Sezession

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Sezession

Beitragvon Sapientius » Mo 9. Sep 2024, 15:19

"Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit".


"Temporibus ars propria,
arti libertas propria (danda est)".

Oder lieber sing. "tempori"? Oder "ars sua", "libertas sua"? Oder "postulanda est" oder "concedenda est"?
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Re: Sezession

Beitragvon marcus03 » Mo 9. Sep 2024, 16:17

Ich nähme aetati.
Vorschlag:
Aetati cuique sua ars propria, arti cuique sua libertas propria.

Im Altgriechischen wäre es ein Fall für ἐπιεικὴς:
Τῇ ἑκάστῃ ἡλικίᾳ ἡ αὐτῆς ἐπιεικὴς τέχνη, τῇ ἑκάστῃ τέχνῃ ἡ ἐπιεικὴς αὐτῆς ἐλευθερία.

KI-Kommentar:
"Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit" ist ein berühmtes Motto der Wiener Secession, einer Künstlervereinigung, die 1897 gegründet wurde. Der Satz drückt das Anliegen der Gruppe aus, sich von traditionellen Kunststilen zu lösen und neue Ausdrucksformen zu finden, die mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten ihrer Zeit in Einklang stehen.

Er bedeutet in etwa, dass jede Epoche ihre eigene Kunstform haben sollte, und dass die Kunst frei sein sollte, sich ohne Einschränkungen zu entfalten.
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Re: Sezession

Beitragvon Sapientius » Mi 11. Sep 2024, 08:18

Wenn wir grammatisch an den Satz herangehen (wie es unser Metier ist), stellen wir fest: es fehlt ein Prädikat, die Leitungszentrale ist unbesetzt, ein Schiff ohne Steuermann; ob "ihre Kunst", "ihre Freiheit" Subjekt oder Objekt ist, ist nicht feststellbar; ist es eine Aussage, eine Forderung, ein Wunsch, eine Möglichkeit? Das Ganze befindet sich in einer Schwebestellung, ein Anreiz zum Weiterdenken.
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Re: Sezession

Beitragvon marcus03 » Mi 11. Sep 2024, 09:48

Gewöhnlich kann in solchen Fällen EST ausfallen bzw. fällt oft aus.
Das würde auch hier Sinn machen.
Auch ein Wunsch oder ein Iussiv (SIT) macht Sinn als Motto
oder Motivation. Dann müsste es aber dastehen. Oder man macht ein Aufrufezeichen.
Dass es ein Motto ist, kann man hier lesen:

https://parkstone.international/2012/07 ... -freiheit/

https://camera-austria.at/2018/01/seces ... -freiheit/
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Re: Sezession

Beitragvon Tiberis » Mi 11. Sep 2024, 12:49

"Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit".
aetati sua cuique sit ars, arti sua cuique libertas.
Es handelt sich hier offensichtlich um eine Forderung bzw. einen Wunsch, daher sollte sit stehen.
(propria ist m.E. überflüssig)
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Re: Sezession

Beitragvon marcus03 » Mi 11. Sep 2024, 14:03

Tiberis hat geschrieben:(propria ist m.E. überflüssig)

Zur Betonung?? die ihre ganz eigentümliche/typische ??
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Re: Sezession

Beitragvon ille ego qui » Mi 11. Sep 2024, 14:18

Es handelt sich hier offensichtlich um eine Forderung bzw. einen Wunsch, daher sollte sit stehen.


