Adverb oder prädikativ?

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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » So 15. Mai 2022, 08:23

Übrigens verwenden MBS den Begriff der Eigenschaft so,

„dass das Attribut i.d.R. dauernde Eigenschaften ausdrückt, während das Prädikativum eine Eigenschaft benennt, die nur für die Dauer der Verbalhandlung wichtig ist (ob sie davor oder danach weiter besteht, ist gleichgültig)“ (277,3)

Bevor wir andere Aussagen machen, sollten wir wohl die Definition von „Eigenschaft“ klären.

Ich persönlich finde im Bereich der Adjektive die Unterscheidung zwischen Zuständen und Eigenschaften in der Praxis ziemlich schwierig (wenn auch bestimmt nicht überflüssig). Vgl. einen Satz wie „Ich bin ein trauriger Mensch“.
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » So 15. Mai 2022, 08:33

Noch ein weiterer Versuch eines Beispiels:
Für „jemanden als gebildet anerkennen“ wird man wohl sagen können „agnoscere aliquem doctum / humanum“.
Ein vergleichbares (wenn auch für unseren Zusammenhang etwas weniger deutliches) Beispiel eines Prädikativums im Akk. mit agnoscere geben auch MBS 283 -> Catil. 1,17.
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon Sapientius » So 15. Mai 2022, 09:48

Vergessen wir nicht, es gibt das "Terminologie-Chaos", hier ist es uns zum Greifen nahe :-D .

Ich versuche mal, die Begriffe zu definieren:

- Das Prädikat hat drei Eigenschaften:
(1) es übt eine Nominativrektion auf das Subjekt aus,
(2) es unterliegt der Kongruenz vom Subjekt her,
(3) es enthält eine Wahrheitsbehauptung (wenigstens beim Standardsatz, der Aussage).

- Beim "Prädikatsnomen" sind Rektion und Kongruenz getrennt in zwei Wörtern ausgedrückt: "Oppidum magnum est", magnum für Kongruenz und est für Rektion.

- Beim "Prädikativum" fehlt eine oder zwei der drei Eigenschaften, man kann also sagen, das Prädikativum stellt ein defizitäres Prädikat dar.

Vllt. fällt so etwas Licht auf die strittigen Fälle :) .
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon Tiberis » Mo 16. Mai 2022, 00:45

ille ego qui hat geschrieben:„Graeci homines non satis animosi (weil sie nicht allzu mutig sind) hostem aspicere non possunt.“
(vgl. MBS 278)
Ich weiß nicht, ob Tiberis das gelten lässt. Aber ich hatte ja oben bereits von kausalen und konzessiven Prädikativen als „Quelle“ möglicher Gegenbeispiele gesprochen

Dass es hier um eine Eigenschaft und nicht bloß um einen Gemütszustand geht, ist evident. Weniger evident ist jedoch die Einstufung als Prädikativum, denn man könnte genauso gut homines als Apposition sehen (mit Attr. animosi); man könnte ja auch schreiben Graeci ut homines non satis animosi....
MBS benennt das zwar "appositives Prädikativum" , für mich ist es jedoch eher eine Apposition.
Es scheint eben rund um das Prädikativum gewisse Grauzonen zu geben... :roll:
ille ego qui hat geschrieben:Ich persönlich finde im Bereich der Adjektive die Unterscheidung zwischen Zuständen und Eigenschaften in der Praxis ziemlich schwierig (wenn auch bestimmt nicht überflüssig). Vgl. einen Satz wie „Ich bin ein trauriger Mensch“.


Natürlich kann man beides nicht immer exakt trennen, aber darum geht es ja gar nicht. Was ich sagen will, ist, dass eben nicht alle Adjektiva (Eigenschaftswörter !) prädikativ gebraucht werden (können) , sondern vorzugsweise nur jene, die a) einen körperlichen oder seelischen Zustand ausdrücken, oder b) eine Lage, einen Grad oder Rang bezeichnen (summus mons, media urbs etc).
"traurig" kann eine Eigenschaft sein, aber als Prädikativum ist diese Eigenschaft auf die Dauer des Prädikatsverbs beschränkt, weshalb m.E. die Bezeichnung "Zustand" treffender ist.
Umgekehrt können Adjektiva wie "groß, gut, schnell" u.dgl. niemals einen zeitlich limitierten Zustand ausdrücken und somit wohl auch nicht als Prädikativa fungieren (allenfalls als Präd. im Akk.)
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » Mo 16. Mai 2022, 09:28

Salve, amice!
Tiberis hat geschrieben:oder b) eine Lage, einen Grad oder Rang bezeichnen (summus mons, media urbs etc).
"traurig" kann eine Eigenschaft sein, aber als Prädikativum ist diese Eigenschaft auf die Dauer des Prädikatsverbs beschränkt, weshalb m.E. die Bezeichnung "Zustand" treffender ist.


Zunächst finde ich es durchaus interessant und nachvollziehbar, den sog. Ab-urbe-condita-Effekt bei "in summo monte" o.Ä. über Prädikativität zu erklären.

In dem letzten Post formulierst du etwas weniger apodiktisch als zu Beginn ("wohl", "in der Regel" etc.), was es mir etwas leichter macht, dir grundsätzlich zuzustimmen; vgl. auch die oben zitierte Definition von MBS!

