Caligula im Schulbuch

Für alle Fragen rund um Latein in der Schule und im Alltag

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Caligula im Schulbuch

Beitragvon medicus » Do 10. Jun 2021, 19:52

Salvete collegae! In einem Schulbuch finde ich in einer Lektion über Caligula diesen Satz:
Neque vero statuis modo caput abstulit, sed etiam civibus, immo familiaribus suis. Cum uxoris vel amicae cervicem osculabatur, loqui solebat: "Tam pulchra cervix! Ut iussero, secabitur." :shock:

Ich frage in die Runde, ob solche Sätze in Schulbücher gehören. Werden da nicht Schüler eher vom Latein abgeschreckt?
medicus
Augustus
 
Beiträge: 6623
Registriert: Do 9. Dez 2010, 11:39

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Medicus domesticus » Do 10. Jun 2021, 21:01

Ich weiß nicht, ob das das Problem ist. Den Schülern gehts doch nur um die reine Übersetzung und oft um nichts besonders. Ich hatte meine drei Kinder im Lateinunterricht und jetzt noch eine in der Q11. Viele denken sich doch gar nichts dabei. Hauptsache die Übersetzung ist geschafft. Mit Caligula habe ich mich auch viel später richtig beschäftigt und verweise auf die Biografie des Prof. Winterling..
Übertreiben bringt nichts. Dass das Römische Reich nicht gerade handsam war, wissen wir doch. Oder willst du jetzt auch Caesar mit De Bello Gallico an den Pranger stellen? :roll:
Medicus domesticus
Dominus
 
Beiträge: 7238
Registriert: Di 9. Dez 2008, 11:07

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon medicus » Fr 11. Jun 2021, 07:24

Medicus domesticus hat geschrieben:Oder willst du jetzt auch Caesar mit De Bello Gallico an den Pranger stellen?
Ita est.
medicus
Augustus
 
Beiträge: 6623
Registriert: Do 9. Dez 2010, 11:39

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon iurisconsultus » Fr 11. Jun 2021, 07:31

medicus hat geschrieben:Ich frage in die Runde, ob solche Sätze in Schulbücher gehören. Werden da nicht Schüler eher vom Latein abgeschreckt?

Die Anekdote steht sinnbildlich für die notorische geistige Abnormität Caligulas. Dass Jugendliche heutzutage von dieser vergleichsweise harmlosen Zurschaustellung von Brutalität von irgendetwas abgeschreckt werden, ist auszuschließen.
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
Benutzeravatar
iurisconsultus
Dictator
 
Beiträge: 1238
Registriert: Di 31. Dez 2013, 15:37
Wohnort: Lentiae, in capite provinciae Austriae Superioris

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon ClaudiaK » Fr 11. Jun 2021, 13:37

Didaktisch gesehen eine obergeniale Stelle.
Eine Szene, die so emotional aufgeladen ist (Lust, osculabatur gepaart mit Aggression, secabitur) und weitere Gefühle auslösen kann, wird heute wahrscheinlich von keinem Lateinlehrer oder gar -lehrerin überlesen und ohne Reflexion zum nächsten Satz übergegangen.

Rausgenommen werden braucht der Satz auf keinen Fall. Im Gegenteil: Der Schauder und Grusel im Medium des Ästhetischen und Fiktiven, also in Dichtung oder im Rahmen einer spannender Story gehören zur Lesemotivation.
Zum zweiten würde die Stelle in einen historischen Kontext gesetzt, nach der Machtfülle und den Abhängigkeiten der Untergebenen gefragt. Für einen einzelnen Psychopathen hatte Caligula doch zu viele, die seinem Befehl gehorchten oder ihn zumindest laufen und gewähren ließen. Wie konnte das funktionieren? Das Hintergrundwissen müsste der oder die betreffende Lateinlehrerin haben oder sich aneignen, vielleicht ein 5-Referat vorbereiten lassen von einem Schüler oder einer Schülerin.
Die Situation könnte man im szenischen Spiel nachemfinden lassen. In der körperlichen Naherfahrung würden diejenigen Emotionen freigesetzt, die durch die kognitive Distanz der Lektüre unentfacht vor sich hin glimmen: Erst bedroht ein Schüler als Caligula Schülerinnen. Filmisch-gestische Vorlagen für verbale Drohungen gibt es genug. Dann bedroht eine Schülerin Schüler mit dem Tod und die Jungs schauspielern Unbehagen, Angst, Verwirrung. Das Schauspielern sorgt für die nötige leibseelische Rückkopplung.
Zum vierten könnte man die Schüler und Schülerinnen versuchen lassen, die Bedrohungssituation und den Stress selber aufzulösen. Denn verbale Bedrohungen sind auch heute noch eine gängige Variante des Schikanierens (Mobbing), der Einschüchterung und des kriminellen Handelns, die wahrscheinlich jeder von ihnen schon einmal erfahren hat.


