Caligula im Schulbuch

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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon iurisconsultus » So 13. Jun 2021, 18:27

Claudia, alles, was du sagt, würde ich unterschreiben. :) ME braucht es zwei Dinge, um Latein gut zu erlernen: Extensives Lesen verschiedener Autoren und Textsorten (legere discitur legendo) und dazu gerade so viel Sachwissen, um die Texte richtig übersetzen und einordnen zu können. Ich habe seinerzeit mit teilweise adaptierten Livius-Texten meine ersten Gehversuche gemacht und, sofern ich nicht bereits an meinen Lateindefiziten scheiterte, dann waren meine Übersetzungen doch nicht selten unsinnig, weil es mir am politischen, staatstheoretischen, geschichtlichen, kulturellen usw. Sachverstand ermangelte.
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon ClaudiaK » So 13. Jun 2021, 18:53

Der folgende Text stand eigentlich vor dem von iurisconsultus. :? Ich habe ihn kürzer nochmal eingestellt.

Quellenkritik ist eine wichtige Fähigkeit, besonders, und das hat iurisconsultus angemerkt, weil auch heutzutage bei jedem Textstück aus der Zeitung oder gar aus dem Internet nach Herkunft, Wahrheitsgehalt und Interessenlage gefragt werden muss.

Wenn ich allerdings als Lehrerin die Schüler oder Schülerinnen
a) die Rezension lesen lasse oder gar das ganze Buch oder
b) selber darauf aufmerksam mache, dass Caligula mit seinen Verrücktheiten die Senatoren strategisch demütigen möchte und diese sich dann mit pathologisierender Geschichtsschreibung rächen,
dann haben sie noch keinen eigenen Meter weit selbständig gedacht. Dann haben sie
a) einem Menschen beim Nachdenken zugesehen oder
b) die Ergebnisse des Nachdenkens vorgesetzt bekommen.

Für eine didaktische Aufbereitung, damit die Schüler selber nachdenken und lateinische Text lesen, würde ich mir die anderen Autoren vornehmen, auswählen, wo gleiche Situationen unterschiedlich beschrieben werden und die Schüler in der vergleichenden Gegenüberstellung dieser Texte ansatzweise das herausfinden lassen, was dem Winterling gelungen ist. Sollte der aber mit großem detektivischen Gespür um hundert Ecken gedacht haben, z.B. Umstände einerseits durch andere Quellen (Seneca, Plinius der Ältere) rekonstruieren und andererseits Anekdoten (Sueton) bewertend vor diesem Hintergrund einordnen, dann ist das eine ganz ordentliche Herausforderung an die Schüler.

Ein weiterer Schritt in den didaktischen Überlegungen ist dann, wie ich die Schüler die Erkenntnisse ihrer Analysen der lateinischen Quellen aufbereiten lasse. Wissenschaftspropädeutisch wäre es, dass ich sie einen interpretierenden Aufsatz schreiben ließe, dessen am besten lesbare philologische Variante in meinen Augen eine Form ist, die einen leichten Dreh ins Essayistische bekommt, wie es Winterling offensichtlich gelungen ist.

(Andere mögliche Formate der Präsentation und damit intellektuellen oder emotionalen Aneignung des Stoffes wären eine Gerichtsverhandlung oder ein monologischer Auftritt Caligulas als Toter, der alles richtig stellt.)
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Tiberis » Mo 14. Jun 2021, 00:01

ClaudiaK hat geschrieben: (1) ..würde ich mir die anderen Autoren vornehmen, auswählen, wo gleiche Situationen unterschiedlich beschrieben werden und die Schüler in der vergleichenden Gegenüberstellung dieser Texte ansatzweise das herausfinden lassen, was dem Winterling gelungen ist
(...)

(2) Ein weiterer Schritt in den didaktischen Überlegungen ist dann, wie ich die Schüler die Erkenntnisse ihrer Analysen der lateinischen Quellen aufbereiten lasse. Wissenschaftspropädeutisch wäre es, dass ich sie einen interpretierenden Aufsatz schreiben ließe


ich kenne das Buch "adeamus!" zwar nicht, vermute aber aufgrund der geringen sprachlichen Anforderungen des hier diskutierten Textes, dass sich dieser an Schüler des ersten oder höchstens zweiten Lateinjahres wendet. In dieser Phase sind die Schüler jedoch sicher nicht in der Lage, Texte verschiedener Autoren vergleichend einander gegenüber zu stellen, es sei denn, man greift auf Übersetzungen zurück, was aber nicht Ziel eines Lateinunterrichts sein kann. Für die Wahrheitsfindung ist eine derartige vergleichende Gegenüberstellung naturgemäß ein probates Mittel, das , wenn man die Sache einigermaßen seriös betreiben will, jedoch eher für eine vorwissenschaftliche Arbeit taugt als für die Diskussion einer vermeintlich (?) problematischen Aussage in einem Text für Lateinanfänger.
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon mystica » Di 15. Jun 2021, 09:17

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Zuletzt geändert von mystica am Do 14. Jul 2022, 12:32, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon marcus03 » Di 15. Jun 2021, 11:41

mystica hat geschrieben: Deshalb meine ich, dass sich der Lateinunterricht an den Schulen dem Latine loqui öffnen sollte.

