Vergil, ganz vorne.

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Laptop » Sa 21. Nov 2020, 07:37

Ich lese gerade zum ersten Mal Vergil, dabei fällt mir gleich ganz zu Anfang folgende Stelle bei Gottwein auf:

( https://www.gottwein.de/Lat/verg/aen01.php ) hat geschrieben:Albanique patres atque altae moenia Romae. Albas Väter, entstammt und Roms hochragende Mauern.


altae kongruiert doch mit Romae, also "des erhabenen Roms"? Oder irre ich?
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon ille ego qui » Sa 21. Nov 2020, 07:47

Salve, Laptop!

Wahrscheinlich hat der Übersetzer eine Enallage gesehen, also die Verschiebung eines (meist) Adjektivs zu einem anderen Bezugswort, zu dem es eigentlich nicht ganz passt, und diese beim Übersetzen rückgängig gemacht. Gerade in der Poesie liegt die Annahme einer Enallage oft nahe.Viel Freude mit Vergil!

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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Laptop » Sa 21. Nov 2020, 09:27

Hm, aber es passt doch zu Rom als "erhaben, hehr"? Wenn es einer deiner Schüler macht, würdest Du es doch auch als falsch ankreiden, oder nicht?


Dann geht es weiter mit

"Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit Oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden Ließ."


"Verletzt in der Gottheit" ist doch grob falsch, oder? Numen ist der göttliche Wille bzw. die göttliche Ordnung, und "quo numine laeso" = durch welches Sakrileg (durch welche verletzte göttl. Ordnung)?
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Sapientius » Sa 21. Nov 2020, 09:40

aber es passt doch zu Rom als "erhaben, hehr"?


Der Vers erfordert an der Stelle eine Länge, deshalb altae; alta geht nicht, auch wenn es inhaltlich passen würde.
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon iurisconsultus » Sa 21. Nov 2020, 09:54

Die Enallage ist hier allgemein anerkannt und nur eines von vielen Beispielen für die „Schönheit der Aeneis“ (Prof. Radicke, siehe anderer Thread). Durch die Enallage suggeriert Vergil zweierlei: 1. Die Lage Roms (auf hohen Hügeln), 2. die Macht Roms (hohes [mächtiges] Rom).

„quo numine laeso“ = Ablativus absolutus oder Ablativus causae.

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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Laptop » Sa 21. Nov 2020, 10:00

Ich habe auch zuerst - ohne genaueres Hinsehen - "hohe Mauern" gelesen. D. h. das (hohe Mauern) hat der Dichter auch gedacht, mußte aber wegen des Versmaßes das Attribut umsatteln. OK, habs verstanden.
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Sapientius » Sa 21. Nov 2020, 10:00

"Musa, mihi causas memora, quo numine laeso
quidve dolens regina deum tot volvere casus ..."

"Verletzt in der Gottheit" ist doch grob falsch, oder?


Nein, Laptop, solche PC-Konstruktionen müssen wir umstrukturieren nach den Erfordernissen unserer Grammatik; wenn die Göttlichkeit der Göttin verletzt war, dann war die Göttin selber verletzt.
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon iurisconsultus » Sa 21. Nov 2020, 10:15

„numen“ würde ich hier tautologisch nicht mit „Gottheit“ übersetzen, weil klar ist, dass nur von Iuno die Rede sein kann (cf. 9 „quidve dolens regina deum“). Bei Gottwein muss man überhaupt aufpassen, ist mein Eindruck.
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Laptop » Sa 21. Nov 2020, 10:23

Natürlich wurde Hera gekränkt, aber mit den Worten quo numine laeso ist doch gemeint, daß die göttliche Ordnung, der göttliche Wille, laediert wurde. Würde er Gottheiten meinen hätte der Dichter nicht laedere als Verb verwendet. Davon abgesehen, was ist denn "verletzt in der Gottheit" für ein Deutsch? Vielleicht "verletzt in ihrer Göttlichkeit" aber "ihrer" steht da nicht. Gemeint ist doch schlicht das was wir heute Sakrileg nennen: "durch welches Sakrileg?".
Zuletzt geändert von Laptop am Sa 21. Nov 2020, 10:31, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon marcus03 » Sa 21. Nov 2020, 10:24

Muse, sage mir die Gründe, durch welche Verletzung des göttlichen Willens und worüber die Königin der Götter verbittert war, einen durch sein Pflichtbewußtsein ausgezeichneten Mann (er)zwang, so viele Schicksalsschläge (immer wieder) zu erdulden und so viele Mühen auf sich zu nehmen. Hegen die Himmlischen in ihrem Sinn so großen Zorn?

https://www.lateinheft.de/vergil/vergil ... vers-1-22/

Muse, des Grolls Ursachen verkünde mir, welches Gebotes
Kränkung die Königin reizte, daß, so viel kreisendes Unheil,
10 Sie den frömmeren Mann, so viel zu erdulden der Mühsal,
Drängte mit Zwang. So groß glüht himmlischen Seelen der Zorn auf?


