pius, ergeben?

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pius, ergeben?

Beitragvon Laptop » Do 22. Aug 2019, 04:24

Bei dem Begriff der pietas dachte ich immer an sowas wie "Treue zu seinen Pflichten" bzw. "Pflichtbewusstsein", denn so oder ähnlich beschreiben es viele Bücher. Nun beschreibt Schmalfeld sie als kindliche Ergebenheit ggü. den Eltern, der Freunde, des Vaterlandes. Das ist etwas völlig anderes: Ich mag von einem Beamten mit bürokratischen Hürden drangsaliert werden, der pflichtliebend in seinen Pflichten voll aufgeht, er ist pflichtbewusst und zugleich herzlos. Die Haltung des Kinds ggü. der Mutter auf der anderen Seite ist eine Herzensangelegenheit, wie auch die Gastfreundschaft. Ich nehme an, Schmalfeld ist akkurat in seiner Beschreibung, und pietas ist eine Art der herzlichen Verbundenheit. Aber was ist dann mit der Liebe der Mutter ggü. dem Kind, ist das auch Pietas? Und was ist mit dem Verhältnis zw. Brüdern ist das auch Pietas? Und zw. Verwandten? Wo endet die Pietas, wo fängt sie an? Gilt sie nur vertikal von unten nach oben (wie das Wort "Ergebenheit" suggeriert), oder auch vertikal von oben nach unten? Ist dem Pate eines Clans auch pietas ggü. seinen Clanmitgliedern zueigen?

Pietas iſt die kindliche Anhaͤnglichkeit und Ergebenheit an die Eltern, die Goͤtter und Perſonen, denen wir Dankbarkeit ſchuldig ſind
Ich bin meinen Kindern keinen Dank schuldig. Auch nicht meinen Brüdern. Bin ich pius ggü. einem der mir zu einem Job verholfen hat? Ja, ich bin dankbar, aber bin ich damit gleich pius? Der Begriff der pietas bleibt mir weiterhin verschlossen.
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon Laptop » Do 22. Aug 2019, 06:28

Ich glaube langsam, daß es den Begriff bei uns so nie gab, und daß er den Römern ganz eigentümlich war. Was die "Verbundenheit" zw. den Blutsverwandten angeht, egal ob von Kind zur Mutter, oder von Mutter zu Kind, oder von Schwester zu Bruder, da gibt es im Dt. die Bezeichnung "Familienbande"; und man kann so etwas sagen wie "Bei euch zuhause, gibt es da eine starke Familienbande?". Allerdings weiten wir diese Vorstellung nicht aus bis hin zur Ahnenpflege oder Heimatpflege, oder gar Feindespflege. Wenn Augustus die Pietas als eine seiner Herrschertugenden ausrief, dannn tat er das sicher nicht, weil er es nur auf seine Familie bezog, sondern gleich aufs ganze Volk, und sogar seine Feinde, denen er sich "verbunden" sah.
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon mystica » Do 22. Aug 2019, 12:17

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Re: pius, ergeben?

Beitragvon Willimox » Do 22. Aug 2019, 16:10

Salute, laptop,

in Ergänzung zu Mysticas Hinweis ein Antwortversuch zu Deinen Überlegungen:

Bei dem Begriff der pietas dachte ich immer an sowas wie "Treue zu seinen Pflichten" bzw. "Pflichtbewusstsein", denn so oder ähnlich beschreiben es viele Bücher. Nun beschreibt Schmalfeld sie als kindliche Ergebenheit ggü. den Eltern, der Freunde, des Vaterlandes. Das ist etwas völlig anderes: Ich mag von einem Beamten mit bürokratischen Hürden drangsaliert werden, der pflichtliebend in seinen Pflichten voll aufgeht, er ist pflichtbewusst und zugleich herzlos. Die Haltung des Kinds ggü. der Mutter auf der anderen Seite ist eine Herzensangelegenheit, wie auch die Gastfreundschaft. Ich nehme an, Schmalfeld ist akkurat in seiner Beschreibung, und pietas ist eine Art der herzlichen Verbundenheit. Aber was ist dann mit der Liebe der Mutter ggü. dem Kind, ist das auch Pietas? Und was ist mit dem Verhältnis zw. Brüdern ist das auch Pietas? Und zw. Verwandten? Wo endet die Pietas, wo fängt sie an? Gilt sie nur vertikal von unten nach oben (wie das Wort "Ergebenheit" suggeriert), oder auch vertikal von oben nach unten? Ist dem Pate eines Clans auch pietas ggü. seinen Clanmitgliedern zueigen?
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Sitten, Sippen, Soziotope: Skizzen zur Semantik von "pietas"

