Ein Satz über die Ratio..

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Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Laptop » Sa 23. Jun 2018, 11:59

Hallo! Ich hab hier einen Satz der mir nicht so 100%ig aufgeht.
(Scaliger, De caussis linguae Latinae, erstes Kapitel) hat geschrieben:Est autem ratio uis animae, qua id, quod ea praeditum est, comprehendit uniuersalia.

Ich lese "Die Ratio wiederum, ist die Geisteskraft, mit der das, was mit ihr versehen ist, die Universalien erfasst/begreift"

ea = ist Ablativ qualitatis, den das Adjektiv "praeditum" einfordert, richtig?
id = Aber was soll "id" sein? Ich denke es ist Subjekt, nur was ist damit gemeint? Der Mensch homo, ist maskulin, kann also nicht mit "id" gemeint sein. Was aber dann?
universalia = wahrscheinlich ein t.t.? Wenn ich mich nicht irre stellt Scaliger die uniuersalia den particularia ggü. d. h. ich nehme an es geht ihm um die Dichotomie ‹abstraktes› vs. ‹konkretes›?
Der Verstand erkennt sozusagen Muster, Zusammenhänge, Prinzipien, Grundsätze, zugrundeliegende Schemata, also alles Abstrakte? Hm..


Ich glaub wir Deutschen haben auch durch die Historie hinweg unsere Müh wie Not, die Ratio als ein ureigenes Konzept (Begrifflichkeit) zu betrachten. Denn "Verstand" ist das deutsche Äquivalent zu lat. intellectus, nicht zu lat. ratio. Ratio ist also etwas anderes, vielleicht könnte man sagen "Abstraktionsvermögen", aber das ist nur ein - wenn auch wesentlicher Teil - der ratio.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon marcus03 » Sa 23. Jun 2018, 12:34

Meine Interpretation:

Die Ratio indes ist ein Vermögen/Potentlal der Seele, mit der das (= ein"konkreter" Teil der Seele), was über sie verfügt, die U. erfasst.

Id, quod: Es muss ja irgendwas Bestimmtes in der Seele geben, das diese vis hat, was auch immer dieser bestimmte Teil letztlich sein mag bzw. sich man darunter vorstellen soll.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Laptop » Sa 23. Jun 2018, 12:50

marcus03 hat geschrieben:Es muss ja irgendwas Bestimmtes in der Seele geben, das diese vis hat, was auch immer dieser bestimmte Teil letztlich sein mag bzw. sich man darunter vorstellen soll.

Versteh ich nicht! Die Geisteskraft hat doch der Mensch.. so wie er die Erinnerungsvermogent hat, das Einsichtsvermoegen, das Abstraktionsvermogen, usw.
Zuletzt geändert von Laptop am Sa 23. Jun 2018, 13:00, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon cometes » Sa 23. Jun 2018, 12:57

Ich denke, das lässt sich aus der gewöhnlichen aristotelisch-scholastischen Definition des Menschen als animal rationale verstehen. Formulierungen wie homo est vivens ratione praeditum; animal ratione praeditum usf. finden sich zuhauf.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Laptop » Sa 23. Jun 2018, 13:01

cometes hat geschrieben:Ich denke, das lässt sich aus der gewöhnlichen aristotelisch-scholastischen Definition des Menschen als animal rationale verstehen. Formulierungen wie homo est vivens ratione praeditum; animal ratione praeditum usf. finden sich zuhauf.


Du meinst "id" bezieht sich auf ein hinzugedachtes "animal", weil animal auch sächliches Genus hat? Das kann sein.. Ich hab auch schon "ens" in Erwägung gezogen.

Hm. Ich bin auch mit Scaligers Definition von Ratio nicht einverstanden. Für das Erfassen von Abstraktem ist doch nur der intellectus zuständig, so wie Kinder Sprache lernen, weil sie einen Verstand haben. Die Ratio schafft Abstraktes, Zusammenhänge, Konzepte, Argumente, Strategien, Konzepte, indem sie z. B. abstrahiert, deduziert, induziert, strukturiert, usw. Kurz, ich sehe die Ratio als der aktive, schöpferische Bruder zum Intellekt (der passiv ist).
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon marcus03 » Sa 23. Jun 2018, 13:02

Das Ganze muss doch irgendwo lokalisiert sein in der anima.
Ich denke dabei an Platons Dreiteilung der Seele.
Heute wissen wir aus der Gehirnforschung, wo die Zentren für Gedächtnis, Gefühle etc. liegen.
Scaliger dürfte davon keine Ahnung gehabt haben, genauso wenig wie von den biochemischen Prozessen, die bei der Sinneswahrnehmung (Sinnesreize) und deren Verarbeitung am Werk sind.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon cometes » Sa 23. Jun 2018, 13:15

Du meinst "id" bezieht sich auf ein hinzugedachtes "animal", weil animal auch sächliches Genus hat?


