"in quaerendo"

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Beitragvon romane » Mi 23. Nov 2005, 20:14

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Beitragvon Willimox » Mi 23. Nov 2005, 20:35

O Romane miserande
(Passivischer Gebrauch der Gerundivs eines Deponens)

Oje, das tut aber weh, was die Männchen da machen.

Vielleicht sollten sie besser das "agressus" in der Deponentienliste mit zweitem "r" versehen und auf diese produktive Weise Auto-Aggressionen abbauen?

P.S.
Das Argumentum - wohl als "reductio ad absurdum" gemeint -

romane hat geschrieben:ab heute frage ich mich in meinem Unterricht : was tust du da eigentlich...


ist nicht so wahnsinnig stichhaltig. Es geht in keiner Weise darum, hier eine alleinseligmachende didaktische Überlegung zu propagieren und andere Ansätze abzuwerten. :)
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Beitragvon romane » Mi 23. Nov 2005, 20:39

warum nicht ? !
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Beitragvon Willimox » Mi 23. Nov 2005, 20:46

Ganz recht,

die Headbanger-Männchen sollten das zweite "r" schon reinsetzen.

Und bei der Gelegenheit noch im Gerund/Gerundivteil das

    relinquere zum Inhaltlassen


nach Maßgabe ihres Herrn überarbeiten.
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Beitragvon Tiberis » Mi 23. Nov 2005, 21:19

eine futurische Handlung ist eher selten eine zwingende Handlung.

ich würde sagen: ist nicht immer eine zwingende handlung.

aber:" liber legendus est " drückt die bestimmtheit, daß das buch gelesen werden wird, so sehr aus,daß sich, wie ich meine, der charakter der zwangsläufigkeit ergibt.
eine "occasio iter faciendi" und gleichbedeutend "occasio itineris faciendi" wäre dann fast eine "contradictio in adiecto"

ich halte diese "gleichbedeutung" für eine scheinbare , jedenfalls aber sekundäre.
spes victoriae adipiscendae ist zuallererst einmal die hoffnung auf den sieg. in weiterer folge: der sieg wird/muß errungen werden.
spes victoriam adipiscendi ist vor allem die hoffnung, etw. zu erlangen/erringen (könnte ja auch der friede z.b. sein)
das ergebnis ist scheinbar - und auch de facto - das gleiche, dennoch bleibt der gedankliche ansatz ein anderer.
b) Am Infinitivansatz scheint mir folgendes interessant zu sein:
> Er nutzt die deutsche Möglichkeit von Gerund und Gerundiv (die gibt es tatsächlich, die zwei im Deutschen):
Die Aufgabe ist zu bearbeiten ... In der zu bearbeitenden Aufgabe ..

ich glaube nicht, daß dieser verweis aufs deutsche hilfreich ist, das wesen der lateinischen gerundiale wirklich zu verstehen. nur weil z.b. im deutschen das gerundiv u.u. auch durch einen infinitiv übersetzt werden kann (wie sieht es denn in anderen sprachen aus?) , darf man deshalb ja nicht annehmen, daß es (im lat.) irgendwas mit einem infinitiv zu tun habe.
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Beitragvon Willimox » Mi 23. Nov 2005, 22:01

Hm, schön, scharfsinnige Diskurse zu genießen.

(a)

Liegt nicht doch allein in

occasio itineris faciendi

ein gewisser Widerspruch vor, insofern eine Option mit einem Zwang kombiniert wird?

Und - wenn das Gerundiv die necessitäre Färbung hat und das Gerund eher nicht - , warum dann der obligatorische Ersatz des "Gerunds mit Objekt" durch Gerundiv bei Dativkonstuktionen oder nach Präpositionen? Sticht hier ein Deutlichkeitskriterium ein semantisches Kriterium?

Wie erklärt man einen "dolor vix ferendus"?

Wie erklärt sich, dass Deponentia plötzlich ein passivnahes (Partizip Präsens Passiv) Muster annehmen, obwohl sie doch gar nicht passivfähig sind?

