Latein - Latinitium.

Beitragvon marcus03 » Do 2. Jan 2020, 11:08

mystica hat geschrieben:Ich denke, dass die Gottesfrage viele Jugendliche interessiert und Thomas von Aquin hat uns auch heute noch vieles darüber zu sagen.

Das halte ich für problematisch, da Thomas von einem ganz anderem Weltbild geprägt war als
wir Heutige.
Die Gottesfrage stellt sich heute primär vor dem Hintergrund der modernen Kosmologie und Evolutionstheorie/Evolutionsbiologie. Thomas war ein Kind einer Zeit, die mit der unseren
wenig gemein hat außer die zeitlosen Fragen und Probleme der Menschheit (Sinnfrage, Angst,
Zukunft, Krankheit, Leid,Tod u.ä.)
Da hätte der Aquinate einen schweren Stand und würde wohl schnell
belächelt. Kant wäre eine bessere Adresse oder Drewermann. Doch die gibts nicht auf Latein.
Und wenn, dann wären sie viel zu schwer für die Schule.
Drewermann:
Glauben in Freiheit / ... und es geschah so - Die moderne Biologie und die Frage nach Gott. Glauben in Freiheit Band III/2

"Laudato si" wäre sicher interessant, auch weil Schüler moderne Begriffe auf Latein dabei lernen
können und ein Gespür dafür bekommen, wie man moderne Begriffe und Inhalte in einer alten Sprache
wiedergibt.

http://www.vatican.va/content/francesco ... to-si.html

PS:
Ändert sich mehr auf der Welt, wenn ein Papst Probleme aufgreift und Missstände anprangert,
die allgemein bekannt sind? Ich glaube kaum.
Zudem hat der Papst genug Missstände im "eigenen Laden" zu beseitigen.
Die Androhung von Höllenstrafen juckt heute keinen mehr, eher schon wenn*s allmählich
höllisch heiß wird auf Gottes Erde dank kräftiger Mitwirkung seines Ebenbildes.
Die vermeintliche Krone der Schöpfung wird immer spürbarer zu derem größten Gefährder
und potentiellen Zerstörer. Quo vadis, creatura creatoris mirissimi adeoque laudati?
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