Ließe man den Satz so stehen und setzte unkommentiert die Lektüre fort, vermittelte sich der Eindruck, der Starke sei der Mächtige, und respektive auch der Lateinlehrer hätte es willkürlich in der Hand, deine Zukunft zu zerstören, wenn du nicht ordentlich Grammatik beherrschtest und ein ihm ausreichendes Lesepensum bewältigt hättest. :wink:
Benutzeravatar
ClaudiaK
Proconsul
 
Beiträge: 439
Registriert: Di 1. Dez 2020, 08:07
Wohnort: Saxonia et Anhaltium

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Willimox » Fr 11. Jun 2021, 15:06

Bin entzückt, hier etwas dezidiert Didaktisches zu lesen. In der Tradition von Kaspar Spinner und anderen. Man sollte - aber das ist wohl klar - die szenischen Anregungen für Schüler etwas abspecken, weil sonst eine überdeterminierende Gängelung vielleicht das Spiel weniger attraktiv macht. Auf jeden Fall aber hat hier auch das Groteske, das wohl nicht nur uns hier anfällt, seine Wirkung.
"alis nil gravius" (Nycticorax)
Benutzeravatar
Willimox
Senator
 
Beiträge: 2725
Registriert: Sa 5. Nov 2005, 21:56
Wohnort: Miltenberg & München & Augsburg

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon medicus » Fr 11. Jun 2021, 17:08

ClaudiaK hat geschrieben:Die Situation könnte man im szenischen Spiel nachemfinden lassen.

Du meinst also, ein Schüler soll vor der Klasse eine Mitschülerin auf den Hals küssen? :roll:
Zuletzt geändert von medicus am Fr 11. Jun 2021, 17:58, insgesamt 2-mal geändert.
medicus
Augustus
 
Beiträge: 6623
Registriert: Do 9. Dez 2010, 11:39

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon ClaudiaK » Fr 11. Jun 2021, 17:39

medicus hat geschrieben:
Du meinst also, ein Schüler soll vor der Klasse eine Mitschülerin auf den Hals küssen? :roll:



"Definitiv, absolut, unabdingbar", antwortet mir meine Cynthia,
"vielleicht reicht ja der allerletzte Satz mit der Drohung - als Standbild", sagt der Sitznachbar, der seine Sitznachbarin anschaut.

Ich wollte, auch wenn es im ersten Entwurf überladen an Vorgaben oder gar grotesk wirken mag, verdeutlichen, dass solche Sätze im Unterricht nicht undiskutiert übersetzt werden, sondern die Lektüre bestenfalls eingebettet ist in einen Rahmen didaktischer Aktivitäten, der die Schüler und die Cynthias zum Nachdenkenken anregen und Bildungsimpulse setzten soll. Wieviel Zeit für das Rahmenprogramm und wieviel für die Lektüre geplant wird, hängt von der Lerngruppe einerseits und den Vorlieben des Lehrers andererseits ab.
Zuletzt geändert von ClaudiaK am Fr 11. Jun 2021, 19:49, insgesamt 4-mal geändert.
Benutzeravatar
ClaudiaK
Proconsul
 
Beiträge: 439
Registriert: Di 1. Dez 2020, 08:07
Wohnort: Saxonia et Anhaltium

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon medicus » Fr 11. Jun 2021, 18:00

Sorry, ich hatte das Zitat falsch zugeordnet. :cry: Habe korrigiert.
medicus
Augustus
 
Beiträge: 6623
Registriert: Do 9. Dez 2010, 11:39

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Tiberis » Fr 11. Jun 2021, 20:49

ClaudiaK hat geschrieben: Das Schauspielern sorgt für die nötige leibseelische Rückkopplung.

Zu allererst sorgt das Schauspielern dafür, dass wertvolle Zeit im Unterricht vergeudet wird. Der o.a. Schulbuchsatz (!) erschließt sich meines Erachtens in seiner Widerwärtigkeit jedem psychisch gesunden Schüler ohne weiteres, einen plausiblen Grund für ein szenisches Nachstellen kann ich nicht erkennen, "leibseelische Rückkopplung" :shock: hin oder her. Wir sind ja nicht im Schauspiel- , sondern im Lateinunterricht, und es wundert mich nicht, dass die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler immer katastrophaler werden, wenn manche Lehrer bzw. Lehrerinnen im Glauben, durch fragwürdige Schauspieleinlagen die Motivation der Schüler aufrecht erhalten zu können , den Sprachunterricht durch Schauspielunterricht ersetzen. Allerdings ist mir bislang nicht bekannt, dass ähnliche Absurditäten auch in anderen Fächern zur Diskussion stünden. Oder werden etwa im Geschichtsunterricht Hexenverbrennungen oder Judenmorde zum Zweck der "leibseelischen Rückkopplung" mittlerweile auch schon szenisch aufgearbeitet?
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
Benutzeravatar
Tiberis
Pater patriae
 
Beiträge: 11862
Registriert: Mi 25. Dez 2002, 20:03
Wohnort: Styria

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon ClaudiaK » Fr 11. Jun 2021, 22:24

Tiberis hat geschrieben: Der o.a. Schulbuchsatz (!) erschließt sich meines Erachtens in seiner Widerwärtigkeit jedem psychisch gesunden Schüler ohne weiteres...