Vielleicht doch, weil das Gerund und das Gerundiv eben vor allem die Verbalhandlung und deren logisches Objekt präsentieren?

(b)

Ein hinreichender Grund für eine Übersetzung mit Infinitiv könnte eine Nähe zwischen Zielsprache und Ausgangssprache sein. Das Wesen der lateinischen nd-form muss also in dieser Perspektive gar nicht infinitivnah sein. Es genügte, wenn der Schüler ein schlüssiges Grundrezept in der Hand hat, das zu sinnvollen Ergebnissen führt. Also sowas wie: Bei nd-formen versuche die Rohübersetzung mit "zu+Infinitiv".

Aber strukturell-systematisch liegt tatsächlich eine - sit venia verbo - infinitiv-adjektivnahe Bauweise vor:

lauda - re
lauda - nd - i
lauda - nd - o
lauda - re
lauda - nd -um (in der Linguistik umstritten, ob als Gerund zu klassifizieren
lauda - nd - o

Das "nd-Infix" nimmt die Position des "re" ein, ist also Infinitiv-signal, dann folgt die Kasusendung/das KNG~Zeichen.

Demgegenüber hat das Gerundiv dann eben "nur" noch dazu die KNG-Zeichen aller drei Geschlechter.

lauda - nd - us/a/um
lauda - nd - i/ae/i
lauda - nd - us/a/um

usw

Vale
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Beitragvon Tiberis » Mi 23. Nov 2005, 23:39

irgendwie erinnert mich diese debatte an ein schachspiel :D
da gibts doch so eine eröffnung, wie heißt sie doch gleich? - hinterindisch? oder hinterlistig? hinterlinguistisch? - :lol: egal. derzeit scheint es ohnehin auf ein remis hinauszulaufen.
Liegt nicht doch allein in
occasio itineris faciendi
ein gewisser Widerspruch vor, insofern eine Option mit einem Zwang kombiniert wird?

scheinbar ja, tatsächlich nein.
occasio itineris > die gelegenheit zu einer reise ist die option
itineris faciendi > die reise wird/muß gemacht werden (der "zwang")
heißt also: wenn die option "ausgeübt" wird, wenn die gelegenheit zur reise wahrgenommen wird, dann muß diese reise auch tatsächlich durchgeführt werden.
die aussage des gerundivs, daß es sich um eine durchzuführende reise handelt, bleibt logischerweise auch bei nichtausübung der option aufrecht.
ein vergleich: wenn ich die option habe auf den erwerb von 100 aktien des unternehmens XY, heißt das ja auch, daß die 100 aktien für mich "zu erwerbende"sind, wenn ich mich entscheide, diese option auszuüben. lasse ich hingegen die option verfallen, verzichte ich eben auf das "recht auf die(im falle der ausübung) zu erwerbenden aktien".
Wie erklärt man einen "dolor vix ferendus"?

auf ähnliche weise wie einen "dolor ferendus". :)
dolor ferendus > ein schmerz, der ertragen werden wird= der erträglich ist=den man(normalerweise ganz einfach) ertragen muß = von dem man jetzt schon sagen kann, daß man ihn jedenfalls ertragen wird können usw.
Ein hinreichender Grund für eine Übersetzung mit Infinitiv könnte eine Nähe zwischen Zielsprache und Ausgangssprache sein. Das Wesen der lateinischen nd-form muss also in dieser Perspektive gar nicht infinitivnah sein. Es genügte, wenn der Schüler ein schlüssiges Grundrezept in der Hand hat, das zu sinnvollen Ergebnissen führt. Also sowas wie: Bei nd-formen versuche die Rohübersetzung mit "zu+Infinitiv".

einverstanden. eine durchaus praktikable lösung.