1. Grundbedeutung in der Antike

„Pietas“ dürfte weitgehend den griechischen Begriff „εὐσέβεια“ entsprechen (vgl. D. KAUFMANN- BÜHLER: Art. ‹Eusebeia›. RAC 6, 986–1052). Eine Bedeutung wie „ehrfürchtiges Verhalten, Dankbarkeit und Respekt“. Und dies gegenüber den Göttern, dem Vaterland gegenüber und der vatergeprägten „familia“. Der lateinische Ausdruck ist etymologisch wohl auf „piare“ (reinigen) zurückzuführen, das Adjektiv „pius“ ist dann zu vergeben, wenn in einem religiösen oder quasireligiösen Bereich kultische und ehrfurchtsgeprägte Handlungen ablaufen. Der Frame des Begriffes ist also durchaus verknüpft mit familiären, staatlichen und religiösen Bezirke und deren Überschneidungen, "pius" und "pietas" gilt als Begleitphänomen und Ursache und Leitbegriff bei Kulthandlungen (vgl W. DÜRIG: Pietas liturgica (1958) 12ff.).

Es dürfte deutlich geworden sein, diese Begriffsbestimmung orientiert sich an den historischen Begriffsfeldern und versucht nicht (sofort) diese Begrifflichkeit mit einer sozialen Realität zu vergleichen und dabei die Strategie des Ideologieverdachtes zu exerzieren (etwa religiöse Verbrämung von Machtinteressen patricharchalischer Systeme in Poltitik, Religion, Familie).

2. Bedeutungsregister bei Cicero: pater, patria, beneficia, alimenta, gratia, Reziprokität

Bei Cicero scheint es eine Begriffsdifferenzierung zu geben, in der sich „Verehrung“ weitgehend auf den Umgang mit Göttern bezieht: „pietatem quae erga patriam aut parentes aut alios sanguine coniunctos officium conservare moneat“ (De invent. 2, 66.)

Allerdings finden sich genügend Belege für ein oszilliierendes, umfassendes Denkmodell im Pietas-Frame: „est enim pietas iustitia adversum deos“ De nat. deorum 1, 116.)
Dieses verschränkte Modell lässt sich vielleicht in Passagen von Ciceros „De re publica“ recht gut festmachen:

Die Patria als Spender von „Beficia“ verdient mehr Dank und Ehrfurcht als der leibliche Vater, aber natürlich verdienen beide Dank, so die implizite Argumentation vom Näheren (Vater, Familie) zum Weiteren (Vaterland), vom Geringeren zum Großen, das dann den DAnk umso mehr verdient:
„Sic, quoniam plura beneficia continet patria et est antiquior parens quam is, qui creavit, maior ei profecto quam parenti debetur gratia. (Nonius, p. 426. 9.)“

Interessant das „quoniam“, offensichtlich Signal für eine selbstevidente Aussage, die erst gar nicht diskutiert oder begründet werden muss.

Dieser Dank ist etwa auch die Begründung für ein politisch motiviertes Leben im Sinne des Gemeinwohls:
„neque enim hac nos patria lege genuit aut educavit, ut nulla quasi alimenta exspectaret a nobis, ac tantummodo nostris ipsa commodis serviens tutum perfugium otio nostro suppeditaret et tranquillum ad quietem locum, sed ut plurimas et maximas nostri animi ingenii consilii partis ipsa sibi ad utilitatem suam pigneraretur, tantumque nobis in nostrum privatum usum quantum ipsi superesse posset remitteret.“ (de re publ. 1,8)

Eine moralisch-merkantile Metapher in „pignari“, etwa so: "in Anspruch nehmen, als verzinsbares, zurückzuzahlendes Darlehen ansehen, eine Vorausinvestition vornehmen mit der entsprechenden Dankbarkeitsverpflichtung des Empfängers". Und mit entsprechendem Wohlwollen des Spenders bei rechtem Gebrauch durch den Empfänger.

