Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon Sternenkind » Sa 18. Mär 2023, 11:21

Guten Morgen,

Ich überlege, ob es sich bei "fuerimus" um ein Futur 2 oder einen Konjunktiv Perfekt (Potentials) handelt, wobei ich eher zum Futur 2 tendiere. Was meint ihr? Vielen Dank im Voraus für eure Hilfe.

An eum, qui et aliis et sibi monstrat,
quam nihil nobis natura durum ac difficile imperaverit:
posse nos habitare sine marmorario ac fabro,
posse nos vestitos esse sine commercio sericorum,
posse nos habere usibus nostris necessaria,
si contenti fuerimus iis,
quae terra posuit in summo?
Quem si audire humanum genus voluerit,
tam supervacuum sciet sibi cocum esse quam militem. [...]

(Ad Lucilium, Brief 90)
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon marcus03 » Sa 18. Mär 2023, 11:30

Sternenkind hat geschrieben:oder einen Konjunktiv Perfekt (Potentials) handelt

Den würde ich hier annehmen wollen:

falls wir zufrieden sein könnten mit dem,was
(Wir sind es erfahrungsgemäß meist nicht, gedachte Möglichkeit)

vgl:
or the one who proves to others, as well as to himself, that nature has laid upon us no stern and difficult law when she tells us that we can live without the marble-cutter and the engineer, that we can clothe ourselves without traffic in silk fabrics, that we can have everything that is indispensable to our use, provided only that we are content with what the earth has placed on its surface?
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon iurisconsultus » Sa 18. Mär 2023, 13:48

Ich glaube, diese Frage lässt sich in solchen Fällen nicht entscheiden. Sie ist aber wohl auch akademischer Natur, weil es für die Übersetzung keinen relevanten Unterschied macht: wenn wir uns begnügen (würden).
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon marcus03 » Sa 18. Mär 2023, 14:27

iurisconsultus hat geschrieben:wenn wir uns begnügen (würden).

Das wäre ein Irrealis, wobei würde auch im Sinn von würde wohl (= Potentialis) anzutreffen ist.
Wie willst den das Futur II erklären, die gedachte, vollendete Zukunft?
"Wenn wir uns begnügt haben werden" hieße, dass es dann vorbei ist.
Die Zufriedenheit soll doch nicht enden.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon iurisconsultus » Sa 18. Mär 2023, 15:04

Es stimmt schon Markus, für ein Futur II spricht an der Stelle nichts. Für die Übersetzung hat es aber trotzdem wenig Bedeutung.

Nach neuerlicher Überlegung könnte man den Konjunktiv wohl auch konsekutiv deuten: falls wir von der Art sind, dass wir uns begnügen ... In der Übersetzung steht dann wiederum schlicht der Indikativ Präsens (wenn wir uns begnügen) - genau wie beim Futur II.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon Sternenkind » Sa 18. Mär 2023, 15:17

Ich würde mir das Futur 2 so erklären, dass "monstrare" von der Bedeutung her einem Futur 1 entsprechen könnte. Uns wird etwas gezeigt -> Wir werden es beherrschen

Aber vielleicht ist das auch zu weit hergeholt :roll:
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon marcus03 » Sa 18. Mär 2023, 15:30

iurisconsultus hat geschrieben:Für die Übersetzung hat es aber trotzdem wenig Bedeutung.

Die ÜS ist nicht das Entscheidende und kein Kriterium, sondern die Erklärung im Lateinischen
ist zu finden.
Dass wir F II kaum wörtlich übersetzen, erklärt nicht, warum es oft im Lat. stehen muss (consec.
temporum, die wir im Dt. so stringent nicht haben).

iurisconsultus hat geschrieben:Nach neuerlicher Überlegung könnte man den Konjunktiv wohl auch konsekutiv deuten: falls wir von der Art sind, dass wir uns begnügen

Dann müsste aber Konj. Präsens stehen.
Zudem: Konsekutivität im Si-Satz?
:?

falls wir von der Art sind, dass wir uns begnügen

= si ii sumus/simus, qui contenti simus
Das kann also m.E. auch keine Erklärung sein.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon Sapientius » Sa 18. Mär 2023, 19:45

Ich denke, es handelt sich hier um indirekte Rede, abh. von monstrat, und die Konjunktive sind dadurch bedingt; Kj. Perf. wegen Vorzeitigkeit.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon marcus03 » So 19. Mär 2023, 08:30

Sapientius hat geschrieben:Ich denke, es handelt sich hier um indirekte Rede, abh. von monstrat, und die Konjunktive sind dadurch bedingt; Kj. Perf. wegen Vorzeitigkeit.

a) Welchen Sinn macht Vorzeitigkeit?
b) Dann müsste posuit auch im Konjunktiv stehen, Relativsatz in der o.o.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon Sapientius » So 19. Mär 2023, 09:44

a) es iat eine Voraussetzung,
b) posuit steht außerhalbt der o.o.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon marcus03 » So 19. Mär 2023, 14:54

Hodie utrum tandem sapientiorem putas qui invenit quemadmodum in immensam altitudinem crocum latentibus fistulis exprimat, qui euripos subito aquarum impetu implet aut siccat et versatilia cenationum laquearia ita coagmentat ut subinde alia facies atque alia succedat et totiens tecta quotiens fericula mutentur, an eum qui et aliis et sibi hoc monstrat, quam nihil nobis natura durum ac difficile imperaverit, posse nos habitare sine marmorario ac fabro, posse nos vestitos esse sine commercio sericorum, posse nos habere usibus nostris necessaria si contenti fuerimus iis quae terra posuit in summo?

