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Beitragvon Laptop » Fr 8. Jul 2016, 23:49

Salvete! Könnte ihr mir bitte bei dieser Stelle von * Platina helfen?
LAELIVS. Quid eſt in diminutis quod cenſeas cognitione dignum? PLATYNA. Varro: hæc nomina magnitudinis appellat quoniam uoce creſcant. Re quidem ipſa interdum diminuta ſint. Interdum uero impoſitiis ſimilia. utputa muſculus qui a mure uidetur deriuari quod eſt tormenti genus: & caro neruoſa in coxis aut brachiis.


quoniam uoce creſcant Weil die Wortlänge zunimmt, werden sie "Wörter der Größe" genannt? Kommt mir etwas haarsträubend vor. Varro zählt Wörter auf -ulus zu den vocabula magnitudinis, das stimmt.

impoſitiis ist wohl ein Druckfehler für "impoſitiuis" = nomina impositiva, auferlegte Namen. Aber was soll das sein? Sowas wie "Karl der Kahle"?

quod eſt tormenti genus Was ist das? Ein Geschütz? Eine Art Folter? Welche?

* Dialogus de flosculis quibusdam linguae Latinae’, einem Wiegendruck über lateinischen Stil aus dem Jahre 1481
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Re: Stelle bei Platina.

Beitragvon consus » Sa 9. Jul 2016, 10:30

Salve, Laptop!
Wie die Worte „magnitudinis vocabula“ (Varro, ling. 8, 79; 9, 74) zu verstehen sind, hat der große Varroexperte (einer meiner akad. Lehrer) Hellfried Dahlmann in seinem Kommentar zum 8. Buch von Varros De lingua Latina erklärt.
Das Adjektiv lautet bei Varro (a.a.O. 8, 5) impositicius. Die „impositicia nomina“ sind Wörter, die ursprünglich den Dingen „beigelegt“ wurden, d.h. gewissermaßen Stammwörter, von denen sich andere Wörter (wie z. B. Diminutiva) ableiten lassen. Vgl. auch dazu Dahlmann a.a.O.
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Re: Stelle bei Platina.

Beitragvon consus » Sa 9. Jul 2016, 11:05

Addendum.
Bei "musculus" denke ich an die "Muskulatur" des Daumens und gelange auf assoziativem Wege zur Daumenschraube, auch polletrum genannt :shock: . Die historisch interessierten Strafrechtsexperten kennen sich da wohl besser aus.
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Re: Stelle bei Platina.

Beitragvon Laptop » Sa 9. Jul 2016, 11:24

Salve Conse! Danke für die Links, das hilft mir schon weiter. Das mit den vocabula magnitudinis wird mir jetzt klar, Varro hat Wortreihen wie cista cistula cistella, als schematische Reihe "Größenwörter" genannt, da cista groß ist, cistula kleiner, und cistella ganz klein. Darf ich davon ausgehen, daß Platinas Erläuterung "quoniam uoce crescunt" falsch ist, denn Varro hat sie nicht vocabula magnitudinis genannt, weil ihre Lautsubstanz zunimmt.

Das mit den impositicia ist mir allerdings noch unklar, gibt es dafür Beispiele? Im Grunde sind doch alle Wörter den Dingen "auferlegt"? :?

Zu musculus: Bin hier noch am investigieren ...
Zuletzt geändert von Laptop am Sa 9. Jul 2016, 12:41, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Stelle bei Platina.

Beitragvon Laptop » Sa 9. Jul 2016, 11:57

Habe nun etwas zu musculus gefunden. Und zwar bei Caesar, Bellum Civile 2.10.2.1., «cuius musculi haec erat forma». Prof. M. C. G. Herzog erläuterte diese Stelle in seinem Kommentar wie folgt:
cuius musculi] “Machina bellica minor vel ad eruendos muros vel ad fossas complanandas: — specula velut mobilis, unde milites tecti murum subruunt.” So bei Lemaire zu B. C. p. 343. Vergl. zu B. G. VII, 84. Die werden getadelt, welche den Musculus mit einer scharfen Spitze als instrumentum od. tormentum, durch das man die Mauern einstieſs, darstellten. Isidor. Origg. XVIII, 11, 4. Musculus cuniculo similis fit, quo murus perfoditur, ex quo et appellatus, quasi murusculus. An solche Etymologie glaubt aber kein Mensch! Man suche das Analogon in cuniculus.
Interessant ist auch was A. H. Baumgärtner dazu schreibt, denn er glaubt zu wissen, was Cäsar mit musculus meinte:
Muſculus cuniculo ſimilis fit, quo murus perfoditur, ex quo & appellatur, quaſi muruſculus. Was dieſer Schriftſteller {Isidor, Anm. d. Verf.} hiedurch verſtanden habe, läßt ſich nicht ſagen. So viel iſt gewiß, daß der Muſculus major und minor deſſen Cäſar gedenket, ein ganz verſchiedenes Werk und nichts anders war, als ein ſchräges Dach zur Bedeckung der arbeitenden Soldaten. Vinea war gewiſſermaßen das nemliche, nur mit dem Unterſchied, daß der Muſculus auf Rollen fortgewälzt werden konnte, anſtatt daß jene getragen wurde, daß die Vinea platt, der Muſculus aber ſchräg gedeckt, überhaupt aber erſtere bei weitem nicht ſo dauerhaft war, als letzterer. Iulius Cäſar beſchreibt ihn vollſtändig in ſeinem zweiten Buch de bello civili.
Otto Schönberger bringt es noch deutlicher auf den Punkt (seiner Ansicht nach):
2,10 Konstruktion und Anrollen einer Minierhütte. Der musculus war massiv aus Holz gebaut; in dieser Minierhütte war ein Sturmbock (aries) angebracht, der eine Bresche in die feindliche Mauer schlagen sollte.
Minierhütte mit Sturmbock klingt plausibel. Denn mit bloß einem “Dach” bewaffnet, stelle ich es mir schwierig vor die Mauern zu durchbrechen.
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Re: Stelle bei Platina.