Aber strukturell-systematisch liegt tatsächlich eine - sit venia verbo - infinitiv-adjektivnahe Bauweise vor:

lauda - re
lauda - nd - i
lauda - nd - o
lauda - re
lauda - nd -um (in der Linguistik umstritten, ob als Gerund zu klassifizieren
lauda - nd - o


wieso statt dem üblichen infinitiv-"signal" -re in den casus obliqui ausgerechnet das -nd-infix dessen funktion übernehmen soll, ist tatsächlich die frage. ich könnte mir gut vorstellen, daß es sich hierbei bloß um eine sekundäre, also nachträglich angeeignete, funktion handelt.
ich muß aber zugeben,daß ich mich mit der historie des gerundiums noch nicht auseinandergesetzt habe.

vale !
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Beitragvon Martialis » Do 24. Nov 2005, 02:39

Confusio maxima, carissime Martialis?


In der Tat, Willimox.

Ich grüble nach, warum wohl du glaubst, dieses Forum belehren zu sollen.

Lyons und der neue Menge stehen auch uns zur Verfügung.

Hmm...

Sapere atque non sapere videris.

:)
Martialis
 

Beitragvon Willimox » Do 24. Nov 2005, 08:29

Carissime, Martialis,

ich bedauere, dass solche Versuche zu nd-formen als Belehrung rüberkommen. Klar, es gibt signale darin, die man als entsprechende Indizien lesen kann.

Die Überlegungen sind aber gewiss nicht mit geschütteltem Zeigefinger geschrieben und auch das Imponiergehabe liegt ihnen eher fern.

Mich fasziniert von der Sache her das Gerund/Gerundiv-Problem und es interessieren mich die fachwissenschaftlichen und die daraus abgeleiteten didaktisch-methodischen Modelle. Und dabei dann wieder die Interferenzphänomene von Latein und Deutsch.

Einer der letzten Didaktiker, der den Infinitiv-Ansatz vertrat, ist/war Fink, der Würzburger. Du weißt.

Den Lyons habe ich ins Spiel gebracht wegen dem erweiterten Passivbegriff, dem effizierten und dem affizierten Objekt usw. Daher ist das Geschriebene dann gar nicht so abseitig oder verstiegen, wie es zuerst aussehen mag:

Das Passiv lässt sich definieren als jede Sprachform, die bei einem Handlungsverb das logische Objekt (Menge; Lyons & Co: "Patiens") in Subjektposition bringt und das logische Subjekt (Menge; "Agens") aussparen kann.

So gesehen ist das lateinische Gerundiv eine Verbalform, die das logische Objekt immer bringen muss, und zwar in einer kongruenten Fügung, hat also eine passivnahe Struktur.

Und dann ist dessen Nähe zum Gerund klar. Ein Gerund spart das logische Subjekt (Agens) aus. Wenn das Gerund ein logisches Objekt bei sich hat, so setzt es dieses in den Kasus, den das Verb fordert.

Diese Kasusrektion wird bei der Verwandlung zum Gerundiv aufgehoben. Die "passive" Grundstruktur (obligatorische Bennenung des logischen Objekts/Patiens) wird dabei dennoch erhalten.

ars discipulos bene docendi ars discipulorum bene docendorum

discipuli bene docendi sunt

Und so feiert denn die altdeutsche infinitivnahe Rohübersetzung mit

Die Kunst Schüler gut zu unterrichten
Die Schüler sind gut zu unterrichten

fröhliche Urständ.



cardial-cordiale greetings

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Beitragvon Willimox » Do 24. Nov 2005, 12:23

Salve Tiberis,

auch wenn es anders aussehen mag, es geht nicht um Schachzüge und einen Sieger. Dafür ist die Sachlage viel zu komplex und die Wahrheit ist oft sehr gemischt.

Unser Diskurs hat sehr viel mit Sprachphilosophie und Logik zu tun.

a) Verdacht einer "petitio principii":

Unter welchen Voraussetzungen wäre denn die These unwahrscheinlich, dass die nd-Figur eine necessitäre Konnotation besitzt? Wenn die These prinzipiell nicht widerlegbar ist, was hat sie dann für einen Erklärungswert?

b) Ist die These von der Ambiguität der nd-Form vielleicht weniger schwierig?