Oder ens oder vivens. In besagter Definition macht ja gerade die ratio als spezifische Differenz den Menschen aus.
Den Text kenne ich nicht, aber ich nehme nicht an, dass Scaliger eine ausgereifte eigenständige Erkenntnistheorie bietet.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Laptop » Sa 23. Jun 2018, 15:04

Ja, das ergibt Sinn.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Prudentius » Sa 23. Jun 2018, 16:34

ea = ist Ablativ qualitatis


Sag lieber instrumentalis: womit ausgestattet"

id = Aber was soll "id" sein? Ich denke es ist Subjekt, nur was ist damit gemeint? Der Mensch homo, ist maskulin, kann also nicht mit "id" gemeint sein. Was aber dann?


Da steht kein Substantiv, und da brauchst du auch keins zu ersetzen: es ist ein genereller Relativsatz: "Das, was mit Vernunft begabt ist"; es beschränkt sich nicht auf den Menschen, sondern umfasst auch Engel und Gott, wenn man sich den vormodernen Denkhorizont dazudenkt.

"Ratio" wird hier als Begriffsname eingeführt, und der Rest des Satzes: "vis animae ..." ist die Begriffsdefinition, da sind wir wieder bei der Logik angekommen :) , da waren wir doch gerade.

universalia = wahrscheinlich ein t.t.?


Sicher, "Begriffe" sind hier gemeint, d.h. die Zusammenfassung der Sinneseindrücke unter einer allgemeinen Eigenschaft; ratio ist wohl als Gegensatz zu "perceptio" gedacht, Sinneswahrnehmung.

Im MA. gab es den "Universalienstreit", der bestand darin, dass die eine Partei in den Universalien die Realität sah, während die Sinneseindrücke trügerisch und hinfällig erschienen; und die andere Partei sah in dem sinnlich wahrnehmbaren Bereich, wir sagen der Empirie, das eigentlich Reale. Das neuzeitliche Weltbild entschied sich für das zweite.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Laptop » Sa 23. Jun 2018, 17:40

Naja gut. Aber "Begriffe" nennt er notiones (Vorstellungen von den Sachen). Uniuersalia stehen wie gesagt den particularia ggü., gemeint ist die Dichotomie von Abstrakta vs. Konkreta. Begriffe werden ja auch nicht erfasst (comprehendere), sondern man hat sie. Er schreibt aber, dass uniuersalia comprehenditur, Abstrakta werden erfasst.

O.K., wenn du "Begriffe" = "Allgemeinbegriffe" = "Abstrakta" meintest, dann stimmt es sicherlich. Würde dann aber das unmissverstandlichere Wort "Abstrakta" vorziehen.
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Prudentius » So 24. Jun 2018, 09:48

Wir haben unterschiedlich codierte Denkapparate, aber man kann ja irgendwie Verständigung versuchen :) .

Geisteskraft


"Seelenkraft", anima = Seele, das ist mehr persönlich als das diffuse "Geist".

id = Aber was soll "id" sein?


Die Antwort enthält der folgende quod-Satz: "das, was damit ausgestattet ist", soviel wie "alles, was ...".
Die Logiker sagen, das Schema "id - quod" ist ein Werkzeug, um aus einem Satz einen Term zu machen; wir sagen: einen Satzteil; also aus "was damit ausgestattet ist" = "deren Besitzer", dann wird das Ganze gleich verständlicher: "... eine Seelenkraft, durch die deren Besitzer Begriffe wahrnehmen kann".

Sinngemäß und etwas freier: " ... eine Seelenkraft, mit deren Hilfe man Begriffe wahrnehmen kann", das klingt uns schon besser.

Ich könnte noch zu universalia und Abstrakte etwas sagen, weiß aber icht, ob es gefragt ist :? ; mache erstmal Schluss.
:)
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Laptop » So 24. Jun 2018, 12:05

Das eher unpersönliche Schema id .. quod .. geht mir jetzt auf. Ich sehe es nicht weit entfernt von unserem ‹man›.