Tell me, O Muse, the cause; wherein thwarted in will or wherefore angered, did the Queen of heaven drive a man, of goodness so wondrous, to traverse so many perils, to face so many toils. Can heavenly spirits cherish resentment so dire?
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Laptop » Sa 21. Nov 2020, 10:29

Die letzten beiden Übersetzung treffen den Sinn am ehesten m. E. Denn impulerit ist aktiv, die Königin Nominativ. Daher wird die Königin nicht gereizt, es bewog sie nichts, es trieb sie nichts, sondern sie war die, die trieb. Warum sind da überall so viele Ungenauigkeiten? Als Schüler wird einem das gleich rot angestrichen, aber die Übersetzungen sind voll damit.
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon iurisconsultus » Sa 21. Nov 2020, 11:02

Laptop hat geschrieben:Davon abgesehen, was ist denn "verletzt in der Gottheit" für ein Deutsch?

Gottwein tut in seinen Übersetzungen der deutschen Sprache regelmäßig Gewalt an. Wenigstens schreibt er ein so artifizielles Deutsch, dass jeder Lehrer es sofort merken würde, wenn ein Schüler von ihm klaut. :lol:
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Zythophilus » Sa 21. Nov 2020, 11:39

Die poetische Sprache ist manchen hier leider etwas fremd. Das konstatiere ich, will aber niemandem damit kränken. Bei Lauiniaque mag Vergil nicht anders können, als zu einem "Trick" zu greifen, wenn er das Wort braucht, doch bei den altae moenia Romae könnte er sich schon anders als mit der hier dann ohnedies erkannten Enallage behelfen. Er war nicht froh, irgendwie ein paar Verse, die den Regeln der Metrik halbwegs entsprachen, hinbekommen zu haben.
Dass
Gottwein in seinen Übersetzungen der deutschen Sprache regelmäßig Gewalt antut
, ist auch falsch gedacht. Gottweins Tätigkeit ist es, eine deutsche Übersetzung zu suchen, nicht selber zu übersetzen. Er passt nur ein wenig an, ändert also heutzutage Unverständliches. Moderne Übersetzungen scheiden aus rechtlichen Gründen aus, und die vorliegende stammt von Hertzberg aus dem Jahr 1859. Die wirkt natürlich etwas altertümlich, aber - das ist natürlich meine Privatmeinung - gerade das etwas Altertümliche kling dann auch poetisch. Für Schüler ist es nicht ideal, aber die kommen oft nicht drauf, dass sie deutsche Hexameter mit Wörtern, die sie selber kaum verstehen, als ihre Hausübung präsentieren.
Bei "gekränkt in der Gottheit" darf man nicht die Gleichsetzung "Gottheit = Gott" als Voraussetzung nehmen, sonst wird es sinnlos. Wie ein Mensch in seinem Innersten, in seinem Ehrgefühl etc. gekränkt sein kann, so kann das ein Gott in seinem Gott-Sein, also seiner "Gottheit" sein.
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon iurisconsultus » Sa 21. Nov 2020, 12:05

Zythophilus hat geschrieben:gerade das etwas Altertümliche kling dann auch poetisch.

Den meisten (mir bekannten) „dichterischen Übersetzungen“ lateinischer Poetik, alten wie neuen, sieht man deutlich an, dass Philologen nun einmal keine Dichter sind (was Wunder). Ihre Versuche wirken bestenfalls bemüht, aber gewiss nicht mehr. Wer schönes Deutsch lesen will, sei auf deutsche Dichter verwiesen.

Eine Ausnahme ist die Aeneis-Übersetzung von Christian Ludwig Neuffer, aber der war halt auch Dichter und nicht nur Philologe.
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Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon marcus03 » Sa 21. Nov 2020, 12:30

Die beste Übersetzung ist immer eine adäquate Übertragung, bei der man nicht merkt, dass es
"nur" eine Übersetzung ist. Gut übertragen zu können ist eine hohe Kunst und bedarf großer
Routine und eines hohen Einfühlungsvermögens.
Daher haben bekannte Autoren meist "ihren Übersetzer", der dann als "der Übersetzer von XY" gilt.
Bei antiken Texten stellt sich das besondere Problem, eine Sprache zu finden, die den modernen
Leser erreicht, auch und gerade wenn dieser mit Welt, aus der die Texte stammen, wenig vertraut ist.
Das erfordert hohe Kreativität und eine Genialität, über die nur Wenige verfügen.
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