Das lässt das enge Zeitbudget m.E. nicht zu.
Man sollte realistisch bleiben.
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon ClaudiaK » Di 15. Jun 2021, 14:52

Der Kaspar Spinner, ein Deutschdidaktiker meint, dass ein Text, der litaraturdidaktisch im Unterricht behandlungswürdig ist, Identifikations-, Alteritäts- und Irritationspotential haben sollte.

Das weiß auch ein Lateindidaktiker, der im Jahre 2020 ein Lehrbuch mitherausgibt.
Irritiert hat der Satz schon mal jemanden, nämlich den medicus, der sich in die Situation der Schüler versetzt hat. Damit hat der Schulbuchsatz sein Ziel erreicht, auch wenn die abgeklärteren Leser nicht ganz so geschockt sind und bereits ihre Strategien entwickelt haben, ihn einzuordnen. Den Schülern helfen noch die Lehrer.

Da sich bei den Schülern (hoffentlich) eine Irritation einstellen wird, kann ich, um Distanz zu gewinnen,
A) den Satz in das traditionelle, historisch gewachsene, durch Quellenarbeit belegbare Caligula-Bashing einsortieren und eine Ehrenrettung vornehmen. Unterrichtsmethodisch einwandfrei hieße das mit einer Kanone auf einen Spatzen zu schießen.

Ich kann aber auch
B) ein produktives Verfahren anwenden, hieße dies auch nur einen Satz darüber einzufordern, was den betroffenen Personen durch den Kopf gehen könnte. Ich gehe dann davon aus, dass Caligula ein literarischer Typ ist, ein Topos. Als Mensch fällt er (das könnte man ethisch fragwürdig finden) der Stereotypbildung zum Opfer, hilft aber in seiner extremen Ausformung eine anthropologische Konstante im menschlichen Dasein abzubilden, die man erkennen („aha, der macht einen auf Caligula“ als Code für „ er glaubt, man sei seiner Macht willkürlich ausgeliefert“) und gegen die man angehen kann.

Produktive Verfahren fördern Sprachfähigkeit und Sprachhandeln. Für den Deutschunterricht sind sie unproblematisch, da sie die Fähigkeiten des muttersprachlichen Ausdrucks fördern, mag es an den Verfahren auch die Kritik geben, dass sich die Schüler dabei zu weit vom Textverständnis entfernen.
Auch im neusprachlichen Unterricht ist diese Herangehensweise gedeckt durch die Anforderungen des Lehrplans und den Anspruch, dass die Schüler sich individuell entfalten sollen, denn es wird ihre Ausdrucksfähigkeit in der Fremdsprache gefördert.

Analog müsste ich den Satz darüber, was die betroffenen Personen denken könnten, auf Latein einfordern. Vielleicht käme, zur Freude der Lateinlehrerin, ein: mihi non placet, homo angore alterius gaudens, ut Caesar ero mortuus eris. Es soll ja Lateinlehrer geben, wie alte Threads zeigen, die das latine loqui ansatzweise in den Unterricht einbeziehen. Und ein Satz wäre auch klein genug, um nicht in Schauspielerei auszuarten.
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon medicus » Di 15. Jun 2021, 19:24

Ich habe nicht geahnt, welches Echo mein Beitrag auslösen würde. Als Ergänzung zitiere ich einen Satz, der am Ende des Textes steht:
Entwickle Vermutungen, welche der hier geschilderten Äußerungen und Taten des Caligulas bewiesen und welche nur Gerüchte sind. Prüfe deine Ergebnisse durch Recherche.
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon ClaudiaK » Mi 16. Jun 2021, 13:06

Hallo medicus.
Der Satz ist wahrscheinlich die parallel angebotene Aufgabenstellung, eine Quellenarbeit light sozusagen.

Spontan hätte ich gesagt, dass die Lehrbuchverfasser offensichtlich bevorzugen, die Schüler mittels fragwürdiger Sekundärquellen zu Ehrenrettungen von Tyrannnen zu befähigen, statt die Entwickelung eines allgemeinen Sinns für Recht und Eigenverantwortung zu fördern.

