Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon Zythophilus » So 8. Nov 2020, 20:53

Die meisten Texte erzählen von Personen in der 3.P.Sg. oder Pl.. Selbst Caesar tut dies, um den Anschein von Distanz zu erwecken. Damit kommt in der Oratio obliqua hauptsächlich der AcI mit se als Subjektsakkusativ und GSe mit Konjunktiven in der 3.P.Sg. oder Pl. vor. Die Möglichkeit, dass da die 2. oder 3.P. sinnvoll zur Verwendung kommt, ist nicht hoch.
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon marcus03 » Mo 9. Nov 2020, 10:28

Beispiel:
Zwei Freunde treffen sich. Dabei erinnert A den B an dessen Aussagen aus einem früheren Gespräch:
Du sagtest damals: Du hättest geheiratet ...
Irgendein Kontext lässt sich fast immer finden. :D
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon Willimox » Mo 9. Nov 2020, 19:52

Nun eine repetitio, siehe oben, wo schon mal auf den entsprechenden Paragraphen des neuen Menge (§ 472) hingewiesen wurde. Zuerst der Standard, dann das Seltene.
Also bei aller Seltenheit der Erscheinung eben doch auch "klassisch".

Neuer Menge:

Die Pronomina, welche sich in der direkten Rede auf das Subjekt des regierenden Satzes beziehen, also auf die erste Person verweisen, werden in
der indirekten Rede durch die entsprechenden Reflexivpronomina der dritten
Person (sui, sibi, se, suus), manchmal auch durch das Intensivpronomen
ipse (vgl. § 85,3) oder das Demonstrativum is (vgl. § 85,6) ersetzt; in einem
Gliedsatz wird der Nominativ der ersten Person (ego, nos) in den entsprechenden
Nominativ von ipse verwandelt. Die zweite und dritte Person der direkten
Rede werden (besonders bei Hervorhebung) in der Oratio obliqua gewöhnlich
mit ille ausgedrückt, bei schwächerer Betonung durch is oder einen
Eigennamen:

Anm.: Natürlich sind auch andere Kombinationen denkbar; so kann derjenige, der die indirekte
Rede wiedergibt, identisch sein mit der zweiten Person der direkten Rede: aus ‘Ich
habe dir den Hund verkauft’ wird ‘Markus behauptet, er habe mir den Hund verkauft.’

Ariovistus respondit: Si ipse populo Romano non praescriberet, quemadmodum
suo iure uteretur, non oportere sese a Caesare in suo iure impediri (Man
beachte die unterschiedlichen Bezüge des Reflexivpronomens.) (Gall. 1,36,2).
Si quid ille se velit, illum ad se venire oportere dixit (Gall. 1,34,2).

Zuweilen kann ein Pronomen der ersten Person Plural unverändert
übernommen werden, wenn derjenige, der die Rede eines anderen wiedergibt,
sich dessen Gruppe zugehörig fühlt.

Titurius clamitabat aliter Eburones tanta contemptione nostri (von uns, d.h.
von den Römern) ad castra venturos numquam fuisse (Gall. 5,29,1f.)
Weitere Stellen: inv. 2,131.134.139.

De Inventione:

Man vergleiche etwa hier in Ciceros Jugendwerk "De inventione" (2, 139) das "vos":

Bild
:book:
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon cometes » Fr 27. Nov 2020, 00:03

Die prototypische Situation der indirekten Rede ist die Mitteilung der Äußerungen eines abwesenden B durch einen Sprecher A an einen Zuhörer C. Hat B über C gesprochen, adressiert A ihn, also C, im Referat in der zweiten Person. Ob es sich nun um Haupt- oder Nebensätze handelt, spielt dabei keine Rolle:

B spricht mit A über den abwesenden C: C hütet das Bett, weil er ein Fußleiden hat.
A schreibt später einen Brief an C, in dem er ihm diese Behauptung des nun abwesenden B referiert:
B hat behauptet, du lägest im Bett, weil du ein Fußleiden hättest.

