Hexameter lesen

Für alle Fragen rund um Latein in der Schule und im Alltag

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Beitragvon romane » So 6. Mai 2007, 16:33

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Beitragvon Romulus » Sa 23. Jun 2007, 15:10

Salvete, amici!

Wie ihr bin ich auch von Wilfried Strohs Ausprache begeistert. In diesem Zusammenhang habe ich aber noch eine Frage:
Aus dem Appendix von Strohs "Latein ist tot - Es lebe Latein" (insbesondere S.323f.) und seiner Aussprache der Aeneis Liber IV geht hervor, dass "man den Vers grundsätzlich wie Prosa auszusprechen hat".
- 1. Folgerung: Die Wörter werden also im Lateinischen auch betont, zusätzlich zu dem, dass man manche Silben kurz und andere lang (Natur- oder Positionslänge) liest.
- 2. Folgerung: Das in der Schule gelernte Skandieren entspricht in keiner Weise der klassischen Ausprache.
- 3. Folgerung: Da die Worte in Prosa und in der Poesie gleich betont werden, wird z.B. magister IMMER auf dem I betont und Caesar IMMER auf dem AE.
- 4. Folgerung: Dass hiesse also, dass ein Hexameter (oder Pentameter) also gar nicht immer 6 Betonungen (Hebungen) hat, sondern dass deren Anzahl von der Anzahl der Wörter abhängt.

Sind meine Schlussfolgerungen richtig?

Danke für eure Antwort. :)

Valete
Zuletzt geändert von Romulus am Sa 23. Jun 2007, 19:50, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon consus » Sa 23. Jun 2007, 17:15

Salve, Romule!

M. E. kann den Schlussfolgerungen durchaus zugestimmt werden, zumindest im Hinblick auf die Theorie.

Ich gehe von einem Hexameterbeispiel (Verg. Aen. 2, 3) aus, das von Crusius-Rubenbauer (Röm. Metrik, 6. Aufl., Mchn 1961, S. 30f.) verwendet wird:

INFANDVM REGINA IVBES RENOVARE DOLOREM

(a) Dieser Vers wird traditionell, obwohl „es nicht angängig ist“, meist folgendermaßen gelesen:

ínfandúm regína iubés renováre dolórem.

(b) Man müsste beim Lesen den „wohl mit Tonerhöhung verbundene(n) Wortakzent“, den musikalischen Akzent, mit dem „bloße(n) tonverstärkende(n) Iktus im rhythmischen Vortrag“, dem exspiratorischen Akzent, in Einklang bringen. Versuchen wir es:

ínfàndúm regína iùbés renováre dolórem.

Man beachte die zweite Silbe von infàndum und die erste von iùbes (vgl. 4. Schlussfolgerung).

Es ist nicht einfach, die unter (a) genannte Praxis aufzugeben.

Etwas Tröstliches: Seit dem 3./4. Jh. n. Chr. setzt sich mehr und mehr der exspiratorische Wortakzent wie im Deutschen durch (a.a.O. S. 31).

Optime vale.
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Beitragvon Romulus » Sa 23. Jun 2007, 19:48

Salve, Conse!

Es gibt also gewissermassen eine Überlagerung der zwei verschiedenen Akzente und da diese so schwierig zu bewerkstelligen ist, wurde die klassische Versbetonung allmählich aufgegeben.

Frage: Ist der "musikalische Akzent" also derjenige Akzent, welcher auch in der Prosa betont wird?

Im von dir angegebenen Link ( http://wiredforbooks.org/aeneid/ ) spricht W. Stroh nach den von dir erläuterten Regeln, ODER?

Auf der buchstäblich letzten Seite von "Latein ist tot - Es lebe Latein" steht Folgendes:

UND WIE KLANGEN DIE VERSE?
Grundsätzlich gilt, dass der Vers der Poesie genauso zu lesen ist wie das Kolon der Prosa [...].
Den Anfang von Lukrez 1 würde man in Prosa so betonen:
[gemeint ist dieser Vers: Aeneadum genetrix hominum divomque voluptas]
Aenéadum génetrix; schulmässig jedoch liest man:
Áeneadúm genetríx. Es gibt aber nirgendwo in der Welt ein Volk, das in seinen Versen andere Betonungsregeln hätte als anderswo.


Wenn man die beiden unterschiedlichen Akzente (musikalisch und exspiratorisch) zusammen betrachtet, resultiert:
Áenèadúm gènetríx

Somit sieht es für mich aus, als ob Stroh (vermutlich zu Recht) den exspiratorischen Akzent völlig ignoriert, und sich nur auf die Prosabetonung stützt.

Deshalb folgende einfache Lösung des Problems:
(Nach Stroh:) Man betont den Vers gleich wie die Prosa, sei es im Hexa- bzw. Pentameter nach den üblichen Regeln(, wobei einsilbige Wörter über keinen Accentus verfügen)
z.B. Aenéadum génetrix hóminum divómque volúptas

Ich bin auf eure Antworten und Reaktionen sehr gespannt.

Optime valeas, Conse!