Die religiöse Dimension wird denn auch im Lohn für politische Tätigkeit präsent; es geht in der Diskussion der Gesprächsteilnehmer um eine Gottähnlichkeit des Polis-Politikers und die für solche pietas zu erwartende Belohnung im Jenseits; Scipio erfährt hier eine Art göttlicher Legitimation seiner/Ciceros Definition von "res publica":

„Sed quo sis, Africane, alacrior ad tutandam rem publicam, sic habeto: omnibus, qui patriam conservaverint, adiuverint, auxerint, certum esse in caelo definitum locum, ubi beati aevo sempiterno fruantur; nihil est enim illi principi deo, qui omnem mundum regit, quod quidem in terris fiat, acceptius quam concilia coetusque hominum iure sociati, quae civitates appellantur; harum rectores et conservatores hinc profecti huc revertuntur. (6,13)

Augustus (und spätere Kaiser) hat (haben) in der pietas-Formel (vgl. die Numismatik) und in der Verehrung für den „pius Aeneas“ als Staatsgründer und Friedenskämpfer und Verwirklicher einer göttlichen Sendung eben in diesem kulturellen Skript die Wirkungsmöglichkeiten gefunden.

Und in der Verehrung ihrer Person und in ihrem Erfolg haben diese Politiker die Reziprokität markiert, also die wechselseitige Verehrung und Belohnung von Bürger, Gott/Götter, Kaiser im Pietas-Feld der Gemeinschaft.

3. Tradition

Man erkennt: Hier wird eine reziproke Verhaltensnorm angesetzt, eine Art von Vertrag zwischen Göttern und Menschen. Etwas, das man auf die Formel bringen kann: Menschliches Wohlverhalten bringt und erfordert Wohlergehen des guten Menschen. Eine Formel, die etwa im AT zu finden ist: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden.“

Eine Norm, die Max Weber – durchaus nicht unumstritten – als kultursoziologisches Erklärungs-Muster ansetzte: Auf der Suche nach dem "Geist des Kapitalismus" akzentuiert Weber den protestantischen Theologen Calvin und seine Doktrin. Der predigt eine neue Prädestinationslehre. Gott hat als allmächtiger Weltregierer schon immer bestimmt, wer als Erwählter in den Himmel und wer als Verdammter in die Hölle kommt. Nur der Erwählte ist beruflich erfolgreich und kann durch harte Arbeit Gottes Ruhm vermehren. Und er kann damit beweisen, dass er von Gott erwählt wurde.

Was eben die mögliche Konsequenz, dass man sich als Erwählter auf die faule Haut legen kann, ins Abseits rückt.

Gelungene Arbeit schafft "Gnadengewissheit".

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Re: pius, ergeben?