Andererseits ist das Bewusstsein, dass alles, Menschen, Ereignisse, Werte und auch der Sinn bzw. Gefühl von oder für etwas eine Ergebnis der historischen Umstände sind, auch kein schlechtes, zumindest mit mehr Denkarbeit verbunden. Das Gefühl und der Sinn sind da wohl eher etwas Spontanes und Reflexartiges.

Ich werde vielleicht mal in ein Buch für Entwicklungspsychologie schauen, ab welcher Klassenstufe und welchem Alter sich überhaupt was entwickelt, wahrscheinlich erst der "Sinn" und dann das "historische Bewusstsein".
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Tiberis » Mi 16. Jun 2021, 13:41

mystica hat geschrieben:Fazit: Es ist ein Wandel des Lateinunterrichts zu konstatieren, der sich nicht nur auf reine Übersetzungsarbeit lateinischer Texte konzentriert, sondern auch die Schüler*innen :cry: zur Interpretation lateinischer Texte anregt.


Dieser sogenannte Wandel des Lateinunterrichts hat , zumindest in Österreich, schon in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begonnen und ist somit überhaupt nichts Neues. Es ist ja unbestreitbar, dass es Sinn macht, sich mit einem Text interpretierend und reflektierend auseinanderzusetzen. Bedenklich wird die Sache allerdings dann, wenn die angebliche Interpretation zu einem oberflächlichen Geschwafel verkommt, was umso eher der Fall sein wird, je mehr "Interpretations"fragen innerhalb der vorgegebenen Zeit beantwortet werden sollen. Leider sieht man auch an dem von dir zitierten Beispiel der bayrischen Abiturarbeit, dass Qualität immer mehr durch Quantität ersetzt wird. Auf den ersten Blick wirken die Aufgabenstellungen ja durchaus anspruchsvoll, aber in der Praxis ist es wohl eher so, dass die Masse an Zusatzfragen den Schülern vor allem die Möglichkeit bieten soll, Mängel bei der Übersetzung des Haupttextes zu kompensieren.
Ich meine, dass es besser wäre, nach dem Motto "weniger ist oft mehr" die Zahl der zusätzlichen Aufgabenstellungen deutlich zu reduzieren , vor allem aber, sie ausschließlich auf den Haupttext zu beziehen, so wie es ja auch in meiner aktiven Zeit immer gehandhabt wurde. Und der Schwerpunkt sollte naturgemäß auf der Übersetzung liegen, sonst führt sich ja der ganze Lateinunterricht ad absurdum.
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon mystica » Mi 16. Jun 2021, 18:34

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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 16. Jun 2021, 19:41

Der LK Latein ist in Bayern leider auch abgeschafft worden, leider schon vor einigen Jahren. Jetzt heißt der Kollegstufenmix Q11 und Q12 noch für die achtjährigen Gymnasiasten. In meiner Abiturzeit waren die zwei Leistungskurse schon noch gedacht als Fächer, in denen man besonders gut war. Es waren auch jeweils 6 Stunden pro Woche! Im LK Latein waren wir damals 11 Schüler. Das Abitur enthielt auch Zusatzfragen wie die normalen Klausuren. Die Gewichtung war aber 3:1 für die Übersetzung. Unser Abiturtext war 1988 Cicero, ein Brief an Atticus… :-D :chefren:
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon marcus03 » Mi 16. Jun 2021, 19:47

Medicus domesticus hat geschrieben: Unser Abiturtext war 1988 Cicero, ein Brief an Atticus…

http://www.ruediger-hobohm.de/Latein/Ab ... 201988.PDF

Besonders schwer kommt mir der Text beim Überfliegen nicht vor.
Immerhin 250 Wörter, heute sind es in den Schulaufgaben weit unter 100, soweit ich weiß.
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon ClaudiaK » Mi 16. Jun 2021, 20:02

Marcus, wenn es den Beruf Internetarchäologe gäbe, dann wärst du einer der besten des Fachs! :lol:
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 16. Jun 2021, 20:03

Genau, das war er.
Dann noch einige Zusatzfragen. 251 Wörter mit den Zusatzfragen bei aber 4h Bearbeitungszeit. Für unseren LK war die Übersetzung gut machbar. Wir hatten gute Ergebnisse. Das Überraschende war ein Cicerobrief. Wir hatten eher etwas anderes im LK vorher..
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Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon marcus03 » Do 17. Jun 2021, 07:06

Meist kommen dran: Seneca und Cicero, vereinzelt: Livius, Tacitus und der "christliche Cicero" Laktanz.
In Staatexamina wird fast immer gewechselt zwischen Prosa und Poesie.

https://www.uni-regensburg.de/sprache-l ... index.html
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