Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

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Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon lera1 » Mo 30. Mai 2016, 21:52

Salvete!
Der Komponist Luigi Dallapiccola (1904-1975) hat im 4. Satz seiner Partita ein vtl. mittelalterliches Weihnachts-, bzw. Wiegenlied verarbeitet. Meine Fragen dazu: Kann das jemand aufgrund stilistischer Eigenheiten näher zeitlich oder sogar örtlich (Entstehungsort) eingrenzen? Gibt es einen Autor, oder ist es anonym? Erkennt jemand vielleicht auch ein Versmaß? (Ich weiß, das ist eine kühne Frage!, gg).
Hier erstmal der Text:

Dormi, fili, dormi. Mater
cantat unigenito.
Dormi, puer, dormi. Pater
nato clamat parvulo.
Millies tibi laudes canimus,
mille, mille, millies.

Lectum stravi tibi soli,
dormi, nate bellule;
stravi lectum foeno molli,
dormi, mi animule.

Dormi, decus et corona,
dormi, nectar lacteum.
Dormi, mater dabo dona
dabo favum melleum.

Dormi, nate mi mellite,
dormi, plene sacchara,
dormi, vita meae vitae,
casto nate utero.

Quidquid optes volo dare,
dormi, parve pupule,
dormi, fili, dormi,carae
matris deliciolae.

Dormi, fili, dulce, mater
dulce melos concinam;
dormi, nate, suave, pater
suave carmen accinam.

Ne quid desit sternam rosis,
sternam foenum violis,
pavimentum hyacinthis
et praesepe liliis.

Si vis musicam, pastores
convocabo protinus.
Illis nullis sunt priores
nemo cantat castius.

Also: Zucker ist schon mal bekannt - es dürfte also verhältnismäßig spät sein.

Das Stück ist übrigens hier zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=kOHt6fkdwHQ

Eigentlich ist das ja sogar eine schöne Stelle für eine Weihnachtsstunde oder Weihnachtsschularbeit (vor allem dann, wenn die Klasse nicht besonders gut ist - sonderlich schwierig ist der Text ja nicht).

Wenn jemand diesbezüglich Ideen hat, wäre ich sehr dankbar!

Peter
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Re: Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon Zythophilus » Mo 30. Mai 2016, 22:03

Metrisch gesehen wechseln akatalektische und katalektische trochäische Tetrameter. Der Rhythmus ist natürlich akzentuierend, als Reimschema haben wir Kreuzreim, wobei Zeile 5 und 6 herausfallen, wohl eine Art Refrain.
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Re: Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon Zythophilus » Mo 30. Mai 2016, 22:17

Ein Autor lässt sich vermutlich nicht finden. Besonders jung ist das Lied aufgrund der Erwähnung von Zucker (im Text sollte nicht zuletzt des Reimes wegen saccharo stehen) nicht unbedingt. In der Spätantike gab es den schon in Rom, auch wenn er sich nicht durchsetze, aber auch ab dem Hochmittelalter war er in Europa präsent.
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Re: Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon lera1 » Mo 30. Mai 2016, 22:25

Danke sehr für die Hinweise! "Saccharo" wäre natürlich richtiger; gesungen wird allerdings "sacchara" - deshalb habe ich das auch so übernommen.
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Re: Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon consus » Di 31. Mai 2016, 10:01

Vielleicht nicht ganz uninteressant in Bezug auf einen Vergleich https://books.google.de/books?id=H9lkAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=thumbnail&q=%20Dormi%2C%20fili%2C%20dormi.%20Mater%20cantat%20unigenito.&f=false, S. 125f. Dort "saccharo" zu lesen. Dass man "sacchara" singt, halte ich schlicht für falsch.
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Re: Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon Willimox » Di 31. Mai 2016, 16:07

Ein paar Fundorte/loci propriizum Weitersuchen: :pc:

Der Text findet sich zitiert etwa hier (Dissertatio versuum homoeoteleutorum sive Consonontiae in poesi neolatina ...) (N.B. "Dormi plene saccharo…"), auch der Hinweis auf den Prager (Veits-Dom-Meister) Josef Antonin Sehling ("Dormi nate, mi mellite").

https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Anton%C3%ADn_Sehling
http://tinyurl.com/hxc458l

Dabei der Hinweis auf eine Quelle, einen älteren Fundort, das psalteriolum cantionum catholicarum des Johannes Heringsdorf S.J.