Beitragvon Laptop » Fr 23. Aug 2019, 04:43

Aeneas als Personifikation der Pietas, war sicherlich und vor allem treu den Göttern, aber die Pietas war damals nicht auf Gottesfürchtigkeit festgelegt. War er treu seiner Kultur, indem er sich nicht dem Feind assimiliert hat? Ja, aber mit "Kulturtreue" ist der Rahmen der Pietas schon fast wieder zu weit gesteckt, denn es ist ja eher eine Leidenschaft, als bloß konservative Heimatverbundenheit eines bayerischen Kleinbauerns. Ein diffuser Bedeutungs-Rahmen lässt sich durch alle Zeiten abstecken, aber der Bedeutungskern ist, da muss man vor sich selbst auch ehrlich sein, wahrscheinlich für uns nicht greifbar, wenn man bedenkt, daß ein ganze Bücher über die Pietas geschrieben sind, weil man es nicht auf den Punkt bringen kann. Weil es ein uns fremder Begriff ist. Hinzu kommt noch das Problem, dass sich das Begriffsverständnis über die Zeitalter hinweg gewandelt hat. Und was meinten die Westgoten-Könige damals als sie sich den Wahlspruch "pius et justus" gegeben haben? Waren sie mit "pius" der Heimat verbunden? Dem Brauchtum verbunden? der Menschlichkeit verbunden (human)? der Blutsbande? dem Papst? Auch die alten dt. Entsprechungen "prius=fromm" und "justus=redlich", geben kein klareres Bild ab. "Fromm" allein hat bei Adelung 9 Bedeutungen. Eine Begriffsanalyse wäre sicherlich insofern interessant, als daß man zeigen könnte inwiefern und in welchen Details sich unsre dt. Bezeichnungen eben gerade /nicht/ mit dem Begriff der Pietas decken: Andächtigkeit, Gottesfürchtigkeit, Gewissenhaftigkeit, Pflichtbewusstsein, Verantwortungsgefühl, Verbundenheit, Herzlichkeit, Anständigkeit, Sittsamkeit, sie alle sind keine Krüge um die Pietas aufzufangen. Auch unser Begriff des Altruismus ist viel zu abstrahiert von etwas wie der Heiligen Bande zu Brauchtum und Ahnen. Und es gilt nach wie vor die Daumenregel: ein Begriff ist kein Begriff mehr, wenn er nicht mehr als Einheit gedacht wird, weil er nicht kompakt genug formuliert werden kann. Die typisch deutsche "Geborgenheit" ist uns ein Begriff, im Ausland muss sie vielwortig umschrieben werden, dort ist sie kein Begriff mehr. Genauso ist Pietas uns /kein/ Begriff. Sie ist ein Phänomen das wir beleuchten können aber nicht greifen.
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon marcus03 » Fr 23. Aug 2019, 07:30

Das Problem ist m.E., dass pietas ein stark emotionaler Begriff ist, der viele, verschiedene (positive) Emotionen/"Gestimmtheiten" ausdrückt, die man mit einem Wort nicht fassen kann und daher je nach Kontext angepasst werden werden muss.
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon Willimox » Fr 23. Aug 2019, 08:29

Salute, Laptop,

bin mir nicht ganz sicher, auf welche Überlegungen dein Text genau antwortet. Die Lektürehinweise von marcus3 präsentieren mehr und Besseres, als Lexika so leisten können.

Immerhin trotzdem im Problemfeld "Begriffe" (und lexikalische Bedeutung) ein Rekurs auf die von dir angesprochene "Daumenregel". Wie steht es um den Begriffskern von "Heimat" oder "Liebe" in der innerdeutschen Diskussion und Lexikographie? Muss man die Unendlichkeit der Diskussion als Beleg nehmen für die Unmöglichkeit, analytisch die Semantik von "Heimat" zu beschreiben? Ist das die "emotionale" Einbettung, auf die marcus3 zurecht hinweist?

Und wieviel mehr gilt dies dann für deutschfremde Begriffe wie "pietas"? Gibt es überhaupt einen kognitiv-analytischen Zugang zu den mentalen Skripten unseres Wortgebrauchs? Müssen wir uns hier wie dort eingestehen "ignoramus et fortasse et verisimile ignorabimus"?

Und müssen wir dann nicht einfach beredt schweigen?

Ein Zerrbild? Was ist ein "Zerrbild"?

"Beste" "Grüße"

BB

p.s.

eine möglicherweise verstiegen erscheinende Antwort:

Wenn ein sprachlicher Ausdruck A durch einen anderen Ausdruck B analysiert werden soll, so hat entweder A die gleiche Bedeutung wie B – dann stellt aber die Analyse eine bloße Identität dar und ist also irgendwie redundant und nutzlos – oder die Bedeutungen von A und B sind verschieden – dann ist die Analyse aber falsch. –

Die Funktion beider Antinomien in der modernen Semantik besteht darin, die Notwendigkeit einer Unterscheidung verschiedener semantischer Funktionen der sprachlichen Ausdrücke, insbesondere der Unterscheidung von Sinn und Bedeutung hervorzuheben und eine entsprechende Differenzierung des Substitutionsprinzips zu motivieren.

