ambivalente Adjektive.

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ambivalente Adjektive.

Beitragvon Laptop » Sa 6. Aug 2016, 17:24

Folgende Stelle bei Platyna finde ich interessant:
Odioſus & Inuidioſus paſſione afficiuntur. Eſt enim odioſus ille qui odio habetur: & inuidioſus cui inuidetur: & ut Gellio placet: qui inuidet & odit: ſic formidoloſus: qui timet: & qui timorem affert. Idem de laborioſo & operoſo.


D. h. im Lateinischen sind diese Wörter ambivalent, entweder mit subjektivischem oder objektivischen Sinn:
odiosus: verhasst, oder jemand der viel hasst.
invidiosus: verneidet, oder jemand der viel neidet.
formidolosus: gefürchtet, oder jemand der viel fürchtet.
laboriosus: mühsam, oder jemand der viel zu schaffen hat.
operosus: idem quod laboriosus.

Setzt sich das Schema in weiteren lat. Adjektiven auf -osus fort?

Und eine Zusatzfrage: wie ist "passione afficiuntur" exakt zu verstehen? Der Autor meint es anscheinend objektivisch (sind Projektionsziele eines Gemütsleidens), nicht subjektivisch. Aber woran erkenne ich das? Spontan hätte ich es mit "werden von einem Gemütsleiden ergriffen" übersetzt, was ja offensichtlich falsch ist. :?
Zuletzt geändert von Laptop am Sa 6. Aug 2016, 17:46, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon cultor linguarum antiquarum » Sa 6. Aug 2016, 17:46

Berühmtes Beispiel: Mater dolorosa, hier klar „schmerzerfüllt“, dolorosus kann aber auch „schmerzhaft“ bedeuten.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Laptop » Sa 6. Aug 2016, 18:16

Ja, gutes Beispiel. Kann jemand etwas zu meiner Zusatzfrage sagen?
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Tiberis » Sa 6. Aug 2016, 23:13

ich würde es so verstehen: "...werden von einem "gemütsleiden" betroffen" = werden opfer eines gemütsleidens. der hassende wird zum opfer seines eigenen, der, welcher gehasst wird, wird opfer des "gemütsleidens" eines anderen.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Laptop » Sa 6. Aug 2016, 23:15

Tiberis hat geschrieben:ich würde es so verstehen: "...werden von einem "gemütsleiden" betroffen" = werden opfer eines gemütsleidens. der hassende wird zum opfer seines eigenen, der, welcher gehasst wird, wird opfer des "gemütsleidens" eines anderen.

Ja, ich lese "passione afficiuntur" genauso ambivalent (ie. nichts darüber aussagend ob es das eigene Gemütsleiden ist, oder das einer andren Person), wie du es übersetzt hast. Dann bin ich ja beruhigt, daß meine Latein-Kentnisse nicht ganz so daneben sind.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Prudentius » Mo 8. Aug 2016, 17:45

Laptop hat geschrieben: ... im Lateinischen sind diese Wörter ambivalent, entweder mit subjektivischem oder objektivischen Sinn:
odiosus: verhasst, oder jemand der viel hasst...


Ich würde die Ambivalenz lieber anders einordnen, es sind ja nicht nur diese Wörter ambivalent, sondern alle! Nimm das Wort cum, oder res - eine reine Worthülse. Das liegt daran, dass sprachliche Kommunikation auf der Satzebene, nicht auf der Wortebene stattfindet; nur Sätze sind eindeutig (wenn man Glück hat), Wörter sind mehrdeutig.
Aber abgesehen davon, odiosus kann man auch als eindeutig verstehen: "einer, der etwas mit Hass zu tun hat", oder etwas scherzhaft: "der nach Hass riecht", denn das Suffix -osus kan man ableiten aus einem od - tus, od- von odor Geruch. Ausgangspunkt könnte so etwas wie "hircosus" gewesen sein, "stinkend wie ein Ziegenbock", hircus; dann hat sich das Schema vom Geruchssinn gelöst und bedeutet allgemein so etwas wie "behaftet mit" o.ä.

Also die Ambivalenz tritt erst auf der Satzebene auf, erst im Satz ist erkennbar, ob das odium von odiosus sich auf Subjekt oder Objekt des Hassens beziehen soll.

