Historische Fakten im lateinischen Präsens?

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Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon ille ego qui » Sa 22. Jan 2022, 23:36

Salvete,

bei einem aktuellen Übersetzungsauftrag - aber auch bei unserem Thread "Abhinc ... annos" - stelle ich mir immer wieder die Frage: Ist es im Lateinischen genauso wie im Deutschen möglich, historische Fakten im Präsens wiederzugeben?
Beispielsweise: " Goethe wird im Jahr 1749 geboren. Er verlebt eine ... Kindheit ..." usw.
Ich bilde mir ein, einmal gehört zu haben, so etwas sei ein Germanismus?
(Das historische Präsens - so habe ich es zumindest immer gelernt - bezieht sich eher auf dramatische Zusammenhänge und nicht auf eher lexikalische Zusammenfassunngen - gar mit Datumsangabe.)
Weiß jemand etwas dazu oder hat eine Einschätzung?

Bene valete!
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon Tiberis » So 23. Jan 2022, 01:09

ille ego qui hat geschrieben: Ist es im Lateinischen genauso wie im Deutschen möglich, historische Fakten im Präsens wiederzugeben?

warum nicht? Gerade bei Historikern ist sowas ausgesprochen häufig. Zahllose Belege dafür findest du bei Kühner-Stegmann II,1,S. 115.
Von einem Germanismus kann überhaupt keine Rede sein!
;-)
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon ille ego qui » So 23. Jan 2022, 01:28

Salve!

Ich werde das nachlesen. Vielen Dank!!!
Jedenfalls reservieren MBS das "historische Präsens" für lebhafte (!) Schilderungen in der Vergangenheit.
Meine Bedenken bezogen sich auch gerade auf, wie angedeutet, lexikalische Zeitangaben im Stil von "Im Jahr ... wird XY geboren" - da hätte ich (ohne eindeutigen Beleg) weiterhin Bedenken, ob man das auf Latein so machen würde.
Ich ziehe KSt morgen zurate, danke dir für den Paragraphen!

Vale!
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon Sapientius » So 23. Jan 2022, 09:49

... möglich, historische Fakten im Präsens wiederzugeben?


Du objektivierst zu sehr, Tempusgebung ist Angelegenheit des Subjekts. Es kommt darauf an, in welchen Zusammenhang sich das Subjekt stellt und sich hineindenkt.

Manche Sprachen haben die Kategiorie Tempus gar nicht, und es fehlt ihnen nichts.
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon ille ego qui » So 23. Jan 2022, 13:12

Ich bräuchte in dem Fall schon eine Einschätzung aus der Praxis, nicht aus der philosophischen Logikecke ;)
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon Medicus domesticus » So 23. Jan 2022, 15:35

Kühner/Stegmann und auch andere Grammatiken zeigen das Problem nicht zur Gänze auf.
Antike Historiker wechseln hauptsächlich ins historische Präsens (gibt es ebenfalls im Griechischen), wenn sie etwas schildern wollen mit entsprechender Spannung und den Leser mitnehmen wollen.
Bei banalen Faktenschilderungen wäre ich vorsichtig: auch da „obiit“ jemand ohne gewisse Spannung.
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon ille ego qui » So 23. Jan 2022, 16:19

Gratias tibi ago!
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon Tiberis » So 23. Jan 2022, 16:27

Medicus domesticus hat geschrieben:wenn sie etwas schildern wollen mit entsprechender Spannung

Nicht die "Spannung" ist das Kriterium, sondern die Intention des Erzählenden, sich in die jeweilige Zeit zurückzuversetzen, sie quasi zu vergegenwärtigen.
Wenn Livius (1,30,1) schreibt: Roma interim crescit Albae ruinis; duplicatur civium numerus; Caelius additur urbi mons eqs, dann ist das weder lebhaft noch spannend, sondern eine bewusste Vergegenwärtigung historischer Ereignisse.
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon Medicus domesticus » So 23. Jan 2022, 16:31

Das erzeugt aber trotzdem eine Spannung beim Leser. Jetzt wird er zurückversetzt in die damalige Zeit, also pass auf! Man braucht sich nur die Beispiele bei Caesar, Nepos, Sueton anschauen. Auch bei Sueton „obiit“ Augustus ganz neutral in einer Schilderung.
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon Sokrates » Do 10. Feb 2022, 00:06