Soziokultureller Hintergrund von Liederbuch und Verfasser/Sammler/Herausgeber (Jesuit Heringsdorf) wird hier anskizziert:
http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/txt/wz-9694.pdf (vgl vor allem S. 293)

Das Psalteriolum cantionum catholicarum enthält offensichtlich den lateinischen Text, parallel dazu gibt es im deutschen Liederbuch eine deutsche Fassung „Schlaf mein Kindlein, schlaf mein Söhnlein“ (Köln 1638).

Clemens Blume meint in den „Hymnologischen Beiträgen“ von 1897, es sei (S. 86) nicht recht klar, welcher der beiden Texte, der lateinische oder der deutsche, die erste/frühere Fassung ist. Präferenz eher auf den deutschen Text.
http://tinyurl.com/jto7dy6

Es ist also bei Berücksichtigung dieser Internet-Erstinformationen fraglich und wäre zu überprüfen, ob das psalteriolum eine Angabe zum Verfasser oder einen Anonymus-Hinweis listet.

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Re: Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon lera1 » Di 31. Mai 2016, 21:10

Vielen herzlichen Dank für eure Antworten!
Natürlich muß es "saccharo" heißen - dennoch höre ich in beiden verfügbaren Aufnahmen (sowohl in der aus den 50er Jahren, als auch bei der neuen - obwohl man die Sängerin bei der neuen Aufnahme recht schlecht versteht) die Endung -a.
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Re: Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon iurisconsultus » Di 31. Mai 2016, 21:40

Zumindest scheint es die Form sacchara im Mittellateinischen zu geben:

In Habel/Gröbel (Hrsg.), Mittellateinisches Glossar, 2. Auflage (1989) S. 347 steht:
sacchara = saccharon (griech.) Zucker

In Köbler, Lateinisches Abkunfts- und Wirkungswörterbuch für Altertum und Mittelalter (2010) steht:
sacchara, zachara, mlat., F.: nhd. Zucker; E.: s. saccharum; L.: Habel/Gröbel 347, Blaise 969a
saccharon, gr.-lat., N.: Vw.: s. saccharum
saccharum, saccharon, succarum, sucharum, lat., N.: nhd. Zucker; Q.: Plin. (23/24-79 n. Chr.); I.: Lw. gr. sákcaron (sákcharon); E.: s. gr. sákcaron (sákcharon), N., Zucker; aus Pali sakkharõ entlehnt; vgl. ai. sárkarõ, Sb., Grieß, Kies, Körnerzucker; idg. *¨orkõ?, *¨rokõ?, *¨orkelõ, F., Kies, Kiesel, Pokorny 615; L.: Georges 2, 2439, Walde/Hofmann 2, 458, Habel/Gröbel 347, Latham 415a, Blaise 882b

http://www.koeblergerhard.de/Mittellate ... lat-HP.htm
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
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Re: Autor gesucht (mittelalterliches Weihnachts-/Wiegenlied)

Beitragvon consus » Mi 1. Jun 2016, 11:31

Randbemerkung.
Dass es offensichtlich im Mlat. sacchara, ae f. gibt, könnte vielleicht damit erklärt werden, dass die Endung -a (nom../acc. n. pl.) im Vlat. als nom. f. sg. fehlgedeutet wurde. Bekanntes Beispiel: gaudium > pl. gaudia, orum n. > vlat. gaudia, ae > I la gioia, F la joie; entsprechend saccharum > sacchara n.pl. (Synekdoche: Mehrzahl für die Einzahl) > sacchara, ae f.
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