Willst du damit sagen, dass du keine Ellipse machen würdest?
Eine solche würde ich nicht für unmöglich halten.
Vgl. Suum cuique u.Ä.
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Re: Sezession

Beitragvon Tiberis » Mi 11. Sep 2024, 20:34

ille ego qui hat geschrieben:Willst du damit sagen, dass du keine Ellipse machen würdest?

nein, das will ich nicht sagen, aber für eine Ellipse sollte das Ganze dann doch etwas kürzer formuliert werden, z.B.:
aetati sua ars, arti sua libertas
(was ja die wörtliche Übersetzung wäre)
:)
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Re: Sezession

Beitragvon Sapientius » Sa 14. Sep 2024, 09:42

Als literarische Gattung ist es ein echtes Epigramm, eine Inschrift auf einem Bauwerk, und als solches muss es kurz und doch vielsagend sein.
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Re: Sezession

Beitragvon marcus03 » Sa 14. Sep 2024, 11:30

Sapientius hat geschrieben:und als solches muss es kurz und doch vielsagend sein.

Oder kryptisch ?
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Re: Sezession

Beitragvon Zythophilus » Sa 14. Sep 2024, 16:35

Ich fahre täglich zwei Mal beinahe daran vorbei - vor dem Sommer war mein Weg noch direkter, allerdings unterirdisch - und weise auf die lateinische Inschrift hin, die vom Betrachter aus links vom Eingang des Secessionsgebäudes steht: VER SACRUM.
Natürlich ist zunächst die Kunst allgemein gemeint, doch es ging den Vertretern der Secession, die den Bau ja finanzierten um einen Raum, wo sie ihre Arbeiten ausstellen konnten, weil sie den am Künstlerhaus vorherrschenden Konservatismus und Historismus vertretenen Kunstbegriff ablehnten und auch von dort abgelehnt wurde. De facto heißt die Devise auch "unserer Kunst, die eben für sie die Kunst der Zeit war, ihre Freiheit".
Das Gebäude der Wiener Secession nennt man übrigens etwas despektierlich "Krauthappel" (Kohlkopf), weil die Kuppel aus vergoldeten Blättern aus Schmiedeeisen daran erinnert. Den Ausdruck "Assyrische Bedürfnisanstalt" habe ich allerdings auch jetzt erst in Wikipedia gefunden.
Für den Lateiner interessant ist die Skulptur des Mark Anton, der im von einem Löwengespann gezogenen Triumphwagen sitzt. Die Bezeichnung „Löwenfiaker“ habe ich freilich auch nicht gekannt.
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Re: Sezession

Beitragvon Sapientius » So 15. Sep 2024, 17:48

Es geht um drei feminine Abstrakta, Kunst wird zu den beiden anderen in Beziehung gesetzt, und zwar durch possessive Pronomina und den Dativus commodi oder finalis.

Wenn man die beiden Teilsätze in einen übergreifenden Zusammenhang stellt, kann man sagen: "Zeit" als Basis der Kunst entspricht der Tendenz der Moderne, im Gegensatz zur Klassik, die sich am Überzeitlichen orientierte. Das Gute, das Wahre, das Schöne bilden die platonische Trias.

Ebenso die Tendenz zur Freiheit oder Befreiung. Diese ist nicht ganz unproblematisch: die Kunst will nicht "gebunden" sein, aber sie muss "eingebunden" sein, sonst wird sie belanglos: "Ist das Kunst, oder kann das weg?".
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Re: Sezession

Beitragvon Zythophilus » Mo 16. Sep 2024, 06:36

Dass die drei Wörter feminin sind, ist Zufall. Auch die platonische Trias mag stimmen, lässt sich aber nicht nachweisen. Versteht man "Kunst" seitens der Secession wirklich so? Zeit mag die Voraussetzung für Kunst bzw. das, was man in der Secession darunter* sah, sein, doch grenzte man sich so von den anderen Strömungen ab, die man wie den Historismus eben nicht als Kunst betrachtete.
Eine spontane Suche auf google nach ars und aetas (jeweils in mehreren Kasus) bringt keine Ergebnisse. Vielleicht ist das Wort für die Antike ars auch nicht ganz richtig, weil es doch auch die Bereiche "Handwerk" und "Technik" umfasst, die man heutzutage von "Kunst" trennt, und man würde eher Musae schreiben.

