Der kantige Mönch: Ecclesia, Ossa, Carnes.

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Re: Der kantige Mönch: Ecclesia, Ossa, Carnes.

Beitragvon Willimox » Fr 22. Jan 2021, 12:36

Ein bisschen ein zweischneidiges Argument, das mit dem Konditionalsatz:

a) Der Indikativ+si drückt aus, dass eine Bedingung (möglicherweise !) erfüllbar ist. Der Potentialis scheint da sehr nahe zu liegen. Der Irrealis des Imperfekts signalisiert, dass der Sprecher die Bedingung jetzt oder später für nicht erfüllbar hält. Der Irrealis des Plusquamperfekts signalisiert, dass der Sprecher die Bedingung als in der Vergangenheit nicht erfüllt auszuweisen versucht.
Das Konjunktionssignal "si" setzt übrigens markant diese Suspendierung.

b) Umgekehrt dürften daher die meisten Indikativsätze ohne "si", seien es Relativsätze oder andere, sehr wohl normalerweise mit der Wahrheitsbehauptung arbeiten. Insofern Partizipialsätze oder AcIs als Aussagen verstanden werden, ist nicht recht einzusehen, warum sie Suspendierungen transportieren sollten. Auch wenn Grice da anderes Ins Spiel bringen könnte.

c) Schön ist das Deutsche mit seiner Erststellung des finiten Verbs in Fragesätzen oder auch in latenten Konditionalsätzen. Hier ein solcher Konditionalsatz mit Bestreitung der Gültigkeit:

Hätte der Tag 25 Stunden und hätten unsere bayerischen Gymnasien eine funktionierende, stabile digitale Anbindung, dann wäre alles viel leichter.

d) Und hier noch einmal ein "absoluter Partizipialsatz":

Siebenschläfer in neuer Klopapierrolle entdeckt, Lageristin :sleep: (wird) für eine Woche vom Dienst suspendiert.

Bild



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Re: Der kantige Mönch: Ecclesia, Ossa, Carnes.

Beitragvon Sapientius » Fr 22. Jan 2021, 16:42

Willimox hat geschrieben:Insofern Partizipialsätze oder AcIs als Aussagen verstanden werden, ist nicht recht einzusehen, warum sie Suspendierungen transportieren sollten.


Doch: es sind ja Satzteile, nämlich Objekte oder Adverbialien, und haben als solche keine Wahrheit.

Ich möchte ja nicht auf den Suspendierungen herumreiten, darauf kommt es weniger an; es ist auch egal, ob die Implikaturen hier "greifen", oder ob die Prädikatenlogik umstritten ist; mir kommt es darauf an, dass die Lateinleser erkennen, dass bei diesen syntaktischen Gebilden Wahrheit im Spiele ist, und dass es sich lohnt, darüber nachzudenken; und dass man wegkommen sollte von nichtssagenden metaphorischen Erklärungen wie "... liegt zugrunde"; das Zugrundeliegende kann genauer gefasst werden.

Wir sind auf die Krücken der Grammatik-Terminologie angewiesen, und können gewisse Gebräuche abstecken; aber wir wissen auch, dass die großen Autoren mit den Grammatikregeln jonglieren; man muss sehr relativieren; ich denke z.B. an die Unterscheidung von Bild und Rahmen, die ich weiter oben machte; die Grenze wird oft verwischt.

:)
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Re: Der kantige Mönch: Ecclesia, Ossa, Carnes.

Beitragvon Willimox » Fr 22. Jan 2021, 19:23

Grüße Dich, Sapientius,

völlige Zustimmung, dass die Wahrheitsfrage bei Sätzen hochspannend ist.

Immerhin bedenkenswert zur Wahrheitsfrage bei Phrasen "unterhalb" des Satzstandards:

1. Bidens Wahlbetrug

s1
Trotz der gerichtlichen Entscheidungen über den Wahlbetrug Bidens
hat Trump das Weiße Haus für Biden geräumt und ist zum Golfen gefahren.


Das Adverbiale ist wohl eine verkürzte Aussage
hat den Wahrheitswert "falsch".
Und sie/es falsifiziert den Gesamtsatz.