Nd-Formen bezeichnen grundsätzlich Handlungen, die an "logischen Objekten" (also Patiensgrößen, die nicht unbedingt in einem obliquen Kasus stehen, sondern auch mal im Subjektisnominativ - man vergleiche Menges Begriff vom "logischen Subjekt"/Agens ausgeführt werden.

Diese Handlungen können je nach Kontext - vor allem bei Hinzufügung des esse-Form - eine necessitiäre Bedeutung annehmen. Das "esse" aktiviert die necessitäre Bedeutung. Die rein attributive Verwendung narkotisiert die necesse-Bedeutung. Anders wäre die grundsätzliche Transformation Gerund>Gerundiv nach Dativus et Praepositiones (statistisch relevant; Kühner-Stegmann) recht schwer erklärbar.

c) Ist der "können-begriff" nicht überstrapaziert?

Daraus, dass etwas gemacht werden kann, lässt sich schon ableiten, dass es getan werden muss. Und meistens ist dann das, was getan werden muss, auch eine Teilmenge dessen, was verwirklicht wird. Aber es gibt eben Zwänge, etwas zu tun, das dann nicht erreicht wird, vielleicht auch weil es nicht erreicht werden kann. Das ist jener Grenzbezirk von Geschehen, den man einfach hinnehmen muss von keiner menschlichen Aktivität steuerbar.

Aus dem Ausdruck "dolor non ferendus" lässt sich - mal sehr rezeptnah (negiertes Gerundiv: nicht dürfen) die Lesart ableiten, dass man den "Schmerz nicht ertragen darf"; aber die meisten werden zu der Lesart neigen, dass es sich um einen Schmerz handelt, der nicht ertragen werden kann, selbst wenn er ertragen werden muss.

In diesem Fall aber fällt die aktive Bedeutung von "müssen" in sich zusammen. Das sieht man recht deutlich, weil ja die "dürfen-Übersetzung" problematisch wird.

Das bedeutet dann, man kann sich stoisch oder nicht stoisch mit dem Schmerz konfrontieren. Er findet mit oder mein Zutun statt. Und er ist nicht zu ertragen, ob ich ihn nun akzeptiere oder nicht. Weil er das Maß des Erträglichen überschreitet. Das heißt, er kann nicht ertragen werden.

Und dann ist die nichtnecessitäre Lesart plötzlich ziemlich stark. Oder?

Zusatzfragen:

Ist bei der "occasio itineris faciendi" nicht doch fast zu jeder Zeit ein Rücktritt oder eine Aufgabe der Reise in beliebigen Phasen möglich, was bei einem "strengen Zwang" zumindest nach eintritt der reise nicht mehr möglich ist/wäre?

Und ist ein "Ausdruck" wie "iter facere possum" oder "iter fieri potest" dann - folgt man der These von der "futurischen passiven Handlung" nicht auch auf jeden Fall mit einer "notatio necessitatis" versehen? Warum dann noch eine markierte nd-Form?

Wie erklärt sich, dass Deponentia plötzlich ein passivnahes (Partizip Präsens Passiv) Muster annehmen, obwohl sie doch gar nicht passivfähig sind?

Vielleicht doch die Erscheinung dadurch erklärbar, dass das Gerund und das Gerundiv eben vor allem die Verbalhandlung und deren logisches Objekt präsentieren?


Fragt sich - capillarer Traktationen (schuld)bewusst -

P.S.