Ähnlich würde ich auch beim Gen. obj. und subj. argumentieren; ob bei "amor matris" die Mutter Subjekt oder Objekt des Liebens sein soll, hängt nicht davon ab, ob das der Gen. obj. ist oder nicht, sondern davon, in welcher Sinnrichtung das Satzganze gemeint ist. Ich neige dazu, zu bestreiten, dass es überhaupt diese beiden Gen., obj. und subj., gibt; der Genitiv bezeichnet nur "irgendeine Relation", und welche diese genau ist, ergibt sich aus dem Satz.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Prudentius » Di 9. Aug 2016, 09:34

Laptop hat geschrieben: ... ich lese "passione afficiuntur" genauso ambivalent (ie. nichts darüber aussagend ob es das eigene Gemütsleiden ist, oder das einer andren Person) ...


Das ist nicht ambivalent, "passionibus affici" ist eine festliegende Terminologie, bes. bei den Stoikern; ihr Ideal ist der Weise, sapiens, der der virtus, Tugend, nachstrebt, und der Gegensatz ist der Törichte, der den Lastern, vitia, hingegeben ist; zu denen rechnen die passiones, Leidenschaften; also bei Seneca könnte man es so finden (frei von mir improvisiert): "Vir stultus passionibus afficitur", wird von Leidenschaften ergriffen, befallen, beherrscht, berührt, bewegt u.ä.
Die Phrase "passionibus affici" lebt ja bei uns weiter in dem Begriff "Affekte", Gemütsregungen, wie Eifersucht, Habgier, Hass, Neid; sie spielen auf dem Gericht eine Rolle, bei der Abwägung von Schuld, bei der Urteilsfindung, aber ich muss jetzt wohl dem juristischen Sachverstand weichen :-D , ...
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Laptop » Di 9. Aug 2016, 23:02

denn das Suffix -osus kan man ableiten aus einem od - tus, od- von odor Geruch.

Ist diese Herkunft wirklich wahr? Jedenfalls eine interessante These, die mir neu ist.

Bei den Leidenschaften möchte ich allerdings widersprechen, "Leidenschaft" ist ein positiv besetztes Wort, das nicht mehr viel mit "Leiden" zu tun hat. Das lat. passio hingegen trägt noch den Teilsinn des Leidens in sich. Daher hatte ich es auch mit "Gemütsleiden" übersetzt, also all die negativen Gemütsregungen. Nicht die Leidenschaft an sich, die ja etwas fruchtbares und gutes ist.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Tiberis » Di 9. Aug 2016, 23:52

Prudentius hat geschrieben:denn das Suffix -osus kan man ableiten aus einem od - tus, od- von odor Geruch. Ausgangspunkt könnte so etwas wie "hircosus" gewesen sein, "stinkend wie ein Ziegenbock", hircus; dann hat sich das Schema vom Geruchssinn gelöst und bedeutet allgemein so etwas wie "behaftet mit" o.ä.

sehr phantasievoll. :lol: aber bleiben wir doch lieber bei der realität:
mit geruch hat das ableitungssuffix -osus aber schon gar nichts zu tun. es bedeutet auch nicht ein bloßes "behaftet-sein" mit irgendwas, sondern bezeichnet eine fülle, z.b. arenosus = sandig, voll sand usw.
entstanden ist -osus wohl aus -onsus (vgl. formonsus), dazu Kühner-Holzweissig I,1000.
und hircosus bedeutet zwar "stinkend wie ein bock", aber nicht wegen des suffixes -osus, sondern weil hircus im übertragenen sinn nicht den bock, sondern dessen gestank bezeichnet. hircosus bedeutet somit eigentlich "voll mit (bocks)gestank".
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Prudentius » Mi 10. Aug 2016, 16:39

Laptop hat geschrieben:Ist diese Herkunft wirklich wahr?


Da musst du Tiberis fragen :-D !

Ich sehe ja die Ableitung von -od- nur als denkbar an; aber Tiberis, das vielgebrauchte Suffix verliert den urspr. sinnlichen Bezug, wird abstrahiert, d.h. es streift diese Herkunft ab; die Vergrößerung des Begriffsumfangs führt zu einer Verkleinerung des Begriffsinhalts, das "Riechen nach" wandelt sich zu mehr oder weniger intensiver Zugehörigkeit; "Bocksgestank" ist ja sehr intensiv, da hilft nur starker Einsatz von Deo-Spray.
Bei der Schreibung formonsus bin ich nicht sicher, ob es wirklich die ältere Form ist, oder nicht doch eine Hybridbildung, hyperkorrekt für einen vermeintlich geschwundenen Nasal bei -ns-.