(2) Laschets Sieg

Hier eine "absolute Partizipialkonstruktion", sie wurde schon einmal präsentiert. Sie beansprucht wohl durchaus, wahr zu sein:
s2
Laschet zum CDU-Vorsitzenden gewählt – die eigentliche Gewinnerin heisst Merkel
(NZZ)


(3) Verres' Gaunereien

Mehr noch, sogar Lexemphrasen ohne verbal-nominale Zusätze können für sich schon Aussagen denotieren, man vergleiche Ciceros Präteritio-Technik hier:

s3
omne illud tempus quod fuit antequam iste ad magistratus remque publicam accessit, habeat per me solutum ac liberum. sileatur de nocturnis eius bacchationibus ac vigiliis; lenonum, aleatorum, perductorum nulla mentio fiat; damna, dedecora, quae res patris eius, aetas ipsius pertulit, praetereantur; lucretur indicia veteris infamiae; patiatur eius vita reliqua me hanc tantam iacturam criminum facere. (Verr. 2.1.33)

Bei Interesse an Vertiefung:

https://plato.stanford.edu/entries/implicature/

Huang, Yan (2015): Neo-Gricean Pragmatic Theory of Conversational Implicature.
In: The Oxford Handbook of Linguistic Analysis, Second Edition, ed. Bernd Heine and Heiko Narrog, Oxford University Press.
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Re: Der kantige Mönch: Ecclesia, Ossa, Carnes.

Beitragvon cometes » Do 28. Jan 2021, 15:07

Das sind viele Beispiele mit vielen Problemen und Fallstricken.

Willimox hat geschrieben:S2 Den blau lackierten Porsche da will Petra verkaufen.



In S2 hat der deiktische Ausdruck „Den blau lackierten Porsche da“, der zu einer augenblicklichen Überprüfung an der Wirklichkeit (und sei es einer fiktionalen Welt) einlädt, m.E. zunächst den Status einer Präsupposition, die den Negations-, Frage- und Modalitätstest besteht.

Deren Erfüllung ist unbedingte Voraussetzung für die Geltungsfrage des gesamten Satzes und das Zustandekommen von auf die Verkaufsabsicht (eigentliche Propositon) eingehender Anschlusskommunikation.

Steht da kein blau lackierter Porsche, gibt es gewöhnlich weder Kaufverhandlungen noch kommt eine Unterhaltung darüber zustande, ob Petra überhaupt die rechtmäßige Eigentümerin sei usf. Auch Bemerkungen mit Implikatur wie „Ach, ist der Sohn wieder einmal zurück aus Vegas?“, wodurch nahegelegt wird, dass Petra den Porsche verkaufen will, um zum wiederholten Male Spielschulden ihres Nachwuchses zu begleichen, können nicht mehr sinnvoll angeschlossen werden, besitzt die Präsupposition keine Geltung.

Die Kommunikation scheitert gänzlich oder wendet sich den Ursachen dafür zu („Halluzinierst du?”, „Ich sehe nur einen gelben Peugeot oder ist das ein Code?“) Das führt in der Wahrheitsfrage aber dazu, dass die Beurteilung, ob der gesamte Satz S2 wahr oder falsch ist, suspendiert wird, versteht man darunter (anders als bisher) das Aussetzen ihrer Entscheidbarkeit.

Kurzum, dieser Satzteil besitzt nicht nur einen Wahrheitswert, er muss auch noch einen ganz bestimmten annehmen und behalten, damit die Wahrheitsfrage der gesamten Aussage gestellt werden und die weitere Kommunikation sinnvoll an die Aussageintention (Verkaufsabsicht Petras) anschließen kann. Ich sehe nach wie vor nicht, wie eine Rede von Suspendierung hier sinnvoll sein sollte, will man darunter, wie schon erwähnt, nicht bloß verstehen, dass die Geltung nicht weiter thematisiert wird.

Als Präsuppositionsauslöser kommen übrigens viele Konstruktionen in Betracht, die besagte Geltungsdimension auch in Satztypen entfalten, die an sich keine Propositionen darstellen:

Stehlen sie eigentlich noch immer Toilettenpapier in den Vorstandssitzungspausen, Herr Dr. K.?
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Re: Der kantige Mönch: Ecclesia, Ossa, Carnes.

Beitragvon Willimox » Do 28. Jan 2021, 15:20

Es dürfte als möglich angesehen werden, dass der Sprecher beim Falsifizieren der Adverbialangabe "in den Vorstandssitzungspausen" auf der Wahrheit seiner Aussage insistiert. Ein unwichtiger Nebenaspekt habe sich - zugegebenermaßen - nicht bewahrheitet.

Andererseits ist - Rezipientenperspektive - die Gesamtaussage nicht gerade wahrscheinlicher geworden, wenn dieser Nebenaspekt sich als nicht gültig erweist. Man kann auch die gesamte Aussage in diesem Fall als unwahr ansehen.

Das bedeutet, in einer maximalen Aussagennorm wird auch das Adverbiale als wahrheitsbeanspruchend und "satz-ausstrahlend" wahrgenommen.
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