Ein Ausflug über den Untersch. zw. Begriffen und Abstrakta täte mich schon interessieren. Du sagst man nimmt mit der Ratio Begriffe wahr. Worin liegt dann der Unterschied zu intellectus? Ein Kind kann mit dem Verstand (intellectus) seine Muttersprache erlernen, indem es Begriffe wahrnimmt, das ist doch das gleiche oder? Ist die ratio nicht eher der aktive Bruder zum passiven intellectus? Die Kraft die wirklich werkelt, sprich Zusammenhänge, Konzepte und Abstraktes im Kopf herstellt statt einfach nur passiv versteht (intelligere)? Kann man es betrachten als Abstraktionsschöpfer (ratio) in Abgrenzung zum Abstraktionserkenner (intellectus)?
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Prudentius » Mo 25. Jun 2018, 10:46

Gern versuche ich es mal, aber es spielen so viele interessante Fragen herein, ich muss alles sehr raffen, damit es nicht ausufert; vor allem spielt die Bruchlinie von moderner und vormoderner Weltsicht herein.

Untersch. zw. Begriffen und Abstrakta


Abstrakt wird in zweierlei Bedeutungen gebraucht; die alte Tradition seit Platon sagt, abstrakt sind Ideen/Begriffe generell, im Gegensatz sind die im Begriff zusammengefassten Sinnesdaten konkret.
Also zu deiner Frage: in diesem Sinne lautet die Antwort: abstrakt ist eine Eigenschaft von Begriffen.

In einer zweiten Bedeutung (mehr modern) versteht man unter abstrakten Begriffen so etwas wie "Zeitgeist", im Gegensatz zu konkreten Begriffen wie "grobkörnig". Das ist nicht maßgeblich, das ist einfach eine Organisationsfrage der Begriffsordnung, es ist eine Einteilung der Vielzahl von Begriffen.

"Abstrakt" ist von Platon ganz wörtlich gemeint gewesen, vom Verbum "Abstrahieren", abstrahere, wegziehen, entfernen: das Abstrahieren ist der Weg vom sinnlichen Gegenstand, das "Wegnehmen", bis zur Idee: man nimmt vom hölzernen Kreis die Farbe, die Größe, die Festigkeit, weg, um zur Idee des Kreises zu gelangen. Das Konkretisieren geht umgekehrt: man verleiht der Idee Körperlichkeit, Ausdehnung usw.; die l. Termini stammen aus der Scholastik und Spätantike.

Apropos "Bruchstelle": hier liegt sie vor: für die Vormoderne liegt hier ein Kontinuum, es geht Schritt für Schritt von der Sinnlichkeit zur übersinnlichen Idee. Für die Moderne besteht eine Kluft, die Begriffe sind Symbolsysteme, die den Gegenständen vom Menschen zugeordnet werden. Die Bereiche haben nichts gemeinsam. Man kann es auf den Nenner bringen: die Antike sieht ein continuum, die Moderne ein discretum.

Ich hoffe, dass ich schon irgendwas rübergebracht habe, und mache erstmal Pause :smile:
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Re: Ein Satz über die Ratio..

Beitragvon Prudentius » Di 26. Jun 2018, 15:55

Laptop hat geschrieben: Uniuersalia stehen wie gesagt den particularia ggü., gemeint ist die Dichotomie von Abstrakta vs. Konkreta. Begriffe werden ja auch nicht erfasst (comprehendere), sondern man hat sie. Er schreibt aber, dass uniuersalia comprehenditur, Abstrakta werden erfasst.


Ich gebe mal meine Eindrücke wieder, nimm es mit Humor auf, falls der falsche Eindruck des Oberlehrerhaften aufkommen sollte :-D !

Das Gegensatzpaar "universalia - particularia" steht in einer Reihe mit anderen solchen, wie "abstrakt - konkret", "eines - vieles", "Begriffsinhalt - Begriffsumfang", "ewig - vergänglich", "wirklich - schattenhaft", "Sein - Werden", "Essenz - Existenz". Du solltest nicht Abstraktbegriffe und Universalbegriffe als Sonderklasse von Begriffen verstehen! Alle Begriffe sind universal: z.B. ist "grobkörnig" universal in dem Sinne, dass es erschöpfend alle Brotsorten u.a. in sich schließt.

Begriffe werden ja auch nicht erfasst (comprehendere), sondern man hat sie.


Das möchte ich anders sehen: man erfasst Begriffe, indem man in den wahrgenommenen Sinnesdaten die Begriffe "wiedererkennt", man ordnet die Sinnesdaten den Begriffen zu; das Sinnliche und das Begriffliche bilden hierbei einen Komplex; dieses Erkennen ist also ein durchaus aktiver Vorgang.


Begriffe ... man hat sie.


Du bist hier etwas leichtfüßig, schreitest über Abgründe: wie hat man sie, und woher hat man sie? Da stecken Probleme im verborgenen.
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