*extrovertiert, warum eigentlich falsch?

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Re: *extrovertiert, warum eigentlich falsch?

Beitragvon iurisconsultus » Mo 24. Mai 2021, 18:07

ME hat die ganze Diskussion schon einen Wurzelmangel in der Behauptung, die Präp. „extro“ habe es in der (maßgeblichen Periode [?] der) lateinischen Sprache nicht gegeben. Die Wahrheit ist, wir wissen es nicht mit ausreichender Sicherheit, denn der mit Abstand größte Teil ist gar nicht auf uns gekommen. Im Übrigen gehen sehr viele lateinische Lehnwörter auf das Mittellatein zurück, welches aus Sicht mancher Philologen per se verderbt sei. Damit müsste man konsequenterweise auch viele Lehnwörter ablehnen, was nachgerade absurd wäre.

Zur möglichen Analogiebildung siehe „extro, are“ in Analogie zu „intro, are“ (Lucius Afranius): https://alatius.com/ls/index.php?l=extrabunt, https://archive.org/details/comicorumro ... =Extrabunt
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Re: *extrovertiert, warum eigentlich falsch?

Beitragvon Laptop » Mo 24. Mai 2021, 22:02

Medicus domesticus hat geschrieben:Apropos Duden:
Meine Oma war eine 1899 geborene. Sie hat bis zu ihrem Tod handschriftlich immer noch in Deutscher Schrift geschrieben. Lateinische Schrift nur in Druckbuchstaben. Tür immer Thür und Tor immer Thor. Sie wollte sich nicht umstellen. Ich kenne heute noch einige, die handschriftlich immer daß schreiben und nicht dass….Aus Gewohnheit..


Ja, Thür und Thor sind auch vernünftigte Schreibungen, und es ist nicht gut gewesen das "h" da rauszunehmen. Ich höre immer wieder das Argument "Sprache ist lebendig", was ich als eine Nebelkerze empfinde. Denn es gibt Kulturen wie Frankreich, die pflegen und bewahren die Schreibungen, andre tun es nicht, wie wir Deutschen. D. h. es hat nichts mit Sprache an sich zu tun, sondern mit dem Umgang mit ihr. Es gibt keine natürliche Kraft, wie ein Naturgesetz, daß uns dazu zwingt, alle 25 Jahre eine Rechtschreibreform zu machen, und Eltern und Kinder in Verwirrung zu bringen. Meiner Erfahrung nach sollte man die wenigen Standards die man hat, als Errungenschaft betrachten und weitestgehend bewahren. Ständiges Bäumchenwechseldich bringt auf lange Sicht nur Nachteile mit sich.
Zuletzt geändert von Laptop am Mo 24. Mai 2021, 22:11, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: *extrovertiert, warum eigentlich falsch?

Beitragvon Laptop » Mo 24. Mai 2021, 22:10

@iurisconsultus Es gibt wohl kaum eine tote Sprache die derart gut belegt ist und reich an Quellen wie das Lateinische. Ich halte es für weit hergeholt, daß es irgendwo ein "extro" standardsprachlich gegeben haben sollte, von dem wir nichts wüssten. Zumal es kein Nischenbegriff ist.

iurisconsultus hat geschrieben:Damit müsste man konsequenterweise auch viele Lehnwörter ablehnen, was nachgerade absurd wäre.

Das ist eine überspitzende Argumentiertechnik. Man muss die Lehnwörter nicht ablehnen, man kann sie korrigieren. Und daß das mittalterliche Latein verderbt ist, das ist nun wirklich kein Streitfall mehr. Aber Sprachpflege ist ja verpönt, und man redet sich diese Nachlässigkeit schön mit solchen Ausdrücken wie "lebendig", "natürlich", oder "demokratisch". Jeder soll doch so sprechen und schreiben wie er möchte. Aber das heisst ja nicht, daß man alles Gebräuchliche zum Standardsprachlichen erklären muss.
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Re: *extrovertiert, warum eigentlich falsch?

Beitragvon Zythophilus » Mi 26. Mai 2021, 16:21

Die Begriffe "extra-" und "introvertiert" sind keine, wenn so will, normalen Fremdwörter, sondern bewusste Schöpfungen des Psychologen C.G.Jung. Der bildete beide korrekt. Das - vermutlich häufigere - Wort des Gegensatzpaares, "introvertiert" scheint auch auf das andere gewirkt zu haben, sodass die Form "extrovertiert" mittlerweile die häufigere und auch großteils akzeptierte ist. Ein Rückgriff auf ein zu postulierendes extro ist daher nicht zielführend, weil niemand diese Form braucht, um "extrovertiert" zu erklären.
Die Erklärung von "Pazifist" ist ähnlich. Es ist schlicht eine moderne Verballhornung des ursprünglichen Fremdorts "Pazifizist".
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Re: *extrovertiert, warum eigentlich falsch?

Beitragvon Laptop » Mi 26. Mai 2021, 16:55

Zythophilus, er bildete extravertiert eben nicht korrekt, Tiberis hat doch schon gesagt, daß "extra" kein Richtungsadverb ist, und daher vom Sinn her nicht passt. Man ist ja "_nach_ außen gekehrt" nicht "im/am außen gekehrt".
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Re: *extrovertiert, warum eigentlich falsch?

Beitragvon ille ego qui » Mi 26. Mai 2021, 22:42

Es gibt keine natürliche Kraft, wie ein Naturgesetz, daß uns dazu zwingt, alle 25 Jahre eine Rechtschreibreform zu machen, und Eltern und Kinder in Verwirrung zu bringen.


Obiter:
Der "Skandal" der letzten sog. Rechtschreibreform bestand darin, dass sie GEGEN jeden (!) Usus gerichtet und von oben verordnet war.
Um auf dem sprachlichen Stand der Zeit zu sein (wer wäre Duden, um bestimmen zu dürfen, was die Norm sein soll!), bedarf es keiner großen Reformen; das ist ein schleichender und natürlicher Prozess.

Das Normdenken innerhalb der Rechtschreibung ist übrigens sehr jung, man führt es oft eben auf Duden zurück (trotz der zumindest heute, wenn nicht schon eigentlich immer explizit deskriptiven Haltung des Werks, auch wenn es immer normativ gelesen wurde und wird!). Ganz große Schriftsteller der Vergangenheit kamen ohne aus ;-)
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