Salvete, sodales carissimi!
So, wie versprochen/angedroht, nun etwas ausführlicher
Tiberis hat geschrieben:Bevor man von Tendenzen und Faustregeln spricht, sollte man zunächst prüfen, ob …
Da du anfangs ja schon eingeräumt hast, dass keine der beiden Auffassungsweisen ganz unplausibel ist, befinden wir uns meinem Verständnis nach bereits in dem Spielraum, wo besagte Tendenz und Faustregel zu greifen beginnt – und zwar eben auch an Stellen, wo Intuition und evtl. auch strenge Logik eher in Richtung des Relativsatzes weisen mag. RHH:
"... wo im Dt. sowohl relative als auch interrogative Auffassung denkbar ist ..." Ich erzähle kurz: Ich wurde bereits im Studium auf diese Faustregel hingewiesen und hatte sie bei der Lektüre (durchaus kritisch) im Hinterkopf und habe ich sie immer wieder in überraschender Weise bestätigt gefunden. Das Lateinische scheint hier wirklich ein bisschen anders zu ticken (*). Es lohnt sich, darauf einmal längere Zeit bei der Lektüre ein wenig zu achten.
Aber selbst wenn man die Sache streng logisch angeht, scheint mir der indirekte Fragesatz im hier diskutierten Beispiel die weitaus sinnvollere Wahl. Ich versuche, es zu erklären.
Tiberis hat geschrieben:… ob im jeweiligen Fall überhaupt eine Frage vorliegt. Nur dann wäre nämlich ein indirekter Fragesatz angesagt.
Zunächst möchte hier kurz einem Missverständnis vorbeugen, dass ich in diesem Thread an mehreren Stellen gewittert habe (vielleicht teilweise zu Unrecht). Eine indirekte Frage setzt natürlich keine tatsächlich von irgendwem zuvor gestellte Frage voraus (sehr klar dazu Kühner-Stegmann!); wohl aber kann man sich eine solche Frage im Hintergrund VORSTELLEN (wie Tiberis ja gesagt hat), z.B.:
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Freund von Vespucci: „Was hast du dort gesehen? Wen hast du getroffen? Welche Tiere sind dir vor die Linse gekommen? Erzähle mir doch, was du dort gesehen, wen du getroffen hast und welche Tiere dir vor die Linse gekommen sind?“
[<- Die Frage kann vorher gestellt worden sein, muss aber nicht.]
Vespucci erzählt, (a) was er dort gesehen, (b) wen er getroffen hat/habe und (c) welche Tiere ihm dort vor die Linse gekommen sind/seien.
Man beachte hier, dass sich allein (a) noch (mit Mühe!) als Relativsatz deuten lässt. Bereits (b) und (c) sind in der deutschen Syntax praktisch nicht mehr als Relativsätze interpretierbar!!!
Tiberis hat geschrieben:In unserem Beispiel "Ich werde erzählen, was ich dort gesehen habe" kann ich im Hintergrund jedoch keine Frage erkennen. Gemeint ist ja wohl: "Ich werde DAS erzählen, was ich gesehen habe".
Und genau das bestreite ich! Nehmen wir zunächst ein anderes Beispiel:
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„Mit Freude betrachte ich (DAS), WAS ich gestern auf der Straße gefunden habe.“
- Ich betrachte A (= EINE GOLDMÜNZE) mit Freude.
- Ich habe gestern auf der Straße A (= EINE GOLDMÜNZE) gefunden.
Der Witz beim Relativsatz ist ja, dass ein Satzglied im Hauptsatz (Objekt A) mit einem Satzglied im Nebensatz (Objekt A) zusammenfällt.
Wie ist es aber nun mit Vespucci?
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„Vespucci erzählt, was er gesehen hat.“
- Vespucci erzählt A.
- Vespucci hat B (PFLANZEN, TIERE UND EINHEIMISCHE) gesehen.
A=B gilt hier aber eben nicht (oder jedenfalls liegt es nicht so nahe). Denn Vespucci „erzählt“ doch wohl nicht „Pflanzen, Tiere und Einheimische“ (B), sondern viel eher erzählt er, „DASS er Pflanzen, Tiere und Einheimische gesehen hat“ (A) – DIES wäre ein naheliegendes Objekt des „Erzählens“. Vespucci beantwortet also erzählenderweise die (vielleicht nie ausdrücklich gestellte) Frage, „welche Dinge er so gesehen hat“ (wiederum eindeutig eine indirekte Frage!).
Tiberis feat. Menge (alt) 407,2 hat geschrieben:"Vor den relativen Bezeichnungen kann immer ein Demonstrativ ergänzt werden, während die indirekten Fragen immer aus direkten Fragen entstanden sind. Daher heißt non dicam, quod sentio ich werde dasjenige nicht sagen, was ich denke (...) ; aber non dicam, quid sentiam ich werde nicht sagen, was es sei, das ich denke (=ich werde nicht sagen, welche unter den mehreren möglichen Ansichten die meinige ist). (...)"