Das kann etwa durch eine Analyse erfolgen, die auf die Einbettung von Lexemen/Wörtern in Frames (und Scripten/Narrativschemata) achtet.
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon Laptop » Fr 23. Aug 2019, 23:56

Ein Begreifen ist aber mehr als nur das Verarbeiten einer tadellos gezimmerten semantischen Beschreibung. Wir verankern unsre muttersprachlichen Begriffe ganz konkret an erlebten Momenten, ansonsten sind Begriffe für uns nicht real, nicht mit der Realität verbunden. Willimox, wenn Dir pietas ein Begriff ist, kannst Du dann sagen, in welchen Alltagssituationen Du in letzter Zeit pietas erlebt oder selbst durchgeführt hast?
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon cometes » Sa 24. Aug 2019, 03:05

Wenn wir gegenwärtig noch ungebrochen von Pietät reden, dann in einem Bereich, der zu den Quellgebieten des antiken Verständnisses gehört. Es geht um die angemessene Beziehung zu den Toten, die einen reinigt, also abgrenzt und frei macht, wobei wir einerseits den Umfang des Geschuldeten reduziert haben. Unsere Bestattungen sind kurz, die Trauerzeit informell, wir halten keine Parentalia mehr ab, besuchen aber doch zyklisch die Friedhöfe, wir opfern nicht mehr an Hausaltären, die sorgfältig gerahmten Photographien der teuren Toten in den Wohnungen sind höchstens ein schwacher Abglanz der imagines usw. (eigentümlicherweise ist unsere Epoche kulturell von der Idee besessen, dass die Toten zurückkehren oder auf die rituell nur schwach abgesicherte Welt der Lebenden übergreifen). Auf der anderen Seite haben wir gewisse Aspekte pietätvollen Verhaltens universalisiert. Sie werden von jedem im Umgang mit und Reden von Verstorbenen erwartet, nicht bloß den Angehörigen eines Familienverbandes.
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon Willimox » So 25. Aug 2019, 17:20

Salute, Laptop,

nach der Lektüre deiner Passage

Laptop hat geschrieben:Ein Begreifen ist aber mehr als nur das Verarbeiten einer tadellos gezimmerten semantischen Beschreibung. Wir verankern unsre muttersprachlichen Begriffe ganz konkret an erlebten Momenten, ansonsten sind Begriffe für uns nicht real, nicht mit der Realität verbunden. Willimox, wenn Dir pietas ein Begriff ist, kannst Du dann sagen, in welchen Alltagssituationen Du in letzter Zeit pietas erlebt oder selbst durchgeführt hast?


und den Ausführungen von Cometes scheint mir dein Argument nicht ganz einfach verstehbar und könnte vielleicht so beschrieben werden:

(1) Die Bedeutung eines muttersprachlichen Wortes lässt sich am besten erfassen, wenn man es in seinen Anwendungssituationen gehört und somit "lebendig" erlebt hat.

(2) Ein Wort oder Lexem ruft innerhalb derselben Sprache bei ihren Benutzern gemeinsame oder fast gemeinsame Vorstellungen auf. Diese sind denotativ und auch konnotativ in den Lexemen "mitgegeben".

(3) Fehlt diese Erlebnissituation, so ist die Bedeutung eines entsprechenden Wortes nicht zu fassen.

(4) Genau genommen geht es darum, dass die emotionale Dimension und überhaupt das Bewusstsein des Sprechers mit einem Wort und in der Sprache nur unzureichend erfasst wird und so prinzipiell unzugänglich ist, setzt man vollkommenes Verstehen als Ziel.

(5) Dieses Dilemma verschärft sich noch, wenn man es mit nicht muttersprachlichen, also fremdsprachlichen Begriffen zu tun hat.

