Vergil

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Re: Vergil

Beitragvon Lychnobius » Sa 26. Aug 2023, 12:55

ille ego qui hat geschrieben:Ob dort überhaupt der Vers "lenibant curas et corda oblita laborum" kommen soll, scheint textkritisch umstritten zu sein.

Die Edition von Conte (Berlin/Boston ²2019) hat den Vers als (im ersten Wort abweichende) Dublette zu 9, 225 in den Apparat verbannt. Der Vers fehlt in allen älteren Handschriften, die die Stelle überhaupt überliefern, und wird auch von Servius nicht kommentiert.

Will man den Vers dennoch beibehalten und als Subjekt zu lenibant nicht allein die pictae volucres ansehen, ergibt sich die Frage, welchen pecudes man die lacus late liquidos als Schlafstätte zumuten darf.
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Re: Vergil

Beitragvon cometes » Sa 26. Aug 2023, 13:21

Die grob charakterisierende Einteilung der volucres in Wasser- und Landvögel findet sich schon in vergleichbaren Versen von Lukrez II, 342ff.:

Praeterea genus humanum mutaeque natantes
squamigerum pecudes et laeta armenta feraeque
et variae volucres, laetantia quae loca aquarum
concelebrant circum ripas fontisque lacusque,
et quae pervolgant nemora avia pervolitantes …
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Re: Vergil

Beitragvon Sapientius » Sa 26. Aug 2023, 15:40

Der Aeneis fehlt bekanntlich die Endredaktion.
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Re: Vergil

Beitragvon Tiberis » Sa 26. Aug 2023, 16:04

Lychnobius hat geschrieben:ergibt sich die Frage, welchen pecudes man die lacus late liquidos als Schlafstätte zumuten darf.

ist das so schwer zu beantworten? :roll:
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Re: Vergil

Beitragvon Sokrates » Sa 26. Aug 2023, 19:01

Im Schülerkommentar von Freyer wird quaeque (mit korrespondierendem quaeque) nur auf volucres bezogen, darauf auch positae.
Im Kommentar von Pearse heißt es S. 437, dass man sich gedanklich ein tacent statt tacet denken kann, wenn der Vers 528 getilgt wird, was sich dann sowohl auf pecudes wie auch volucres bezieht. Weiter heißt es auf S. 438 zu quaeque: " That the division (as Lucr. 2, 344.46) is into water birds (cf. 7,32-34) and those of field and thicket is clear from positae in the next line; otherwise quaeque...quaeque might be construed as neuter and applied to indefinite animals", eine Möglichkeit, die ich abwegig finde.
Als Quasidublette wird 9, 224f angegeben: cetera per terras omnis animalia somno / laxabant curas et corda oblita pecorum. Dieses erneute Auftreten und die Tatsache, dass ein "first-rate manuscript support" fehlt, spricht für manche gegen den Vers, andere halten ihn als vorbereitend für das folgende Konstrastiv und aufgrund der Tempusgleichheit zu carpebant für harmonisch und rundend. Stat. Theb. I, 339-341 und Sen. Dial. 4,33,6 werden als ähnliche Formulierungen geboten. Die Interpunktion werde dann aber angepasst, etwa, indem mit pecudes ein neuer Satz beginnt, nach 527 ein Komma und nach 528 ein Kolon steht.
Pearse fährt fort, dass, entgegen der Meinung anderer, die Form lenibant sei zu außergewöhnlich für einen Interpolator, Vergil sehr wohl solche Formen gebraucht (mehrere Belegstellen), auch in 6, 468 gerade lenibat.
Kühner-Holzweissig S. 724f führen auch diese Stelle auf, Leumann hilft nicht. Michael Weiss, Outline of Historical and Comparative Grammar of Latin, 1st Ed. 2009, S. 414 Fußnote 15 führt auch Vergil 6, 468 als Beispiel an. Meiser, Historische Laut-und Formenlehre der lateinsichen Sprache, gibt an, dass diese Formen im Altlatein häufiger seien, aber die regulären schon dominierten, wohingegen Andrew Sihler, A New Comparative Grammar of Latin and Greek, S. 555 angibt: "in early Latin veni- is commoner than venie-. Lenibant ließe sich also problemlos rechtfertigen, auch passt bei entsprechender Interpunktion der Vers gut in den Kontext, aber ein nachklapperndes positae mit Punkt danach wäre auch denkbar, ohne dass Lenibant fehlen würde.
Was sagt der Kommentar von Binder 2019?
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Re: Vergil

Beitragvon Lychnobius » Sa 26. Aug 2023, 23:23

Sokrates hat geschrieben:Im Kommentar von Pearse heißt es S. 437, dass man sich gedanklich ein tacent statt tacet denken kann, ...