Wie könnte man diese Erscheinung da auf einen "gscheiten" Begriff bringen:

Verdächtige (zu) observieren > zu observierende Verdächtige

Das logische Objekt des Gerundausdruckes links wird in einen Gerundivausdruck transformiert:

Dieser Ausdruck rechts hat nicht die Satzwertigkeit einer Partizipialkonstruktion, aber lässt sich doch als eine komplexere Einheit aus logischem Objekt und daran vollzogener transitiver Handlung (ohne logisches Subjekt )verstehen. Das logische Objekt wird der Rektion des Infinitvs entzogen, gleichzeitig wird es in einen nominativähnlichen Kasus gebracht. Diese dabei entstandene Fügung ist dann jeweils in Sätzen einzubetten und flexibel für die Kasusanforderungen des Matrixsatzes

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Beitragvon Tiberis » Do 24. Nov 2005, 17:40

hi,
nur einiges in kürze, für eine umfassende refutatio fehlt mir momentan die zeit.
Aus dem Ausdruck "dolor non ferendus" lässt sich - mal sehr rezeptnah (negiertes Gerundiv: nicht dürfen) die Lesart ableiten, dass man den "Schmerz nicht ertragen darf"; aber die meisten werden zu der Lesart neigen, dass es sich um einen Schmerz handelt, der nicht ertragen werden kann, selbst wenn er ertragen werden muss.

In diesem Fall aber fällt die aktive Bedeutung von "müssen" in sich zusammen. Das sieht man recht deutlich, weil ja die "dürfen-Übersetzung" problematisch wird.

Das bedeutet dann, man kann sich stoisch oder nicht stoisch mit dem Schmerz konfrontieren. Er findet mit oder mein Zutun statt. Und er ist nicht zu ertragen, ob ich ihn nun akzeptiere oder nicht. Weil er das Maß des Erträglichen überschreitet. Das heißt, er kann nicht ertragen werden.

Und dann ist die nichtnecessitäre Lesart plötzlich ziemlich stark. Oder?

dolor non ferendus bedeutet zunächst einmal, daß der schmerz zum zeitpunkt der getätigten aussage als einer angesehen wird, der nicht ertragen werden wird. d.h., es ist ganz ausgeschlossen, daß er ertragen werden wird. er KANN also NICHT ertragen werden.
dennoch wäre es hier vermutlich falsch, zu sagen: DARF nicht ertragen werden. was aber grundsätzlich nicht gegen die notio necessitatis spricht.
denn:
sententia non ferenda _ wie ist es damit?
eine meinung, die nicht ertragen werden wird / die man nicht ertragen kann und nicht ertragen DARF.
wie ich schon versucht habe, auszuführen, ist die necessitäre komponente ja nur sekundär, also die folge der ausschließlichen gewißheit, daß etwas geschehen wird (oder nicht).
ich meine jedoch nicht, daß die necessitäre bedeutung durch das "esse" aktiviert wird, sondern durch den kontext.
wenn ich gegenüberstelle: " sententiam illam non ferendam minime probo" und " sententia illa non ferenda est" - wo wäre da bezüglich der necessität ein unterschied?
Ist bei der "occasio itineris faciendi" nicht doch fast zu jeder Zeit ein Rücktritt oder eine Aufgabe der Reise in beliebigen Phasen möglich, was bei einem "strengen Zwang" zumindest nach eintritt der reise nicht mehr möglich ist/wäre?

natürlich gibt es immer ein rücktrittsrecht. :) was nichts daran ändert, daß zum zeitpunkt, zu dem sich die gelegenheit zur reise ergibt, diese als eine angesehen wird, die jedenfalls zu machen ist (wenn die gelegenheit wahrgenommen wird).
Und ist ein "Ausdruck" wie "iter facere possum" oder "iter fieri potest" dann - folgt man der These von der "futurischen passiven Handlung" nicht auch auf jeden Fall mit einer "notatio necessitatis" versehen? Warum dann noch eine markierte nd-Form?