(6) Eine semantische Analyse eines fremdsprachlichen Textes und der darin auftauchenden Frames und Scripte ist daher immer oder meistens vom Irrtum oder vom Nichtverstehen begleitet und bedroht, in noch größerem Umfang als bei muttersprachlichen Texten.


Frage 1:
Können wir erst einmal bei muttersprachlichen Ausdrücken bleiben?

Frage 2:
Solchen, die man ungefähr, also mehr oder weniger, nach der "Daumenregel" richtig verstehen kann?

Frage 3:
laptop, wenn Dir "tadellos gezimmerte semantische Beschreibung" ein aus Begriffen aufgebauter Begriff ist (sit venia accumulationi) und ein Begriff des "Sitzes im Leben" bedarf, kannst Du dann sagen, in welchen Alltagssituationen Du in letzter Zeit eine "tadellos gezimmerte semantische Beschreibung" erlebt oder selbst durchgeführt hast?

Frage 4:
Gehen wir auf ein praktisches, durchaus komplexes Problem ein, den Stellenwert einer zentralen Zeugen-Aussage im Chemnitzprozess (Beschreibung weitgehend gestützt durch einen Artikel der SZ vom 23. August 2019):

Friseur Alaa S., 24 Jahre alt, 2015 aus Syrien geflohen, ist angeklagt, Daniel H. in einem Streit niedergestochen zu haben.

Keiner von Daniel H.s Freunden, die damals beim Stadtfest um ihn herumstanden, kann sich noch sicher daran erinnern, den angeklagten Alaa S. in dem Handgemenge zustechen gesehen zu haben. Andere Zeugen reden immer wieder von dem in den Irak geflohenen Farhad A., 22, dass dieser aggressiv gewesen sei und Daniel H. angegriffen habe. Nur ein einziger Zeuge sagt, er habe den Angeklagten Alaa S. beim Angriff auf Daniel H. gesehen: der Koch des Dönerrestaurants "Alanya".

Younis Al-N. ist Koch und Zeuge im Chemnitzprozess gegen Alaa S., der Koch ist 30, untersetzt und sehr nervös. Auf seine Aussage stützt sich der Staatsanwalt, auf ihn stützt sich auch das Gericht. Der Koch will damals, in jener Sommernacht, Schreie gehört haben. Es war schon drei Uhr nachts.

Gerade noch hatten Alaa S. und ein paar Kumpel bei ihm Döner gekauft, jetzt spurteten sie los, nach draußen. Dort lag Farhad A. auf dem Boden. Der Iraker Farhad A.- so die Aussagen seiner Freunde - hatte Daniel H. gefragt, ob er Kokain habe. Der aber habe nur gesagt: "Verpiss dich." Farhad A. griff den Mann an, der versetzte ihm einen Faustschlag.

Und der Koch will sich aus dem Fenster des Dönerladens gelehnt und gesehen haben, was weiter geschah.

Der Koch sagt: Alaa S. habe mit Farhad A. kurz geredet und sei dann auf Daniel H. losgegangen. Alaa S. habe den Deutschen Daniel H. mit der linken Hand am Hals gepackt und mit der Rechten auf ihn eingewirkt, mit Armbewegungen, wie man sie nur macht, wenn man mit dem Messer zusticht. So hat er das in drei Vernehmungen bei der Polizei gesagt.

Dann, im Dezember, hat er dem Ermittlungsrichter gesagt, er sei falsch verstanden worden. Von Stichen habe er nichts gesagt. Jetzt, vor Gericht, will er am liebsten gar nichts mehr sagen, weil er sich ja selbst widersprochen hat. Richterin Herberger droht ihm 500 Euro Ordnungsgeld an oder fünf Tage Ordnungshaft. Das Gericht will diesen Zeugen unbedingt haben. Sein Anwalt sagt, das könne der Mann nie und nimmer bezahlen. "Das Einzige, was Sie damit erreichen, ist, ihn zu drangsalieren", hält er dem Gericht vor. Die Richterin geht auf 300 Euro herunter.