Was man aber nicht unbedingt tun sollte, da sich ja auch in klassischer Prosa bei mehrgliedrigen, nichtpersonalen Subjekten die Kongruenz des Prädikats überwiegend nach dem nächststehenden Subjekt richtet.
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Re: Vergil

Beitragvon Sapientius » So 27. Aug 2023, 09:41

Das Imperfekt ist vorherrschend: erat, carpebant, lenibant, quierant gehört auch in die Reihe ("war zur Ruhe gekommen"); es ist also keine narratio, sondern eine descriptio: ein Stimmungsbild, der Schlaf als Erquickung der Lebewesen.

Im Satzbau ist eine krasse Diskrepanz erkennbar; Es fängt an mit "Nox erat", das ist das Einfachste, was die Syntax hergibt; und mit et beginnt eine Konjunktion "A et B", und da hat das B eine extreme Ausbreitung über viele Zeilen.
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Re: Vergil

Beitragvon Sokrates » So 27. Aug 2023, 10:45

Ich würde aufgrund des Kontextes und der Verben, die vor allem zu Lebewesen passen, ager und pecudes/volucres nicht als mehrgliedrige Sachsubjekte (wie Dinge oder Abstrakta) sehen, sondern als belebte und agierende Entitäten. Eine solche Deutung der Subjekte als verlebendigte bzw. gar vermenschlichte oder eben in Vorbereitung auf den Gegensatz zu einem Menschen, nämlich Dido, formulierte, als Grundlage genommen, sind die einschlägigen Regeln (die allerdings Land-/Tierappellativa nicht in den Beispielen haben) in MBS § 252, 2 (a) und vor allem genereller in der Oxford Latin Syntax I, 13.5, iii), Beispiele n bis q, wonach das vorangehende Prädikat bei mehreren belebten Subjekten dem nächststehenden angeglichen ist (wobei ebenso auch Plural vorkommt, cf. die Beispiel r bis t a.a.O.!), nicht in Widerspruch zu der eigentlichen Idee von Pearse zu sehen, wenn diese nämlich gewesen sein dürfte, dass bei Tilgung des Lenibant ein Punkt vor silenti gesetzt wird und also das fehlende Verb zu pecudes/volucres im Vorfeld zu suchen ist.
Weiterhin ist denkbar, dass ager, pecudes, volucres nicht drei einfach beigeordnete Substantive sind, sondern Vergil im Stilmittel der poetischen Zerteilung einen Gesamtbegriff mit kollektiver Nuance mit den ihn spezifizierenden Einzelheiten, die eigentlich ein Teil derselben Vorstellung bilden, verbindet, indem er erst das Panorama der Landschaft vor Augen führt, deren Schweigen dann auf das Schweigen der sie bewohnenden Tiere zurückgeführt wird. Dann wäre ein tacet umso klarer, und rückwärts geschlossen Lenibant athetierbar. In jedem Fall ist quaeque nicht neutr.pl., sondern auf die Tiere bezogen, was auch positae bestätigt. Die Metrik hilft ebenso gut in textkritischen Fragen wie in grammatischen, aber nur bei fragwürdigen Stellen und nicht bei der Erklärung scheinbar unpassender oder inkorrekter Formulierungen, die man einem Dichter in der Tat nicht unterstellen sollte.
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Re: Vergil

Beitragvon Lychnobius » So 27. Aug 2023, 21:09

Ganz klar ist mir noch nicht, in welche Richtung deine Argumentation zielt. Denn unabhängig davon, ob man nun annimmt, dass der vorliegende Sachverhalt durch Burkard/Schauer § 253 (Subjekt aus mehreren Sachen), § 254, 4 (Subjekt aus Sachen und Personen) oder § 252, 2a (Prädikat steht vor personaler Subjektgruppe) beschrieben wird, kann man ja in jedem Fall sagen, dass Vergil beim Numerus des Prädikats tacet hier dem Sprachgebrauch der klassischen Prosa entsprechend verfährt.

Ersetzt man, wie angeraten, tacet gedanklich durch tacent, gelangt man also keineswegs zu einer Syntax, die im klassischen Latein besser belegt wäre.

Die Frage der Echtheit von Vers 528 wird hiervon, meine ich, allerdings nicht berührt, denn ein Punkt lässt sich, wie du gestern ausgeführt hast, nach silenti auch setzen, wenn man den Vers stehen lässt.
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Re: Vergil

