Vergil, ganz vorne.

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Laptop » Mo 23. Nov 2020, 01:47

Ich denke aus dem Grunde gibt es nicht die eine Übersetzung, die alle Notwendigkeiten bedient. Am ehesten noch wäre für Schüler eine doppelte sinnvoll, d. h. eine die den Wortsinn aufschlüsselt, und eine zweite die den Satzsinn aufschlüsselt. Eine Interlinear, die den Wortsinn aufschlüsselt, ist nichts anderes als eine kompaktere Form der guten alten Vokabelliste bzw. Vokabelangabe. Das Problem mit den Vokabelangaben war immer, daß sie aus allen Nähten quellen, und nicht zum Lesen einladen. Die Interlinear behebt das Problem, und man kommt einigermaßen vorwärts, und hat nicht nach einer Unterrichtseinheit den Eindruck bloß fünf Sätze geschafft zu haben. Es ist nichts anderes als die Umarbeitung einer gekürzten Fassung der Vokabelangaben, gepresst in ein Excel-Tabellen-artiges Korsett, was dann für sich genommen leider ein riesen Zeitaufwand ist, so man es selbst erstellen will.
SI·CICERONEM·ÆMVLARIS·VERE·NON·VIVAS (get a life!) OBITER·DICTVM·BREVITAS·DELECTAT (keep it short and simple = kiss)
Benutzeravatar
Laptop
Augustus
 
Beiträge: 5733
Registriert: Sa 12. Mai 2007, 03:38

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Tiberis » Mo 23. Nov 2020, 03:54

Laptop hat geschrieben:Es gibt nicht die ideale Übersetzung, sondern wie schon beschrieben, je nach Zweck unterschiedliche Aufgaben der Übersetzung.(...) Eine solche geschliffene Übersetzung ... erhellt mir nicht die Strukturen des Originaltexts, im Gegenteil, sie führt mich auf falsche Wege (...). Das ist eine Anti-Hilfe, oder in besserem Deutsch: das sind mir, der ich den Originaltext erschließen möchte, Steine im Weg.


Karl Vretska, mein Universitätslehrer, schrieb einmal , dass man lateinische Texte gar nicht übersetzen könne, trotz seiner vielbeachteten Sallust- und Lukrezübersetzungen . Er wollte damit sagen, dass der Eindruck, den Sprache und Struktur eines lateinischen Textes vermitteln, niemals 1:1 übertragbar ist, was naturgemäß auch für viele moderne Sprachen gilt, deren Struktur vom Deutschen ebenso deutlich abweicht. Aber trotz dieser Einschränkungen , die in Wahrheit ja für alle Versuche gelten, einen fremdsprachigen Text zu übertragen, gibt es immer wieder hervorragende Übersetzungen fremdsprachiger Werke, die zwar niemals der Originallektüre gleichkommen, die aber den Sprachunkundigen dieses Ideal zumindest erahnen lassen.
Wir wissen nicht, worin die Wirkung bestand, die beispielsweise eine Horazode auf den zeitgenössischen Hörer ausübte. Aber wir können mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der Klang der Worte und die sich aus dem Metrum ergebende Sprachmelodie diese Wirkung wesentlich bestimmten. Beides lässt sich in einer Übersetzung nur sehr schwer realisieren. Sehr wohl aber kann eine gute Übersetzung den harmonischen Gesamteindruck , die sogenannte klassische Ruhe einer solchen Ode vermitteln, solange sie strikt zielsprachenorientiert bleibt und nicht im vergeblichen Bemühen, irgendwelche "Strukturen" nachzuahmen, die der Zielsprache fremd sind, unnötige Distanz verursacht.
Wer die Strukturen des Textes "erschließen" will, tut gut daran, diesen in der Originalsprache zu lesen. Bezüglich lateinischer Texte sollten wir ja dazu in der Lage sein. ;-) Allzu "wörtlich" gehaltene Übersetzungen mögen für Schüler mitunter hilfreich sein, mehr als eine Krücke sind sie aber nicht.
Ich erinnere mich noch an meine Gymnasialzeit, als unter den Schülern sogenannte Übersetzungen im Kleinstformat kursierten, aus denen dann bei Schularbeiten brav abgeschrieben wurde. Am miserablen Deutsch dieser wörtlichen und also "strukturerhellenden" Übersetzungen erkannte jeder Lehrer naturgemäß sofort den Einsatz unerlaubter Mittel.
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11862
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Laptop » Mo 23. Nov 2020, 04:37