Aber der Mann muss aussagen. Er kommt mit Personenschutz. Der Zeuge soll bedroht worden sein von Freunden von Alaa S., man habe ihm gesagt, er werde im Sarg in seine Heimat zurückkehren.

Der Koch hatte bei der Polizei auch gesagt, Farhad A. und Alaa S. seien weggelaufen und beide hätten blutige Hände gehabt. Der Zeuge sitzt jetzt im Gericht und sagt plötzlich, blutverschmierte Hände habe er nicht gesehen. Die Richterin fragt: "Haben Sie Blut an Farhad gesehen?" "Nein", sagt der Koch. "Und bei Alaa?" "Nein", sagt er wieder. Wie diese Aussage denn dann ins Protokoll der Polizei komme, fragt die Richterin. Er sei falsch übersetzt worden, sagt der Koch. Die Richterin liest ihm noch mal vor, was er da gesagt hat: dass Farhad und Alaa mit blutverschmierten Händen weggelaufen seien. "Das stimmt nicht", sagt der Koch.

Auch das mit dem Zustechen stimme nicht mehr. Er habe nicht gesehen, wie Alaa S. zugestochen habe. Der Zeuge ballt die Fäuste. Er habe nur so Boxbewegungen gemacht. "Es gab kein Stechen, nur Schlagen." "Welche Aussage ist jetzt die richtige?", fragt die Richterin. "Ich weiß es nicht mehr", sagt der Zeuge und zerbricht vor Anspannung fast den Stift zwischen seinen Fingern. Er sagt, er habe gar nicht viel gesehen, da seien so viele Menschen gewesen. "Was sollen wir von der Aussage halten?", fragt die Richterin. "Es kann sein, dass ich was gesagt habe, aber ich erinnere mich nicht mehr", sagt der Koch.

Das Gericht hält dennoch viel von dieser Aussage. So viel, dass es darauf sein Urteil aufbaut. Die Aussage des Kochs Younis Al-N. sei nicht untauglich, wie von der Verteidigung behauptet. "In den ersten Vernehmungen hat Al-N. die Täter klar benennen können", sagt Richterin Herberger. Seine widersprüchlichen Aussagen vor Gericht führt sie auf die Bedrohungen zurück. Er sei verunsichert gewesen und habe sich deswegen auf Sprachschwierigkeiten zurückgezogen. Dass es sich um eine Falschaussage handeln könnte, glaubt sie nicht. Auch "aufgrund seiner intellektuellen Begabung". Was wohl bedeutet: So etwas könne sich der schlichte Mann nicht ausdenken.

4a)
Ist diese komplexe Aussagesituation dazu geeignet, die ersten Ausführungen von Younis für belastbar und wahr zu halten?
4b)
Ist dieser Aussagenkomplex so beschaffen, dass er - versteht man ihn richtig - begründeten Zweifel an der Schuld des Angeklagten erlaubt?
4c)
Falls man - etwa als Geschworener - für begründeten Zweifel stimmt: Ist hierbei das Verstehen der Sätze in dem Aussagenkomplex beeinträchtigt? Oder lässt sich erkennen, dass eben die gewisse Widersprüchlichkeit der Aussagen ihren Wahrheitswert beeinträchtigt (hat)?
4d)
Was besagt das über den Einfluss situativ fundierter Begriffsgebräuche auf richtiges oder unrichtiges Verstehen?
4e)
Ist recht deutlich geworden, dass man Begriffe in einem ganz erheblichen Ausmaß verstehen muss, will man sie in Alltagssituationen und strittigen Fällen gebrauchen?
4f)
Darf man - will man Gerechtigkeit - eine Gerichtsbarkeit auf der Basis sprachlicher Aussagen überhaupt praktizieren, da doch sprachliche Aussagen prinzipiell nicht bis zum letzten ausdeutbar sind?

Numerativ-linguistischer Overkill? Ödes Gedöns? In der Hoffnung, dass diese Fragen nicht als inquisitorisch verstanden werden :wink:

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Re: pius, ergeben?