Offensichtlich ist das nicht der Fall.
iurisconsultus, unser Kenner der sozialen Lagen, hat bereits angemerkt:

iurisconsultus hat geschrieben:
Dass Jugendliche heutzutage von dieser vergleichsweise harmlosen Zurschaustellung von Brutalität von irgendetwas abgeschreckt werden, ist auszuschließen.


Das stimmt in der Hinsicht, dass sich der Sinn für "Widerwärtigkeiten" gerade erst entwickelt.
Daher eine Antwort auf deine Frage: Welchen pädagogischen Nutzen hat diese Szenerie:

1. Möglicherweise: Nachempfinden der anderen Seite (nämliche der der gewaltbasierten Willkür schutzlos Ausgelieferten) für all jene Schüler, die tendenziell schon auf der Schiene eines Caligula sind.
2. Möglicherweise: Erkennen der überragend positiv zu bewertenden demokratischen und juristischen Verhältnisse, unter denen wir heutzutage leben.
3. Möglicherweise: Erkennen, dass es auch aktuell Handlungen gibt, die im Kleinen vergleichbar sind mit denen Caligulas und die begrenzt werden können, z.B. durch Hilfe suchen.

Im szenischen Spiel, das wusste schon Schiller, entwickelt der Mensch seine kulturellen Fähigkeiten (und damit seinen Sinn für "Widerwärtigkeiten"). Aber es steht ja gar nicht das Schauspielern zur Debatte.
Es geht hier doch um den Umgang mit Sätzen, seien sie aus dem Lehrbuch oder aus einem originaler Autor, die nicht ohne Nachdenken konsumiert werden sollten, weil die Gefahr der Verinnerlichung und damit verbunden einer roh bleibenden Geisteshaltung besteht. Mir scheint das unstrittig.

Mich interessiert auch sehr, wie du mit solchen Sätzen umgehst. Kein Schauspiel, soviel weiß ich.
Benutzeravatar
ClaudiaK
Proconsul
 
Beiträge: 439
Registriert: Di 1. Dez 2020, 08:07
Wohnort: Saxonia et Anhaltium

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon iurisconsultus » Sa 12. Jun 2021, 11:22

Wenn Zeit bleibt, würde ich gerade bei Caligula oder Tiberius etwas zur Quellenkritik sagen, eine Fähigkeit, die im digitalen Zeitalter wichtig ist, aber zu wenige Menschen haben. Die senatorisch geprägte Historiographie ist schließlich alles andere als objektiv. Und es ist ein Muster erkennbar: Wie bei Tiberius findet sich auch in der Überlieferung Caligulas ein Bruch, der den vermeintlich guten Kaiser plötzlich in eine Ausgeburt der Hölle verwandelt.
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
Benutzeravatar
iurisconsultus
Dictator
 
Beiträge: 1238
Registriert: Di 31. Dez 2013, 15:37
Wohnort: Lentiae, in capite provinciae Austriae Superioris

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 12. Jun 2021, 11:46

Sehr richtig beobachtet, iurisconsulte!
Deswegen habe ich hier vor Jahren Prof. Winterlings Biografie des Caligula vorgestellt. Sich rein auf Sueton und Tacitus zu verlassen, ist ein Problem. In der Zusammenschau aller Quellen kommt man oft auf andere Aspekte. Dasselbe gilt für die neue Biografie über Tiberius.
Medicus domesticus
Dominus
 
Beiträge: 7238
Registriert: Di 9. Dez 2008, 11:07

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 12. Jun 2021, 14:43

Das Wichtigste in jedem Fach ist das uptodate-Sein. Am Schwierigsten ist das in der Medizin, da sich da fast täglich etwas ändert. Wir müssen lesen und lesen in meinem Fach. Dasselbe sollte man auch ständig für die Lateinische und Griechische Philologie fordern. Das ist dort nicht immer so, da das Einigeln viel praktischer ist.
Medicus domesticus
Dominus
 
Beiträge: 7238
Registriert: Di 9. Dez 2008, 11:07

Re: Caligula im Schulbuch

Beitragvon marcus03 » Sa 12. Jun 2021, 15:36

Medicus domesticus hat geschrieben: Am Schwierigsten ist das in der Medizin, da sich da fast täglich etwas ändert

Du scheinst das dt. Steuer-und Rechtssystem nicht zu kennen. Dort ändert sich auch ständig etwas.
Und auch in anderen Wissenschaften muss man als Fachmann immer up-to-date sein.
(publish or perish).
marcus03
Pater patriae
 
Beiträge: 11399
Registriert: Mi 30. Mai 2012, 06:57

Nächste

Zurück zu Lateinforum



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 19 Gäste