Für das D gilt:
In der Tat muss man bei Sätzen im Indikativ Perfekt eine Unterscheidung sowohl von Bezugssystemen der Zeitlichkeit des Vorgangs als auch der eigentlichen pragmatischen Funktion der Tempuswahl vornehmen.
Da man wahrscheinlich eher den Duden, Grammatik, zuhanden hat als das Standardwerk von Zifonun et al., beziehe ich lieber die erste Quelle mit ein, § 707-712:
Sprechzeitpunkt = Zeit, in dem ein Individuum eine sprachliche Äußerung macht (a)
Geschehenszeit = Zeit, da das Ereignis stattgefunden hat (b)
Orientierungszeit = Zeit, auf das sich eine Temporalangabe in einem Perfekt-Satz beziehen kann, nämlich entweder auf die Geschehenszeit oder den Sprechzeitpunkt. (c)

Im Jahr X ist Kaiser Y auf dem Höhepunkt seiner Macht gewesen.
Dies kann entweder bedeuten, dass aus heutiger Sicht (also a) gilt, dass Kaiser Y gerade im Jahr X am mächtigsten gewesen ist, das heißt die Geschehenszeit der Machtausweitung b fällt mit der Jahresangabe der Orientierungszeit (c) zusammen, oder es gilt aus heutiger Sicht, dass für das Jahr X gilt, dass der Kaier bereits nicht mehr mächtig ist, sondern den Zenit bereits überschritten hat. Dann bezöge sich das Jahr nur auf das Partizip, weswegen man im D betont: Im Jahr X ist der Kaiser (bereits) auf seinem Höhepunkt GEWESEN.

Für das dt. Präsens ist das insofern irrelevant, als Orientierungszeit und Geschehenszeit zusammenfallen und bei Kombination mit geeignetem Temporaladverb ohnehin ein Präsens alle Zeitstufen bezeichnen kann. Heute fliege ich nach Rom. Morgen fliege ich nach Rom. Gestern fliege ich nach Rom, als plötzlich ein Gewitter losbricht.

Der letzte Satz beinhaltet eindeutig ein sog. dramat. Präsens, das eben ein Geschehen lebhaft darstellt. Der Duden nennt es szensiches Präsens § 724. Davon zu unterscheiden ist aber das Präsens in Lexikonartikeln, Biographien etc, im Jahr X wird Person Y in Wien geboren....
Hier geht es um eine sachliche Aufzählung von Ereignissen im Chronistenstil, nicht um Dramatik.

Für das L gilt:
Auch hier gibt es das dramat. Präsens (cf. Pinkster, Oxford Latin Syntax Vol 1, S.401-409). Aus der Quelle wird deutlich , dass ein solches Präsens oft mit Tempusadverbien oder in einem Kontext steht, der klar auf Vergangenheit verweist und nicht mit dem aktuellen Präsens verwechselt werden kann. Sehr häufig ist das Präsens dann echt dramatisch, in einer wichtigen und entsprechend markierten Stelle verwendet, oft von dynamischen terminativen Verben. Dann eröffnet oder schließt die Stelle aber meist ein echtes Vergangenheitstempus.
Das nur "registrierende, aufzählende" Präsens aus kurzen Biographien etc. nennt Pinkster "annalistic" und führt Stellen wie Liv. 1, 44, 3 an, auch Tac. Ann. 13,1,1 gehört, wie ich meine, hierher.

Für die Übersetzung gilt also: Wenn man im Stile o.g. Autoren schreiben will, ist das Präsens an fraglichen Stellen kein Germanismus.
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon ille ego qui » So 13. Feb 2022, 13:23

gratias primas tibi ago!
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon ille ego qui » Mi 16. Feb 2022, 09:53

(Nebenbei bin ich mir - ob Buch oder Huhn oder Mensch ^^ - gar nicht sicher, ob "Erfolg haben" üblicherweise durch "felicem esse" ausgedrückt wird ... Marcus03? ;-) )
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Re: Historische Fakten im lateinischen Präsens?

Beitragvon cometes » Mi 16. Feb 2022, 16:02

Gibt es überhaupt ausschließlich im praesens tabulare gehaltene, längere Texte der Antike, also das Pendant zur Goethebiographie, die mit 1749 wird Goethe in Frankfurt geboren beginnt und mit Er stirbt in Weimar am 26. März 1832 endet? Neben den bei Pinkster zitierten Beispielen fällt mir noch die Inschrift am Scipionengrab ein, aber selbst die kommt nicht ohne Alternation mit (histor.) Perfekt aus. Von den alternativen Erklärungen für den Tempuswechsel mal abgesehen.
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