"iter facere possum" hat mit necessität gar nichts zu tun. hier wird ja nur die SUBJEKTIVE aussage getätigt: ich bin in der lage/fähig,die reise zu unternehmen.
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Beitragvon Willimox » Do 24. Nov 2005, 18:59

Auch nur kurz (habe jetzt gleich elternsprechabend, knurr):

wenn ich gegenüberstelle: " sententiam illam non ferendam minime probo" und " sententia illa non ferenda est" - wo wäre da bezüglich der necessität ein unterschied?

Nun ja: Im attributiven Fall geht es um eine unerträgliche Rede. Also um eine Rede, die man nicht ertragen kann, die nicht zu ertragen ist.

Ob man gegen sie aktiv vorgeht, etwa indem man sie unterbricht und auf diese Weise in ihrer Unerträglichkeit aktiv beendet, ist dahingestellt.

Im prädikativen Fall geht es wohl eher um eine aus der Unerträglichkeit abzuleitenden Aktivität?

Anzudenken wäre auch noch das schon vorgebrachte Argument, dass der Lateiner automatisch bei DePP Gerund ind Gerundiv transformiert. Wenn nun das Gerund keine necessitäre Komponente hat, würde die Transformation nicht gleichbedeutend bleiben.

Dann: Warum sollte nicht in einer posse-Formulierung oder in einer futurischen Form genauso eine necessitäre Bedeutung vorliegen wie in der futurisch oder mit kann formulierten Paraphrase einer adjektivischen nd-form?

Sei herzlich gegrüßt
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Beitragvon Tiberis » Do 24. Nov 2005, 22:15

Nun ja: Im attributiven Fall geht es um eine unerträgliche Rede. Also um eine Rede, die man nicht ertragen kann, die nicht zu ertragen ist.

Im prädikativen Fall geht es wohl eher um eine aus der Unerträglichkeit abzuleitenden Aktivität?


ich sehe - wie ich schon sagte - keinen prinzipiellen bedeutungsunterschied zwischen einem gerundiv in attributiver und einem in prädikativischer stellung.
gerade das von dir angeführte beispiel "dolor non ferendus" beweist das ja ganz gut:
dolore non ferendo excrucior > ich werde von einem unerträglichen schmerz gequält.
dolor non ferendus est. > der schmerz ist unerträglich.
(wohl niemand würde HIER sagen: der sch. DARF nicht ertragen werden).
oder:
spes lucri faciendi > die hoffnung auf den zu erzielenden gewinn ( = der gewinn ist noch nicht erzielt, MUSS also notwendigerweise erst erzielt werden)
lucrum faciendum est > der g. muß erzielt werden.
in beiden fällen also necessitäre bedeutung!
ich meine also: die necessitäre bedeutung ergibt sich allein aus der ursprünglichen eigenschaft des gerundivs als (passives)futurpartizip.
allerdings muß die durch das gerundiv ausgedrückte handlung nicht ausschließlich zukünftigen charakter haben; es genügt, wenn sie in die zukunft weist, z.b.: libris legendis multa discimus. durch die bücher, die (jetzt schon oder in zukunft) gelesen werden(müssen), lernen wir viel.
jedenfalls ist auch hier der necessitäre aspekt unverkennbar: es ist ja notwendig, die bücher zu lesen, um viel zu lernen.
oder: multum temporis consumpsi in versibus componendis.
ich habe viel zeit verbracht in/mit den versen, die verfaßt werden mußten> die verse waren ja nicht (oder zumindest nur zum teil) schon da, sondern mußten erst verfaßt werden, usw.
spielte der necessitäre aspekt keine rolle, kann ich ja einfach das partizip nehmen: versus componens multum tempus consumpsi.
zusammenfassend heißt das also:
gerundiv bedeutet: etwas wird (jedenfalls) gemacht, jetzt gleich oder in der zukunft, es ist noch nicht gemacht (oder nur zum teil) und MUSS daher erst gemacht werden.(= IST zu machen)
aus der substituierung des gerundivs durch eine gerundiumkonstruktion würde ich im übrigen nicht automatisch auf eine gleichartigkeit/gleichwertigkeit schließen. das gerundium weist ja nicht in die zukunft, sondern hat präsensbedeutung, wodurch die bedeutung, daß etwas noch zu machen ist/gemacht werden muß , wegfällt.
ars litteras scribendi heißt eben nur: die kunst des schreibens von briefen, die kunst des briefschreibens. oder.: libros legendo multa discimus> durch das lesen (näml. von büchern) lernen wir viel. da ist nichts zukünftiges, nichts zwangsläufiges. ich würde sogar behaupten, daß das gerundium dem partizip präsens weit näher steht als dem gerundiv.
wie übrigens auch im italienischen: vedendolo l'ha riconosciuto (als er ihn sah, erkannte er ihn wieder)