Und deshalb gehört Übersetzungsarbeit der Originallektüre, zumal die von Dichtung, in die Hand von weit Fortschrittenen, wenn nicht gar Meistern. Sowas zu verlangen von Schülern, bei denen es überall hapert, sogar an den Deutschkenntnissen, ist maßlose Überforderung. Welcher 17-Jährige kennt Ausdrücke wie "Kühnheit" oder "sich brüsten", in diesem Alter kann man das nicht voraussetzen. Wie sollte dann eine Rede Ciceros in dt. Worte gefasst werden können, wenn schon das Deutsch dazu fehlt? Man könnte nun hergehen und das Vokabular in Wörterbüchern zeitgemäß auffrischen und bspw. "sich brüsten" durch das moderne "sich aufplustern" ersetzen. Könnte man, ist aber bisher nicht so, und die Schüler lesen angestaubte Wörterangaben. Es hapert also schon an den Grundlagen, die man bereitlegt. Gut es gibt löbliche Ausnahmen, aber das geschieht dann auf Eigeninitiative der Lehrer hin ...
SI·CICERONEM·ÆMVLARIS·VERE·NON·VIVAS (get a life!) OBITER·DICTVM·BREVITAS·DELECTAT (keep it short and simple = kiss)
Benutzeravatar
Laptop
Augustus
 
Beiträge: 5733
Registriert: Sa 12. Mai 2007, 03:38

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon marcus03 » Mo 23. Nov 2020, 10:34

Tiberis hat geschrieben:Ich erinnere mich noch an meine Gymnasialzeit, als unter den Schülern sogenannte Übersetzungen im Kleinstformat kursierten

Das waren diese Mini-Heftchen, orange, wenn ich mich recht erinnere. Ich kenne sie nur für Cäsar.
Manchmal waren die Seiten nicht getrennt und man musste sie erst aufschneiden.
Ja, die waren extrem wörtlich, aber von geringem Umfang.
Man musste genauer wissen, aus welchem Buch die Schulaufgabe stammte.
Die Meisten haben sie für Hausaufgaben verwendet.
Wie hieß der Verlag nochmal, der die herausgab?
marcus03
Pater patriae
 
Beiträge: 11381
Registriert: Mi 30. Mai 2012, 06:57

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon mystica » Mo 23. Nov 2020, 11:43

.
Zuletzt geändert von mystica am Do 14. Jul 2022, 16:12, insgesamt 1-mal geändert.
mystica
Dictator
 
Beiträge: 1967
Registriert: So 3. Mär 2019, 10:37

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Tiberis » Mo 23. Nov 2020, 14:43

Welcher Verlag damals diese auf billigstem Papier gedruckten Miniheftchen herausbrachte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie allgemein unter dem Namen "Schimmel" bekannt waren, vermutlich aus "similis" abgeleitet. Ein Schimmel zum Schummeln, sozusagen :D
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11862
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Tiberis » Mo 23. Nov 2020, 15:01

Laptop hat geschrieben:Sowas zu verlangen von Schülern, bei denen es überall hapert, sogar an den Deutschkenntnissen, ist maßlose Überforderung

Ganz meine Meinung. Schüler, die einerseits nicht einmal in der Lage sind, einfachste Sätze auf Latein zu bilden, geschweige ein lateinisches Gespräch zu führen, sollen andererseits anspruchsvolle literarische Texte übersetzen. Widersprüchlicher geht es wohl nicht mehr. :x
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11862
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Zythophilus » Mo 23. Nov 2020, 18:26

medicus hat geschrieben:P.S. Mich würde interessieren, welche Übersetzungen in einer Schulaufgabe/ Klassenarbeit durchgehen würden.

Für Österreich lässt sich das relativ genau sagen. Alles geht mittlerweile durch, sofern der ungefähre Sinn getroffen ist. Zumindest gilt das für die Lektürephase.
Ein Text, egal welcher Länge, ist in zwölf Sinneinheiten mit je einem Punkt geteilt, dazu gibt es noch je sechs Punkte für Lexik, Morphologie und Syntax, weiters 0 - 3 - 6 Punkte für den Stil im Deutschen.
Für die Sinneinheit Quae tam atrox coniuratio a Cicerone detecta est reicht die ÜS "Cicero deckte die Verschwörung auf." Da hier kein weiterer Punkt vergeben wird, fallen quae, tam, atrox und das Passiv durch den Rost. Sollte ein Grammatikphänomen wie ein Abl.abs. zwei Mal in einem Text auftauchen, kann es gut sein, dass es nur einmal bewertet wird. Erkennt ihn der Schüler an der "falschen" Stelle, hat er Pech.
Das Beispiel stammt aus einer Modellschularbeit des Ministeriums. https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/s ... f_lgr.html

Die ÜS "sich brüsten" für se iactare ist für die meisten Schüler auch keine Hilfe. Ohne weitere Übersetzung verstehen sie den altertümlichen Ausdruck nicht.
Zythophilus
Divi filius
 
Beiträge: 16818
Registriert: So 22. Jul 2007, 23:10
Wohnort: ad Vindobonam

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon iurisconsultus » Mo 23. Nov 2020, 18:34

Tiberis hat geschrieben:Ich weiß nur, dass sie allgemein unter dem Namen "Schimmel" bekannt waren, vermutlich aus "similis" abgeleitet. Ein Schimmel zum Schummeln, sozusagen :D

