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Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Beitragvon romane » Mo 12. Feb 2007, 17:02

Mich erreichte folgende Bitte/Frage:

In sigillo summi matris
Guten Morgen!
Dum sigillum summi patris signatum divinitus, in sigillo summi matris signatur humanitus.
(Conductus Dum sigillum summi patris von Perotinus (um 1200), gefunden im Booklet der Audio-CD Perotin - The Hilliard Ensemble (ECM Records))Auf http://tinyurl.com/2mvgzf, wo es in der zweiten Zeile übrigens humanitas statt humanitus heißt, finde ich die Übersetzung Während durch des höchsten Vaters Siegel das Göttliche gekennzeichnet ist, wird durch das Siegel der höchsten Mutter das Menschliche gekennzeichnet.Ich habe Zweifel an der Korrektheit dieser Übersetzung. Wenn nämlich mater auch im Mittelalter femininen grammatischen Geschlechts war, kann doch summi nicht adjektivisches Attribut von matris sein (der höchsten Mutter), sondern muss Genetiv-Attrribut sein (der Mutter des Höchsten). Sehe ich das richtig?
Dann müsste auch - wegen der augenfälligen Parallelführungen im ersten Satz - summi patris nicht mit des höchsten Vaters, sondern mit des Vaters des Höchsten üb ersetzt werden, wobei mit summus auf Christus verwiesen würde.

Im gleichen Text steht der Satz Dum humanum osculatur naturam divinitas, ex contactu fecundatur intacta virginitas.
Wen küsst das Göttliche? Das Menschliche? Die Natur? Doch wohl nicht die menschliche Natur; denn dann sollte es wohl humanam ... naturam heißen.
Oder muss man das nicht so eng sehen?

Unterschrift...
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Beitragvon consus » Mo 12. Feb 2007, 20:15

Reizvolles Problem, romane honoratissime, habe noch keine Lösung. Vielleicht hat unser Tiberis als Musikfachmann den Text, und zwar aus einer anderen Quelle, zur Hand. Die Antithese divinitus/humanitus (durch göttliche Fügung/nach menschlicher Art) scheint sinnvoll zu sein. Genaueres lässt sich aber erst nach der Sicherung des Textbefundes sagen.
:-D
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Beitragvon Tiberis » Mo 12. Feb 2007, 23:20

zuviel der ehre, o Consus. musikfachmann bin ich wirklich keiner, und schon gar nicht in bezug auf die art von musik, um die es hier geht.

was den lateinischen text hier betrifft : der kann so keinesfalls stimmen.
folgende stellen (durch fettdruck hervorgehoben) erscheinen mir falsch oder zumindest fragwürdig:

Dum sigillum summi patris - signatum divinitus, in sigillo summi matris signatur humanitas. Nec sigillum castitatis in puella frangitur; Nec sigillum deitatis detrimentum patitur. Dum humanum osculatur, naturam divinitas, ex contactu fecundantur intacta virginitas. Mira virtus osculandi, miranda sunt oscula, que dant vires fecundandi sine carnis copula.

obwohl mir das original naturgemäß nicht vorliegt, würde ich folgende konjekturen wagen:
divinitas statt divinitus, schon aufgrund des endreims !
(theoretisch wäre auch divinitus - humanitus möglich, aber was sollte es heißen?)
unstrittig erscheint mir: in sigillo matris signatur humanitas.
weiters: summi patris = Gott (nicht Jesus) , daher gibt summi matris keinen sinn, müßte also summae matris heißen.
aufgrund der streng parallel angeordneten antithesen sollten wir also den ersten teil folgendermaßen lesen:
dum sigillo summi patris signatur divinitas
weiter unten im text muß es - mit allergrößter wahrscheinlichkeit - heißen:
humanam osculatur naturam
sowie (absolut sicher): fecundatur

soweit mein vorschlag - aber ich kann mich natürlich auch irren. :)
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Beitragvon consus » Di 13. Feb 2007, 00:36

In zwei Punkten, amici doctissimi, stimme ich sofort mit Tiberis überein:

humanam osculatur naturam divinitas] Denkt man da nicht an "Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum..."?

fecundatur] eindeutig Sg. Subj. virginitas.

Das sigillum-Problem ist auf Grund des vorliegenden Textbefundes nicht so einfach zu lösen. Wer im Forum kommt aus einer anderen Quelle an den Text?

:?
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Beitragvon romane » Di 13. Feb 2007, 08:10

dir und den guten Geistern im e-LateinForum, denen du mein Anliegen ans Herz gelegt hast, vielen Dank!

Ich habe soeben einige Male den Conductus "Dum sigillum" auf meiner Perotin-CD abgehört. Das Londoner Hilliard-Ensemble, das auf die Gregorianik und die frühe Mehrstimmigkeit spezialisiert ist und in diesen Bereichen zur Weltelite gehört, bringt im dritten Vers der ersten Strophe eindeutig ein "summae matris" zu Gehör. Ich habe das CD-Booklet ("summi matris") entsprechend korrigiert.

Der Fehler "ex contactu fecundantur intacta virginitas", der sich auf http://tinyurl.com/2mvgzf findet, tritt in meinem Booklet ("ex contactu fecundatur intacta virginitas") nicht auf.

Der (nach Hörkontrolle korrigierte) Booklet-Text lautet vollständig (die diskutierten Stellen hebe ich hervor, sofern ich mir beim Hören ganz sicher war):

Dum sigillum summi patris
signatum divinitus,
in sigillo summae matris
signatur humanitus.

Nec sigillum castitatis
in puella frang
itur;
nec sigillum deitatis
detrimentum patitur.

Dum humanum osculatur
naturam divinitas,
ex contactu fecundatur
intacta virginitas.

Mira virtus osculandi,
miranda sunt oscula,
quae dant vires fecundandi
sine carnis copula.

An "sigillum summi patris" ist nicht zu rütteln; der Kompositionstitel "Dum sigillum summi patris" ist auch andernorts so wiedergegeben:
http://www.medie val.org/emfaq/cds/ecm1385.htm
http://bautz.de/bbkl/p/perotin.shtml

Eindeutig singt das Hilliard-Ensemble in der zweiten/vierten Zeile der ersten Strophe "divinitus" und "humanitus".

Zum Problem "humanum ... naturam": Könnte es sein, dass "humanum" für "humanorum" steht, so dass hier die Rede von der "Natur der Menschlichen" ist?

Vielleicht will Perotins Text auch gar nicht geradegebogen werden? Vielleicht war der Pariser Perotin des Lateinischen gar nicht so hundertprozentig mächtig?

Eine Randbemerkung: Nicht Perotins "Dum sigillum", wohl aber sein einstimmiger Conductus "Beata viscera Mariae virginis" zählt für mich musikalisch zu dem Schönsten. (Über die textliche Eigenheit sehe ich allerdings beim Hören hinweg.)

Mit freundlichem Gruß
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