vale!
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Hm

Beitragvon Willimox » Fr 25. Nov 2005, 16:25

mein Argument war anders:

Wenn ein Gerund im Depp-Fall automatisch in eine Gerundivkonstruktion verwandelt wird, wenn der Lateiner also das Gerund in DePP-Position vermeidet, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass eine notio necessitatis im attributiven Gerundiv vorliegt.

In consulem creando -> in consule creando curam adhibeamus.

Das wiederum spricht dann sehr dafür, dass die necessitäre Bedeutung erst in der prädikativen Stellung mit esse zum Tragen kommt.


Nachwievor

scheint mir die Theorie von der futurisch-passiv-necessitären Konnotation des Gerundivs nicht recht überzeugend.

Bei diesem Argument


Code: Alles auswählen
das gerundiv ist seinem wesen nach passivisch und drückt etwas aus, das in der zukunft (jedenfalls)gemacht werden wird. letzteres impliziert m.e. schon die bei Menge so genannte "notio necessitatis".
d.h., egal, ob in attributiver oder prädikativischer stellung, verändert das gerundiv seinen prinzipiellen charakter nicht.
iter tibi faciendum est> die reise ist eine, die von dir (unbedingt, jedenfalls) gemacht werden wird. vgl. im deutschen: du WIRST diese reise machen !(= du hast diese reise zu machen!)
occasio itineris faciendi > gelegenheit zu einer reise, die (jedenfalls)gemacht werden wird (daher auch gemacht werden muß)
libros tibi legendos do> ich gebe dir bücher, die (dann) (jedenfalls) gelesen werden, die du (gefälligst) lesen wirst/lesen mußt.
(die landläufige übersetzung "bücher zum lesen" ist m.e. zu verwaschen, da die "notio necessitatis" darin überhaupt nicht erkennbar ist.)


ist zweierlei anmerkbar:

a) Gälte es, so wäre jede Formulierung mit posse und jedes Futur, ob Aktiv oder Passiv, mit der "notio necessitatis" versehen.

b) Bestreitet man (a), kommt man in den Verdacht einer petitio principii: Die futurische Komponte des Gerundivs enthält deswegen eine notio necessitatis, weil das Gerundiv eine necessitäre Färbung hat.

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Beitragvon romane » Fr 25. Nov 2005, 16:57

Das Gerundivum ist im Verhältnis zum Gerundium wahrscheinlich die ältere und zugleich auch weit häufigere Form. Nach der übereinstimmenden Überlieferung der alten Grammatiker wird es als Participium Futurti Passivi bezeichnet; und dieser Name trifft, trotzdem er von neueren Grammatikern meist verworfen wird und ziemlich allgemein durch die Bezeichnung Gerundivum verdrängt ist, Sinn und Bedeutung der Form am besten. Denn sie hat zunächst eine futurische Bedeutung; sie drückt eine zu vollziehende Tätigkeit, eine zu verwirklichende Handlung aus. Daraus hat sich dann die gewöhnliche Bedeeutung der objektiven Notwendigkeit, des Müssens entwickelt. (Kühner/Stegmann - hjatte ich vergessen.)
Zuletzt geändert von romane am Fr 25. Nov 2005, 17:35, insgesamt 1-mal geändert.
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