Also Laptop, bei sämtlichen Moralbegriffen kommen wir in den Strudel des historischen Wandels der Ideen hinein, virtus Tugend, vitium Laster, und eben passio, Leidenschaft; aber "Gemütsleiden" ist wieder nicht so gut weil das als Verdeutschung der psychoanalytischen Psychose gemeint sein kann.
"Leidenschaft" würde ich wiederum nicht pauschal als gut einstufen, sie muss mit Maß verbunden sein.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Tiberis » Mi 10. Aug 2016, 18:19

Prudentius hat geschrieben:das "Riechen nach" wandelt sich zu mehr oder weniger intensiver Zugehörigkeit

das macht die sache auch nicht plausibler, optime Prudenti. denn -osus bezeichnet, wie wir wissen, nicht eine noch so "intensive" zugehörigkeit, sondern die fülle, den reichtum an etwas. grundsätzlich stellt sich die frage, ob es überhaupt möglich ist, derartige suffixe an einem ursprungswort festzumachen. und wenn, dann scheint mir eine herleitung aus ops (u.a. fülle, reichtum) jedenfalls naheliegender zu sein.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon ille ego qui » Sa 20. Aug 2016, 18:29

m.W. spricht man von Adjektiven, die sowohl "aktive" als auch "passive" Bedeutung haben können. Hierher gehört z.B. auch "tristis" als "traurig = Trauer empfindend" und "traurig machend = Trauer erzeugend" (z.B. liber tristis). Meines Erinnerns (leider kann ich es gerade nicht prüfen) findet sich hierzu auch einiges im Menge (alt).
X-osus hat die Bedeutung "reich an X", was so vage ist, dass es leicht zu derart "verschiedenen Bedeutungen" wie 'Aktiv vs. Passiv' kommen kann.
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon publiovidius » Di 23. Aug 2016, 22:01

Falls es von Belang ist: -osus entspricht dt. -ös und engl. -ous ;)
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon Zythophilus » Di 23. Aug 2016, 22:28

Gibt's eigene Adjektivbildungen mit diesem Suffix oder ist es lediglich das lateinische Suffix, dass in Fremd- oder Lehnwörtern im Englischen und Deutschen in dieser Form auftaucht?
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Re: ambivalente Adjektive.

Beitragvon publiovidius » Di 23. Aug 2016, 22:51

Ich hoffe, ich habe deine Frage richtig verstanden, aber das Problem ist hier natürlich, dass wir manche Wörter, die aus dem Lateinischen oder Griechischen in den deutschen Wortschatz eingegangen sind, gar nicht als solche erkennen (z. B. Erbwörter).
Mein erster Gedanke wäre jetzt z.b. glamourös. Englisches glamour ist aber auch evtl wieder mit grammar verwandt, wie ich gerade sehe (http://etymonline.com/index.php?term=gl ... in_frame=0). "Glamourös" ist natürlich ein Fremdwort, aber ich glaube nicht in der Weise, wie du es im Sinn hattest (ich hatte dich so verstanden, dass du mit Fremdwort in diesem Fall ein lateinisches Wort meinst, an das lateinische Suffix angefügt wird).
Ich bin kein Anglist, aber dangerous z.B. dürfte wohl im Englischen nicht als Fremdwort durchgehen (als Lehnwort aber schon?), obgleich es wohl mit dominus verwandt ist (http://etymonline.com/index.php?term=da ... in_frame=0).
Also um auf deine Frage zurückzukommen: Ich glaube, eigene Adjektivbildungen sind möglich, aber mir fällt gerade kein wasserdichtes Beispiel ein, sorry :verfolgt:

Edit:
Habe gerade noch schnell bei Eisenberg, Grundriss der deutschen Grammatik, Band 1: Das Wort nachgeschaut. Dort steht "os/ös" im Abschnitt zum Fremdwortakzent. Dort geht es aber nur um die Betonung: "Als gemeinsames Charakteristikum des überwiegenden Teils der fremden Ableitungssuffixe gilt ihre Betonheit. Eine Übersicht zum maximalen Bestand an Einheiten, die als hauptbetonbare nichtnative Suffixe infrage kommen gilt ... "os/ös (dubios/ruinös) ...".

Man müsste in diesem Zusammenhang mal einen Germanisten/Sprachwissenschaftler fragen. Ich möchte den Thread aber auch nicht hijacken :oops:
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