Ich sehen kein o.o.,nur AcIs.
Der letzte Relativsatz müsste im Konj. stehen.

a) es iat eine Voraussetzung,

Die aber in der Gegenwart gilt. Wenn die Zufriedenheit vorüber ist. trifft die Aussage nicht mehr zu.
Daher macht Perfekt für mich keinen rechten Sinn.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon Sapientius » Mo 20. Mär 2023, 09:04

Ich sehen kein o.o.,nur AcIs.


Marce, das regierende Verb ist monstrat, ein verbum dicendi, und es regiert die ACIs, eine klare Sache, denke ich; beim Perfekt ist an die durative Bedeutung zu denken, wie bei "Er ist gestorben".

Der Relativsatz in der o.o. steht im Kj., ja, und der Kehrsatz lautet: "Wenn ein Retaivsatz im Indikativ steht, dann steht er nicht in der o.o."; das haben wir hier.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon marcus03 » Mo 20. Mär 2023, 09:29

Sapientius hat geschrieben:beim Perfekt ist an die durative Bedeutung zu denken, wie bei "Er ist gestorben".

Das kann ich mir hier kaum vorstellen.

Sapientius hat geschrieben:"Wenn ein Retaivsatz im Indikativ steht, dann steht er nicht in der o.o."; das haben wir hier.


8. Relativsätze
a) Relativsätze sind im Normalfall indikativisch.
b) Relativsätze sind konjunktivisch in den folgenden Fällen:
• als Teil einer indirekten Rede (dann innerlich abhängig;


https://www.altphil.uni-freiburg.de/dow ... cticum.pdf
Der quae-Satz gehört doch zum AcI.
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon Sokrates » Mi 26. Apr 2023, 13:31

Salvete,

zunächst kann man die Konstruktion auf das Wesentliche beschränken und dieses Gerüst dann analysieren:

a) qui monstrat,
b) quam nihil nobis natura durum et difficile impetraverit,
c) posse nos habitare sine (...),
d) si contenti fuerimus.

b hängt als indirekter Fragesatz vom Zeigeverb in a direkt ab, d hängt direkt von c und gedanklich vielleicht vom ganzen Nebensatzkomplex ab, die Frage ist, wie c zu a und b steht.
In b monstro ich zeige, lehre, weise darauf hin
Impero anbefehlen, auferlegen, zumuten

In b kann entweder quam alleine stehen (eher „in welcher Weise“ als „in welchem Grad“) und nihil ist Bezugswort zu den Adjektiven durum et difficile, die wegen der Alliteration der N- und D-Laute in Sperrung stehen, sodass man übersetzen kann: der zeigt, wie die Natur uns nichts Hartes und Schwieriges anbefohlen hat...≈ welch geringe Härte und Mühe uns die Natur auferlegt hat.
Oder quam nihil gehört zusammen, wobei nihil adverbialer Akkusativ ist (Maß mit totaler Negation: „in welchem Grade überhaupt nicht/in keiner Hinsicht“, wie sehr gar nicht (cf. Georges s.v. quam: quam nihil (wie wenig wert) sit omnino, Cic und Cic.: quam nihil est totus homuncio! wie so gar nichts, Petron.: quam nihil praetermittis in consilio dando!), dann sind die Adjektive substantiviert und alleinige Objekte, also ungefähr: der uns darauf hinweist, wie die Natur uns gar nicht eine Härte und Schwierigkeit auferlegt hat…

Der Teil c kann nun entweder direkt von a abhängen und wäre dann einfach asyndetisch und variierend mit dem indirekten Fragesatz syntaktisch auf einer Ebene, oder er kann von b abhängen.
Um von b abhängig zu sein, müssten die AcIs als Akkusativobjekt von impetraverit abhängen, die Adjektive wären dann nur prädikativ dazu vorgeschaltet, also: der uns zeigt, als wie wenig Hartes und Schwieriges es uns die Natur befohlen hat, dass wir ohne (…) leben können.
Diese Deutung halte ich für abwegig und konstruiert.