Beitragvon consus » Sa 9. Jul 2016, 15:28

Servus, Laptop!
Vegetius (um 400 n. Chr.) widmet den musculi, den sog. Grabschildkröten, ein ganzes Kapitel (Epitoma rei militaris 4, 16):
Musculos dicunt minores machinas, quibus protecti bellatores sudatum* auferunt civitatis; fossatum etiam adportatis lapidibus lignis ac terra non solum conplent sed etiam solidant, ut turres ambulatoriae sine inpedimento iungantur ad murum. Vocantur autem a marinis beluis musculi; nam quemadmodum illi, cum minores sint, tamen ballenis auxilium adminiculumque iugiter exhibent, ita istae machinae breviores [uel] deputatae turribus magnis adventui illarum parant viam itineraque praemuniunt.
(Ich bin ein bisschen beruhigt, dass damit nicht die grässlichen Daumenschrauben gemeint sind.)

Was nun die impositicia vocabula angeht, so wird es vermutlich wie in der Genealogie schwierig sein, immer den wahren Ur-Stammvater einer Wortsippe zu finden, hinter den man nicht mehr mit Hilfe von Ableitungen zurückgehen kann; denn auch in Bezug auf Wörter ist "tief ... der Brunnen der Vergangenheit", wie Thomas Mann sagt**, und so wird man über "Anfänge bedingter Art"** wohl kaum hinauskommen. Das Adjektiv impositicius erklärt m. E. Georges recht verständlich; OLD bringt die Übersetzung arbitrarily bestowed. Hilfreich werden etymologische Wörterbücher sein.
_______________________________________________________
*sudatum, i n. munimentum ex sudibus effectum (kein Lemma im Georges).
** Joseph und seine Brüder, Vorspiel, Höllenfahrt 1.
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Re: Stelle bei Platina.

Beitragvon Prudentius » Sa 9. Jul 2016, 17:08

Laptop hat geschrieben: Im Grunde sind doch alle Wörter den Dingen "auferlegt"? :?


Darüber gab es schon bei den gr. Sophisten, den Vorläufern des kritischen westlichen Denkens, eine Diskussion, es stand unter dem Thema "physei - thesei", eine Unterscheidung, was von Natur (physis) aus vorgegeben ist, und was durch menschliche Setzung, thesis, Konvention, aufgebracht wurde; Bsp. das Recht: das von den Göttern gegebene Naturrecht, und das von menschlicher Legislative erlassene Gesetzesrecht.
So auch bei den Wörtern, es war eine diskutierte Frage, ob die Dinge ihre Namen physei oder thesei haben, Platon hat dieser Frage einen Dialog gewidmet, Kratylos, und er endet in der Aporie.
"Imposita nomina", das könnten "beigelegte Namen" (thesei), wir sagen "Metaphern" dazu; die Maus ist ja ein Beispiel dafür, sie hat ihren Platz ganz nahe am Bildschirm.
Dass die Maus auch für Folterarten verwendet werden kann, ist erklärlich, das hat sich ja bis auf unsere Zeit erhalten, dass man einen lustigen Namen verwendet; es gibt ja z.B. das "Waterboarding".
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Re: Stelle bei Platina.

Beitragvon Laptop » So 10. Jul 2016, 03:52

@Conse Verstehe. Mit impositicia wollte Varro die nicht abgeleiteten Wörter von den Derivativa abgrenzen. Sie müssen auswendig gelernt werden, da ihr Name nunmal so ist wie er ist ("arbitrarily bestowed"). Allerdings kenne ich diese Betrachtungsweise nur von Esperanto, wo es Stammwörter gibt und lauter logische Ableitungen. In natürlichen Sprachen ist das nicht so schematisch, daher befremdet mich Varros Einteilung etwas:
Varro_De_Lingua_Latina hat geschrieben:duo igitur omnino verborum principia, impositio (et declinatio), alterum ut fons, alterum ut rivus. impositicia nomina esse voluerunt quam paucissima, quo citius ediscere possent, declinata quam plurima, quo facilius omnes quibus ad usum opus esse(n)t dicerent(ur).
Als ob man nur ein paar Stammwörter lernen müßte und den Rest nicht. Als ob es so einfach wäre! Varros Blick auf die lat. Sprachrealität scheint mir etwas "naiv-mechanistisch".

@Prudenti Ich finde es immer wieder interessant wie Du den weiten interdisziplinären Bogen spannst zw. Mythologie, Geschichte, Grammatik, Mathematik und Logik. Habe wieder etwas gelernt :)
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