* Unter der Secession fließt der seit gestern stark angeschwollene Wienfluss in sicherer Tiefe.
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Re: Sezession

Beitragvon Sapientius » Mo 16. Sep 2024, 17:02

Dass diese Epoche, die von Verfall und Untergang geprägt war, den Jugendstil hat hervorbringen können, ist staunenswert.
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Re: Sezession

Beitragvon Lychnobius » Mo 16. Sep 2024, 21:20

An sich ist es ja eine ganz nette Paradoxie, wenn Max Burckhard in seinem Manifest im ersten Heft des Ver Sacrum den eigenen Modernismus aus der Rückbindung an eine frührömische Institution entwickelt und die Wahl der (offenbar auch in Abgrenzung zur Münchner Secession gesuchten) Selbstbezeichnung durch einen ausführlichen Ausflug in die römische Altertumskunde begründet:

Wenn im alten Rom die Spannung, welche wirtschaftliche Gegensätze stets hervorrufen, einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, dann geschah es wiederholt, dass der eine Theil des Volkes hinauszog auf den Mons sacer, auf den Aventin oder das Janiculum, mit der Drohung, er werde dort im Angesichte der alten Mutterstadt und den ehrwürdigen Stadtvätern gerade vor der Nase ein zweites Rom gründen, falls man seine Wünsche nicht erfülle. Das nannte man Secessio plebis. Die ehrwürdigen Stadtväter waren gescheite Leute, sie schickten dann einen biederen Vermittler zu den Secessionisten, versprachen viel und hielten wenig – und die Secessio plebis war beendet.
Wenn aber eine grosse Gefahr dem Vaterlande drohte, dann weihte das gesammte Volk alles Lebende, das der nächste Frühling brachte, den Göttern als heilige Frühlingsspende – VER SACRUM, und wenn die im heiligen Frühling Geborenen herangewachsen waren, dann zog die jugendliche Schar, selbst ein heiliger Frühling, hinaus aus der alten Heimatstätte in die Fremde, ein neues Gemeinwesen zu gründen aus eigener Kraft, mit eigenen Zielen.
Und weil die Künstlerschar, welche sich freiwillig losgelöst hat aus alten Beziehungen, eine neue selbständige Künstlervereinigung in Wien zu gründen, nicht darum aus dem alten Verbande geschieden ist, weil sie irgendwelche wirtschaftliche Begünstigungen anzustreben hätte, nicht zu dem Zwecke, um mit Concurrenz zu drohen, um Zugeständnisse zu erhalten oder um sich durch einen modernen Menenius Agrippa hinterdrein wieder beschwatzen zu lassen, hat sie auch nicht durch den Namen „Secession“ an die Ursachen, Ziele und den – Ausgang der alten Secessiones plebis erinnern wollen.
Weil sie vielmehr nicht ihre persönlichen Interessen, sondern die heilige Sache der Kunst selbst für gefährdet erachtet hat und in weihevoller Begeisterung für diese jedes Opfer auf sich zu nehmen bereit war und bereit ist, und nichts will, als aus eigener Kraft ihre eigenen Ziele erreichen, darum hat sie sich unter das Zeichen des VER SACRUM gestellt. Der Geist der Jugend, der den Frühling durchweht, er hat sie zusammengeführt, der Geist der Jugend, durch welchen die Gegenwart immer zur „Moderne“ wird, der die treibende Kraft ist für künstlerisches Schaffen, er soll auch diesen Blättern den Namen geben im Sinnbilde des VER SACRUM.

VER SACRUM
heiliger Weihefrühling, es ist ein gutes Wahrzeichen, unter dem der neue Künstlerverband ins Leben tritt: die Entstehung des ewigen Rom, der Stadt der Künste und der Kunst, wird ja auch zurückgeführt auf ein VER SACRUM.

(Ver Sacrum, Heft 1, Januar 1898, S. 1–3)

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