Vielmehr ist c direkt von a abhängig, aber nur syntaktisch. Semantisch bilden die AcIs einen anderen Gedanken ab als der indirekte Fragesatz, der unabhängig ja ein Ausrufesatz war. Entweder begründet c b oder spezifiziert es: wie wenig Härte uns die Natur auferlegt hat, weil wir doch ohne (…) leben können ≈ wenn wir doch leben können, kausal. Oder restriktiv-limitativ: immerhin können wir ja leben, angesichts der Tatsache, dass wir doch leben können.
Die Loeb-Übersetzung von marcus benutzt ein „when“, was sowohl quasikausal wie erläuternd betrachtet werden kann.
Gerhard Fink sieht c als Folge von b, was mir nicht einleuchtet, und schreibt „wie die Natur uns nichts Hartes und Schwieriges auferlegt hat, so dass wir ohne Marmorkünstler und Bauhandwerker wohnen können (…), Seneca Briefe an Lucilius II, Sammlung Tusculum, S. 205.

Wenn b und c aber wenigstens syntaktisch beigeordnet sind und beide von a abhängen, ist eine innere Abhängigkeit von a gegeben. Sowohl quam in indirekter Frage als auch quam nihil in indirekter Rede (cf. Georges s.v. quam II, a α, in der indirekten Rede nennt) als auch ein AcI nach monstrare werden als Gedanken des Redenden empfunden. Eine Bedingung für die Überlebensfähigkeit wird nachgeliefert (an der es ja gerade mangelt), nämlich die Zufriedenheit und Genügsamkeit. Als Teil des Gedankens steht hier der Coni. obl. und zwar im Perfekt der Vorzeitigkeit, weil dieser Wandel eben stattgefunden haben muss, also durchaus mit Aspektbedeutung „wenn wir denn einmal die innere Haltung der Genügsamkeit entwickelt haben, d.h. uns mit dem Nötigsten abgefunden haben.“ Ein vorzeitiger Nebensatz im Konjunktiv, der von einem AcI mit Haupttempus-HS abhängt, steht eben im Konj. Perfekt. Die Vorzeitigkeit erklärt sich aus dem abgechlossenen Erreichen eines Zustandes, die Tempuswahl folgt der Consecutio temporum.
Im Englischen ist die Vorzeitigkeit in der Phrase provided only, that impliziert, Fink wählt Präsens.
Ein Futur scheidet also angesichts der inneren Abhängigkeit aus. Ohne innere Abhängigkeit wäre ein präsentischer HS mit AcI mit „futurischem“ posse und dann Gliedsatz mit Futur II vielleicht vorstellbar, aber kaum in diesem Kontext.
Unabhängig könnte es heißen: Possumus habitare, si contenti fuerimus. Ein HS als Prophetie, futurisch gemeinte Aussage mit zukünftig vorzeitigem GS, entweder weil das Fut II eine starke Sicherheit der Aussage bedeutet oder den Aspekt der Abgeschlossenheit der Ausbildung einer neuen Geisteshaltung kennzeichet. In Abhängigkeit von monstrare könnte der GS sich dann in der Form präsentieren, die auch unabhängig vorläge. Also genau monstrat posse nos habitare, si contenti fuerimus. Ein Futur II ließe sich also sowohl von einem futur. AcI (Vorzeitigkeit zu einer Zukunft) als auch von einem präsentischen HS monstrat aus rechtfertigen (Aspekt), wenn man den Indikativ annimmt. Dass der Relativsatz im Indikativ Perfekt steht, liegt daran, dass er als paraphrasierender Relativsatz, der eine Erläuterung bzw. eine Beschreibung aus der Außensicht gibt, gedanklich nicht zur abh. Aussage gehört.

Liebe Grüße
Sokrates
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Re: Frage zu Tempus / Modus bei Seneca

Beitragvon Sapientius » Do 27. Apr 2023, 08:28

a) qui monstrat,
b) quam nihil nobis natura durum et difficile impetraverit,
c) posse nos habitare sine (...),
d) si contenti fuerimus.


Hallo Sokrates,

man kann so an den Satz herangehen, zertrümmern, vierteilen und dann wieder zusammensetzen. Zur Ergänzung empfiehlt sich das umgekehrte Verfahren, von den Einheiten ausgehen. Da möchte ich einwenden, (c - d) sind ein ungeteiltes Ganzes, ein konditionales Gefüge, mit einer Interdependenz der Teilsätze, mit genau festgelegter Verteilung der Wahrheitswerte; man kann das gar nicht auflösen.

Ebenso ist monstrat als regierendes Verb mit seinem Anhang ein ungeteiltes Ganzes; dieses zeigt sich in den Satzkonstruktiionen der abh. Sätze: ACI und obliquer Konjunktiv.

Analytisches und synthetisches Vorgehen ergänzen sich, Linguistik und Logik; Sokrates, die Philologen wollen von beiden möglichst nichts wissen; aber wenn sie sich verhaspeln, dann kommt unsere Gelegenheit (Smilie).

Liebe Grüße
S.
Sapientius
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