Beitragvon Sokrates » So 27. Aug 2023, 22:40

Ich verstehe deine grundsätzlichen Bedenken gegen tacent, auch wenn es sich, unabhängig ob in Prosa oder Poesie, nicht ganz abdrängen ließe. Ich glaube aber vielmehr, dass ein Missverständnis des Kommentars vorliegt. Pearse argumentiert ja gerade nicht mit grammatischen Regeln der klassischen Prosa, sondern empfiehlt es uns als modernen Lesern mit anderem Sprachempfinden, das Prädikat im Plural zu [b]denken[b], um den Sinn der Stelle richtig zu erfassen. So deute ich jedenfalls seine Anmerkung. Dass Vergil als Römer das anders formuliert haben mag, ändert am Bezug wenig. Unter bestimmten Bedingungen kann im L ein mehrteiliges Subjekt eben mit Prädikat im Singular oder Plural stehen, unter bestimmten Bedingungen im D kann ein mehrgliedriges Subjekt sein Verb in Einzahl oder Mehrzahl haben, nur müssen das nicht dieselben Bedingungen sein.
Bemerkenswert nur ist, dass ein Vers, der zu Anfang der Diskussion noch zentral war, jetzt getilgt wird. Die Tatsache, dass er (wenigstens in älteren Editionen) trotzdem oft beigegeben wurde, scheint die Schwierigkeit der Stelle zu bestätigen.
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Re: Vergil

Beitragvon Zythophilus » So 27. Aug 2023, 23:04

Die Argumente, warum v. 528 athetiert wird, bringt Ille.
Wir haben drei Gruppen von Tieren: Zunächst ist es der ager, der bzgl. seiner Bewohner pecudes pictaeque uolucres konkretiert wird. Das Prädikat im Sg. erklärt sich durch die Apposition, die kein Prädikat im Pl. erforderlich macht. Die nächste Gruppe sind die Wassertiere (quaeque lacus late liquidos (tenent)), dann die Bewohner der Dornsträucher (quaeque aspera dumis/ rura tenent)
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Re: Vergil

Beitragvon Sokrates » Mo 28. Aug 2023, 01:12

Wohl kaum führen die Relativsätze andere Tiere an, sondern verorten die genannten Begriffe an verschiedene Stellen, unabhängig, ob sich die Relativpronomina (mit Freyer und Pearse) nur auf volucres beziehen. Die genannten Arten sollen hinsichtlich des Habitats näher bestimmt werden, daher das mitunter auch trennend verwandte -que ...-que i.S.v. oder, respektive. Ganz neue Tiere werden damit nicht umschrieben, wie auch die mir vorliegenden Übersetzungen vermuten lassen.

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Re: Vergil

Beitragvon Zythophilus » Mo 28. Aug 2023, 07:32

Eine Aufzählung hat sehr wohl den Sinn, Neues zu bringen. Wir haben Element 1 (ager mit seinen Tieren), dann das Element Wasser - lacus als Gegensatz zu ager -, dann das Wohngebiet aspera dumis/rura), weder Wasser noch offenes Land.
pecudes pictaeque uolucres, besonders der erste Begriff bezeichnet doch nicht Wassertiere, die lacus bewohnen.
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Re: Vergil

Beitragvon marcus03 » Mo 28. Aug 2023, 09:10

Zythophilus hat geschrieben:besonders der erste Begriff bezeichnet doch nicht Wassertiere, die lacus bewohnen.

Noch eine Idee:
quaeque = et eae, quae = und zwar, die ... und die ...
Ein quae meint die Wasser bewohnenden, das andere das Land bewohnende volucres.
Diese werden so nochmal differenziert.
Euere Meinung?
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Re: Vergil

Beitragvon Sokrates » Mo 28. Aug 2023, 11:01

Mit ager ist entweder jedes freie Feld oder das ganze Flachland gemeint, mit lacus liquidos sind wohl fließende und daher klare Gewässer (ob See mit Zu- oder Abfluss oder Fluss) beschrieben und mit aspera dumis rura das Dickicht eines Buschlands. Auch wenn diese Begriffe sich tatsächlich gut auf eine Stufe stellen lassen, passiert genau das nicht. Vorher ist ja in größerer Skalierung vom Land (als Kontinent), von der See und den Sternen die Rede, dann vom gesamten ebenen Land, und der Lebensraum Gewässer bzw. ländliche Wildnis wird verschiedenen Arten von Vögeln zugeteilt, die damit besonders betont werden. Pecudes, die im Georges an dieser Stelle als Landtiere, nach anderen Übersetzungen eher mit Herden von Kleinvieh zu verstehen sind, scheint tatsächlich gegenüber pictae volucres unterzugehen und nicht weiter ausgeführt zu werden, indem sich (den mir vorliegenden Kommentaren nach eindeutig und den Übersetzungen nach zumindest als Deutungsvariante) quaeque auf volcures bezieht, genau wie marcus es beschreibt. Es ist ja nirgends gesagt, dass sie (oder die pecudes) i m Wasser leben. Quaeque hart von volucres zu trennen und ohne rechten Bezug zu lassen, damit es neue Arten einführt, passt für mich nicht ganz in den Zusammenhang, man vergleiche nochmals die Lukrezstelle, die Lychnobius anführt. Ausschlie0en lässt sich die andere Auffassung natürlich nicht. Klärung erhoffe ich mir, wie gesagt, vom ausgezeichneten Binder-Kommentar, den ich nicht zur Hand habe.

LG
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Zuletzt geändert von Sokrates am Mo 28. Aug 2023, 11:04, insgesamt 1-mal geändert.
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