(M. Caeparius [...] dixit te in lecto esse quod ex pedibus laborares (Cic. ad fam. 9,23))

Die Antwort auf die Frage, warum derartige Referatssituationen in der antiken Literatur Seltenheitswert besitzen, findet man nicht in der Grammatik, sie hat auch nichts mit Klassizitätsparadigmen zu tun, ihre Erörterung gehört m.E. in das Zwischengebiet von Literaturgeschichte und kommunikationsorientierter Textlinguistik.
Zuletzt geändert von cometes am Fr 27. Nov 2020, 11:47, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon Willimox » Fr 27. Nov 2020, 10:30

Ja, im Standardfall spricht B nicht über C und ebenso ist es Standard/prototypisch, dass A nur Ohrenzeuge oder sonstiger "Gewährsmann" von B's direkter Rede, also "unbeteiligt" ist.

Daher, wegen diesem typischen "Fernhorizont", die Dominanz der "fernen" Dritten Person in der indirekten Rede.

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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon cometes » Fr 27. Nov 2020, 11:28

Das hängt von der Kommunikationssituation ab. In Arbeits-, Bekanntschafts-, Freundschafts- und Liebesverhältnissen bringen Menschen mitunter viel Zeit damit zu, sich referieren zu lassen, was gerade Abwesende über sie geäußert haben, oder sie referieren sich gegenseitig, was sie einmal (angeblich) zu einander gesagt oder nicht gesagt haben.
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon Willimox » Fr 27. Nov 2020, 12:35

Das leuchtet ein, vollkommen. In halboffiziellen bis privaten Kommunikationssituationen.
Tradiert wurden natürlich vor allem Zeugnisse von "öffentlichem" Interesse.
Äh, und vielleicht ist die indirekte Rede auch in solchen privaten Kommunikationssituationen ein bisschen "elaboriert". Und daher eine Tendenz zu einfacheren Mitteln?..... Das gilt nicht für "gefinkelte" Briefschreiber wie Cicero.
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon cometes » Fr 27. Nov 2020, 13:10

Ja, was gäbe man wenigstens um die von Caesar eingeführten stenographischen Senatssitzungsprotokolle, die, wenn ich nicht irre, schon seit Augustus der Öffentlichkeit vorenthalten wurden.

Zu elaboriert sind m.E. nur gewisse standardsprachliche Optionen (die, haben sie keine substantielle Funktion, verlässlich abgebaut oder vielleicht besser gar nicht erst aufgebaut werden wie der meiste Konjunktivgebrauch in der indirekten Rede im Deutschen). Die Grenze der Vereinfachung ist indes konstitutiv gegeben, selbst die simpelste Alltagskommunikation muss Indirektheitskontext herstellen und klarmachen, über wen der Referierte gesprochen hat. Das führt zur interessanten Frage, auf welche Weisen in Abhängigkeit von der Kommunikationssituation diese Minimalbedingungen im Lateinischen hergestellt werden können und was sozusagen verzichtbare Features, die vorrangig der Distinktion dienen, sind.
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon Willimox » Fr 27. Nov 2020, 13:47

Ich vermute mal, es gibt entsprechende Perspektivensignale wie im Deutschen:
Quid Caesar sentit? Hoc
Ciceroni magni momenti est. Ut ait Cicero.
Danach dann eben indikativische Formeln, mehr oder weniger komprimiert bis hin zum Telegrammstil oder Schlagzeilenstil?
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon Sapientius » Fr 27. Nov 2020, 16:39

... das Intensivpronomen ipse
(Neuer Menge).

Was ist denn dann idem für ein Pronomen?
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon marcus03 » Fr 27. Nov 2020, 16:48

Sapientius hat geschrieben:Was ist denn dann idem für ein Pronomen?

Identitätspronomen (MBS § 81)
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Re: Oratio obliqua ( für Fortgeschrittene)

Beitragvon Sapientius » Sa 28. Nov 2020, 20:19

"Identitätspronomen" und "Intensivpronomen" für idem und ipse - das sind ganz schlechte Benennungen, denn sie erwecken den Eindruck als hätten die beiden nichts miteinander zu tun; dabei sind sie ja eins, man sieht es schon an der Übersetzung, "derselbe" und "der ... selber", auch schon im Gr. autos: "ho autos" derselbe, und "autos ho" er selber.
Da das L. keinen Artikel hat, muss es zwei Wörter geben. Die Terminologie sollte das widerspiegeln, aber nicht den Sachverhalt verschleiern.
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