Romulus
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Beitragvon consus » Sa 23. Jun 2007, 21:27

Servus, Romulus.
Es sei hier verwiesen auf das Buch von W. Sidney Allen, Vox Latina, A Guide to the Pronunciation of Classical Latin, 2nd ed., Cambridge 1978. Darin zu unserem Thema u. a. Folgendes (S. 83):
There is little disagreement that the prehistoric accent of Latin was a stress accent, and that this fell on the first syllable of the word. [...]
But certainly by classical time the principles governing the position of the accent had completely changed in accordance with what is usually called the ‚Penultimate Law’. [...]
Whilst these rules are quite clear, however, and unambiguously stated by the grammarians (cf. Quintilian , i, 5, 30), there is some controversy about the nature of the historical accent, namely whether it was one of stress (as in prehistoric Latin or modern English), or of musical pitch (as in classical Greek).

W. S. Allen macht nun genauere Ausführungen dazu (bis S. 88 ). Halten wir hier nur fest: Es handelt um eine höchst strittige Frage, die vermutlich, abgesehen vom Paenultima-Gesetz, nicht eindeutig beantwortet werden kann.
Grüße aus dem Rheinland in die Schweiz!
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Beitragvon Romulus » Sa 23. Jun 2007, 22:20

Ave, conse!

Das heisst DU betonst in der Poesie also stets nach den Regeln, die man heute (und - soweit ich informiert bin - seit dem späten Mittelalter) in der Schule lernt -> immer die erste Silbe des Versfusses?
Oder versuchst du wirklich nur Längen lang und Kürzen kurz zu lesen und gar keine Silben zu betonen. Ist letzteres etwa auch das Vorgehen von Wilfried Stroh? Trotz mehrmaligen Anhören bin ich nicht sicher, wie er genau vorgeht? Gefühl?!? :)
Von einer praktischen Homepage, die eben gefunden habe: http://community.middlebury.edu/~harris ... ation.html
STRESS AND ACCENT IN LATIN PROSE

It may seem odd that Latin employs a different system of pronunciation for daily speech and written prose, as against that used in poetry. This is no doubt a result of the dominating influence of Classical Greek literature on the unformed and susceptible sensibilities of the 4th c. B.C. Romans. Actually the prose stress system is present,although covert, in Latin poetry, and sometimes creates an interesting artistic off-balance effect which the poet intends. Put the other way around, if the stress were violently out of phase with the length system, the results would be unreadable or laughable. [...]



Vale!

Romulus

PS: Das ganze interessiert mich, weil ich denke, dass die Wiederherstellung der klassischen Aussprache und Betonung (kann man das mit Prosodie zusammenfassen?) die Grundlage für das Lehren/Lernen von Latein als - normale - Fremdsprache darstellt. :)
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Beitragvon consus » Sa 23. Jun 2007, 22:59

Was man im Zitat liest, optime Romule, klingt überzeugend; man sollte also überlegen, eher wie in der Prosa nach dem Vorbild Strohs "Aenéadum génetrix" usw. gemäß dem Paenultima-Gesetz zu lesen. Ich gestehe aber, dass es mir doch insbesondere bei Hexametern nicht leicht fällt, da ich aus einer anderen "Schule" stamme.
Richtiger ist es wohl, (a) und (b), wie ich schrieb, zu kombinieren; das geht aber in der Praxis kaum: meine Erfahrung.
Felicissimam noctem!
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Beitragvon Tiberis » So 24. Jun 2007, 00:21

Aber hört euch ruhig Prof. Stroh von dem Link von vorher an, er macht das hervorragend - so sollte es klingen.


salvete, amici pronuntiationis restitutae!

auf die gefahr hin, mich bei den mitgliedern des wilfried stroh- fanclubs :D nachhaltig unbeliebt zu machen - aber ich meine, so sollte es NICHT klingen!
damit mich keiner falsch versteht: ich habe keineswegs die absicht (und es stünde mir auch gar nicht zu) , die verdienste von Wilfried Stroh um die lateinische philologie im allgemeinen wie um die Latinitas viva im besonderen auch nur anzuzweifeln - im gegenteil.
meine kritik bezieht sich ausschließlich auf die art und weise, wie Stroh die o.a. Vergilverse rezitiert.
und da muß ich sagen, dass ich seine affektierte, geradezu asianisch anmutende art des deklamierens für völlig unangemessen halte.
ich spreche dabei nur von den versen 1 - 53 des 4. buchs - länger habe ich es gar nicht ausgehalten, tut mir leid.
aber ich bezweifle, dass das genus grande die adäquate stilebene für diese verse ist.
mehr als störend empfinde ich auch seine aussprache des "r", das viel zu "deutsch" klingt (weil deutlich hörbar als gaumen- r gesprochen; für ein ähnlich markiges "r" war dereinst ein gewisser A.H. berüchtigt), sowie die (normalerweise an schülern zu beobachtende) gewohnheit, am ende eines jeden verses eine pause zu machen, und zwar auch im falle eines enjambements.
weiters irritiert die inkonsequenz des interpreten in der handhabung der elision: z.b. liest Stroh "ille habeat" (v.29) als "ill habeat" , oder v.25 violo aut als "violaut", hingegen v. 51 "indulge hospitio" (richtigerweise) > indulgehospitio ,usw.
auch das "ph" wird einmal wie p (Phoebea v.6) , dann wieder eher wie f gesprochen.
so - genug gemeckert. und trotz aller kritik soll das vielleicht wichtigste nicht in den hintergrund treten, nämlich die absolut überzeugende verbindung von wortakzent und versbetonung, wie sie in prof.Stroh's interpretation zu hören ist.

valete! :)
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