Zunächst nur noch einmal die Fußnote: Ich war gleich etwas überrascht, als Tiberis hier den alten Menge zitierte – bis ich selbst den neuen aufschlug …
Denn es stellt sich heraus, dass die Bearbeiter Burkard/Schauer explizit davon ausgehen, dass sich die feine semantische Unterscheidung statistisch nicht werde erhärten lassen. Tiberis, du Schlawiner …
Aber lassen wir uns für den Moment darauf ein, zumal ich durchaus auch selbst denke, dass „Dico, quod sentio“ natürlich möglich ist und dann einen ganz bestimmten Aspekt BETONT (qua sprachlicher Markiertheit!).
Also:
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„Hans sagt (DAS), WAS er meint“
- Hans sagt A
- Hans meint A
A und A sind also identisch, und man kann sich hier alles Mögliche ausmalen: „DASS alle Politiker korrupt sind, DASS Cicero maßlos überschätzt wird, DASS Corona von Bill Gates erfunden wurde“ – es passt also gleichsam kein Blatt zwischen die Sache(n), die Hans „sagt“, und die Sache(n), die er „meint“ (A=A).
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<=>„Hans sagt (verrät), was er meint“ (ind. Fr.)
- Hans sagt A
- Hans meint B
Im Falle der indirekten Frage erklärt Hans, welche Meinung er habe.
Streng logisch z.B.:
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Objekt des Sagens = „Meine Meinung ist XYZ“.
Objekt des Meinens = "XYZ"
Zu pedantisch durchgespielt? Jedenfalls geht es bei der indirekten Frage nicht darum, dass das Gemeinte zugleich das Gesagte ist.
Easter egg: Wer mir als erste/r eine PN schickt mit dem exakten Inhalt "Ille, du spinnst doch wohl, uns einen so kack langen Text voller Blödsinn zuzumuten?" und mir damit beweist, dass er diesen Satz tatsächlich gelesen hat, bekommt eine Essenseinladung/Essensgutschein geschenkt. Ich bin aber zuversichtlich, dass das hier nie jemand lesen wird ^^. So nun aber weiter im Text:
Tiberis hat geschrieben:narrabo, quod feci / quae feci: Ich werde das erzählen, was ich gemacht habe
Aus meinen Ausführungen geht wohl schon hervor, warum ich das für vergleichweise wenig sinnvoll und – im Normalfall – eher unlateinisch halte (Hybris!
). An der Tendenz, von der RHH schreiben, ist eben doch was dran!
Klar, man kann schon sagen: Was ich „erzähle“ und was ich „tue“, ist hier dasselbe, nämlich meine
„Taten“. Aber wenn man diese Identität nicht tatsächlich betonen möchte, würde ich doch stark dafür plädieren, hier an die Beispiele von RRH anzuknüpfen à la:
RHH, ergänzt durch ILLE hat geschrieben:Ouae gesta sint, accipies ex nuntio.
Die Vorfälle wirst du von einem Boten erfahren.
[ILLE:]
Quae fecerim, narrabo.
Meine Taten werde ich erzählen.
Sapientius hat geschrieben:Du musst dir zuvor überlegen, wie du diesen deutschen Satz meinst: entweder: Ich werde die Frage beantworten, was ich dort gesehen habe, oder: ich werde das dort Gesehene berichten
Auch hier noch einmal überspitzt: Wahrscheinlich berichtet man keine Bäume, sondern man berichtet, welche Dinge - konkret z.B.: dass man Bäume gesehen hat. Und schon ist man m.E. weit eher bei der indirekten Frage (vgl. wiederum die „Vorfälle“ im eben zitierten RHH-Beispiel; hier wären es analog etwa „Eindrücke“!).
medicus hat geschrieben:Es wurde keine Frage gestellt, es ist ein Erlebnisbericht.
Eben dieses Missverständnis lauert hier allenthalben: Die Frage muss vorher nicht gestellt worden sein, um im Sinne einer indirekten Frage beantwortet zu werden
Tiberis hat geschrieben:Ich denke nicht, dass mir das Einschlafschwierigkeiten bereitet.
Wie sagt doch so schön Horaz:
Ein Dichter hat geschrieben:Quandoque bonus dormitat Homerus.
In diesem Sinne: Weiterhin eine gute Nachtruhe!
Veniam peto, quod longus fui.
Valete omnes!
Christian
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(*) vgl. andere Tendenzen des Lateinischen, wie beispielsweise die Kongruenz von "ipse" mit dem Subjekt statt dem Reflexivum („me ipse interfeci“ <=> „Ich habe Selbstmord begangen“), die aus intuitiver bzw. auch logischer Sicht gelegentlich sogar etwas abenteuerliche Formen annimmt ^^