Mein Großvater berichtete mir einmal von kleinen Büchlein, die man „Schmierer“ nannte. Mich würde echt interessieren, wie die aussahen. Jedenfalls sollen die Übersetzungen arg verräterisch gewesen sein.
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
Benutzeravatar
iurisconsultus
Dictator
 
Beiträge: 1238
Registriert: Di 31. Dez 2013, 15:37
Wohnort: Lentiae, in capite provinciae Austriae Superioris

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon marcus03 » Di 24. Nov 2020, 07:55

österreichisch Buch, Heft mit einer fertigen Übersetzung, das in der Schule als unerlaubtes Hilfsmittel benutzt wird

https://www.dwds.de/wb/Schmierer

Erbwort von mittelhochdeutsch smirwen → gmh, smirn → gmh, smern → gmh, althochdeutsch smirwen → goh, germanisch „*smierwijan“ „schmieren“; Denominativ zu althochdeutsch smero → goh. Das Wort ist seit dem 8. Jahrhundert belegt.[1]
marcus03
Pater patriae
 
Beiträge: 11381
Registriert: Mi 30. Mai 2012, 06:57

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Tiberis » Di 24. Nov 2020, 12:20

Kehren wir zum Ausgangspunkt der Debatte zurück, den Vergilversen. Wir haben bisher abstrakt über die Aufgaben einer Übersetzung diskutiert; aber wie sieht es in der Praxis aus? Welche konkreten Vorschläge haben wir als Lateiner zu bieten? Die Vergilverse (Aen.1,8-11) stellen eine gewisse Herausforderung dar und gerade deshalb ist ein Übersetzungsversuch reizvoll. Ich schlage daher vor, dass jeder (sofern er möchte und sich traut :wink: ) diese Verse ,auf seine Weise und wie es ihm richtig erscheint, übersetzt, und gehe gleich einmal mit gutem (?) Beispiel voran (Kritik ist ausdrücklich erwünscht!):

Mūsa, mihī causās memorā, quō nūmine laesō,
quidve dolēns, rēgīna deum tot volvere cāsūs
īnsīgnem pietāte virum, tot adīre labōrēs 10
impulerit. Tantaene animīs caelestibus īrae?



Sage mir, Muse, warum – Wurde göttlicher Wille beleidigt?
Welche Kränkung geschah? – die Herrin der Götter den frömmsten
Mann dazu brachte, so viele Schläge des Schicksals zu dulden,
so viele Müh’n. Hegen so großen Zorn die Götter im Herzen?
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11862
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Laptop » Di 24. Nov 2020, 13:30

Ich versuche es aalglatt jeder möglichen Kritik aus dem Wege zu gehen mit:

O Muse, nenn mir die Gründe, durch welch Sakrileg und was übel nehmend,
die Königin der Götter einen Mann großen Anstands
dazu zwang so viel Mißgeschick zu bestehn, so viel Mühlsal anzugehn!
Hegen die Götter dermaßen Zorn?
SI·CICERONEM·ÆMVLARIS·VERE·NON·VIVAS (get a life!) OBITER·DICTVM·BREVITAS·DELECTAT (keep it short and simple = kiss)
Benutzeravatar
Laptop
Augustus
 
Beiträge: 5733
Registriert: Sa 12. Mai 2007, 03:38

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon Tiberis » Di 24. Nov 2020, 16:35

Laptop hat geschrieben:aalglatt jeder möglichen Kritik aus dem Wege zu gehen

:D
fast wäre dir das auch gelungen, wäre da nicht dieses Wort "Sakrileg", das zwar inhaltlich vertretbar sein mag, aber letztlich doch fast zu scharf klingt und als Fremdwort unangenehm heraussticht. Aber das war's auch schon mit meiner "Kritik". :)
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11862
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon mystica » Di 24. Nov 2020, 18:01

.
Zuletzt geändert von mystica am Do 14. Jul 2022, 16:12, insgesamt 1-mal geändert.
mystica
Dictator
 
Beiträge: 1967
Registriert: So 3. Mär 2019, 10:37

Re: Vergil, ganz vorne.

Beitragvon marcus03 » Di 24. Nov 2020, 18:22

mystica hat geschrieben: betrübte Königin der Götter immer wieder so viele Schicksalsschläge durchlebte,

Die Schicksalschläge beziehen sich auf Äneas.

mystica hat geschrieben:den an Frömmigkeit berühmten Mann,

wegen seiner F. (abl. causae)

mystica hat geschrieben: der so viel Mühen auf sich genommen,

Das geht nicht. Du darfst den Infinitiv nicht so übersetzen. Er hängt von
impulerit ab. Du hast ihn als PC übersetzt.

mystica hat geschrieben:Ist so viel des Zornes bei den himmlischen Göttern?

irae: Dat.Sing.
tantae irae (ergänze: Aeneas est): dat. finalis (zum Zorn gereichen, zornig machen)
marcus03
Pater patriae
 
Beiträge: 11381
Registriert: Mi 30. Mai 2012, 06:57

VorherigeNächste

Zurück zu Übersetzungsforum



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Majestic-12 [Bot] und 15 Gäste