Beitragvon Laptop » Mo 26. Aug 2019, 13:41

Ich ordne pius einstweilig unter "fromm" in mein Gedächtnis ein. Das Wort wird neuerdings gemieden, weil es heute nur als "gottesfürchtig" verstanden wird, was aber falsch ist, denn ein "frommes Lamm" ( eine allg. bekannte Kollokation mit dem Wort fromm ) kann nicht gottesfüchtig sein, da es keinen Gott kennt. Es kann höchstens unschuldig sein (vor den Gesetzen Gottes), da es arglos und harmlos gar nicht sündigen /kann/. Und ich weiß zwar jetzt nicht in welchem Gebot Gottes die Gastfreundschaft angeordnet ist, aber vielleicht hatten die Römer damals etwas derartiges und es ist verlorengegangen.

Willimox, ich versuche es:
Antwort zu Frage 1: Ja, wir können bei muttersprachlichen Ausdrücken bleiben.
Antwort zu Frage 2: Ja.
Antwort zu Frage 3: Ich sagte Begriffe die nicht an Erlebtem verankert, werden nicht als real empfunden. Es gibt viele irreale Begriffe, etwa wie in der Mathematik die irrealen Zahlen zum Bestand gehören.
Antwort zu Frage 4a: Es geht vor Gericht nicht so sehr um wahr oder unwahr wie in der Logik, sondern um ein Ermessensurteil des Richters.
Antwort zu Frage 4b: Zweifel darf es geben, senkt die Beweislage eine Wagschale zu tief nach unten, dann haben die Zweifel keinen Einfluss mehr auf das Urteil.
Antwort zu Frage 4c: Widersprüchlichkeit muß im Kontext der situativ geänderten Motivation beurteilt werden. Den Richter für dumm verkaufen fließt auch ins Urteil ein.
Antwort zu Frage 4d: Kann ich nicht sagen.
Antwort zu Frage 4e: Man muß sie nicht verstehen, sonst gäbe es keine Mißverständnisse. Über die Übersetzungsbarriere in diesem Fall kann ich auch nichts sagen.
Antwort zu Frage 4f: Gute Frage, die Basis ist das Bild, was der Beklagte abgibt, nicht nur sprachlich, sondern auch mit seinem ganzen Gebaren, und seiner Glaubwürdigkeit. Die Sprachlichkeit ist nur ein Teil des Bildes.
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon marcus03 » Mo 26. Aug 2019, 15:07

Laptop hat geschrieben: Das Wort wird neuerdings gemieden, weil es heute nur als "gottesfürchtig" verstanden wird

Oft zu hören ist: ein frommer Wunsch
"ein Wunsch, der keine Aussicht auf Verwirklichung hat; ein gut gemeinter, aber unrealistischer Wunsch; vergebliche Hoffnung"
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon Zythophilus » Mo 26. Aug 2019, 15:45

Ich würde pietas im Normalfall auch mit "Pflichtbewusstsein" übersetzen, aber wenn ich nachdenke, ist "Pflicht" nicht immer passend, auch das "Bewusstsein" macht es sehr rational.
Jemand ist dann pius, wenn er seinem gebildeten Gewissen folgt. Das christliche Latein schränkt pius auf den religiösen Bereich ein. Die Übersetzung "fromm" hat zudem den Nachteil, dass das Wort heutzutage nicht mehr verstanden wird, weil man eher modern "spirituell" sagt.
Aeneas zeigt, dass es verschiedene Abstufungen der pietas gibt, die in Konkurrenz zueinander treten können.
Wie sieht eigentlich ein Renaissance-Gelehrter wie Silvio Enea Piccolomini das Wort, wenn er, mit seinem bürgerlichen und seinem Papstnamen spielend, Aen. I 372 zitiert Sum Pius Aeneas?
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Re: pius, ergeben?

Beitragvon marcus03 » Mo 26. Aug 2019, 16:10

Zythophilus hat geschrieben:Ich würde pietas im Normalfall auch mit "Pflichtbewusstsein" übersetzen

Dazu eine interessante Unterscheidung von Kant:
http://www.philosophie.uni-mainz.de/hei ... _01_10.pdf
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