Weiterhin würde ich noch einmal darauf hinweisen, dass Prädikativität eine ganze Palette logischer Zusammenhänge zwischen Prädikat und prädikativ gebrauchtem Nomen (Adjektiv, Substantiv) bedeuten kann; die im Prädikativum ausgedrückte Eigenschaft kann für die Prädikatshandlung auf ganz unterschiedliche Weise relevant werden:

Die Prädikatshandlung kann zeitgleich mit dem Zustand/der Eigenschaft auftreten, aber sie kann auch aufgrund oder statt der Eigenschaft stattfinden, sie kann sie deutlich werden lassen oder auch zur Folge haben (proleptisches Prädikativ) uvm. Gerade in der Poesie können auch Adjektive, von denen man es zunächst nicht erwartet (vom Deutschen, aber auch vom Lateinischen selbst herkommend), als Prädikative geradezu entsprechende Adverbien "ersetzen". Man denke an die häufige Verwendung von "citus" ("schnell" *!) in Catulls Attis-Lied (c. 63) auch dort, wo man vielleicht eher "cito" erwartet hätte.

Insgesamt würde ich zeitliche Limitierung nicht als unumstößliche Bedingung für prädikative Verwendung ansehen.

Auch ist wohl die Grenze zwischen Attribut und Prädikativ fließend. Man denke nur im Deutschen an Ausdrücke wie "der junge Goethe (= Goethe als junger Mann)". Einen gewissen prädikativen Sinn mag man auch annehmen, wenn ein attributiv gestelltes Adjektiv erkennbar z.B. die Verbalhandlung bedingt ("Die helle Sonne ..." = "Die Sonne ... durch ihre (generell oder aktuelle) Helligkeit ..."). **

Ganz werden wir uns hier wohl nicht einigen, vielleicht auch wegen partiell unterschiedlichem Verständnis einzelner Begriffe. Aber das muss ja auch nicht immer sein :D

Bene vale!
ille
____

* Ob man nicht gerade beim Adjektiv "schnell" über die Zuordnung zu Eigenschaft vs. Zustand streiten kann - auch je nach Zusammenhang ...
** An der Stelle erinnere ich mich gerne an einen Erlanger Dozenten, der - nicht unoriginell - vorschlug, bei Sperrung von Substantiv und Adjektiv - auch in der Poesie - immer von einem gewissen prädikativen Sinn auszugehen. Durch viele Beispiele konnte er mich bis zu einem gewissen Grad überzeugen, dass dies (zumindest bei einem lockereren Prädikativverständnis) nicht ganz abwegig ist. :D
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon Tiberis » Mo 16. Mai 2022, 10:38

Du hast Recht, optime Christiane: Ganz einigen werden wir uns wohl nicht, vielleicht auch deshalb, weil du von den oben angesprochenen "Grauzonen" auszugehen scheinst, während ich eher den Normalfall im Auge habe ;-) . Eine allgemein gültige Definition des Phänomens "Prädikativum" wäre hilfreich, aber bislang habe ich diese noch nicht gefunden.
utcumque res se habet: iuvat tecum disputare. :)
ille ego qui hat geschrieben:An der Stelle erinnere ich mich gerne an einen Erlanger Dozenten, der - nicht unoriginell - vorschlug, bei Sperrung von Substantiv und Adjektiv - auch in der Poesie - immer von einem gewissen prädikativen Sinn auszugehen

Ausgehen kann man immer von irgendetwas :D , die Frage ist, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich der Anfangsverdacht bestätigt. Und ich bezweifle doch sehr stark, dass eine traiectio mehrheitlich auf einen "prädikativen Sinn" des Adjektivs hinweist...
:stretch:
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » Mo 16. Mai 2022, 10:50

:-)
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon Sapientius » Mo 16. Mai 2022, 10:57

Eine allgemein gültige Definition des Phänomens "Prädikativum" wäre hilfreich, aber bislang habe ich diese noch nicht gefunden.


Ich möchte bescheiden darauf hinweisen, dass ich oben eine ansatzweise versucht habe. :-D

Die ganze Diskussion um Eigenschaft und Zustand scheint mir etwas im grammatischen Abseits abzulaufen, denn das sind gar keine grammatischen Begriffe; "Eigenschaft" kommt wohl überhauüt vom D. her, vom "Eigenschaftswort"; aber das Adjektiv hat damit nichts zu tun, es ist ein Nomen mit Genus-Variable und Kongruenz-Anbindung an ein Substantiv.
Die Unterscheidung von Gemütszuständen und dauernden Eigenshaften dürfen wir den Psychologen überlassen; und wann welche für l. Verben gebraucht werden, den Stilisten; das passt für "Stilübungen"..
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » Mo 16. Mai 2022, 11:27

Kategorien dieser Art können durchaus einen sprachlichen Niederschlag finden, optime Sapienti! Und gerade du bist doch ein Freund interdisziplinärer Grenzgänge :-)
Man denke nur an Aktionsarten von Verben. Zustandsverben (im Gegensatz zu Prozessverben u.a.) z.B. bilden im Englischen i.d.R. keine Verlaufsform.
Ein sehr komplexes, aber auch überaus interessantes Feld ... :-)
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » Mo 16. Mai 2022, 11:34

Nur zum Spaß und in sentimentaler Erinnerung an Erlanger Studienzeiten:

Ehern erhob sich die Schwell' auf Stufen

aerea cui gradibus surgebant limina


Es lebe das deutsche Prädikativum! ;-)
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon Tiberis » Mo 16. Mai 2022, 18:41

ille ego qui hat geschrieben:Es lebe das deutsche Prädikativum!


:lol:

stammt die Übersetzung etwa von deinem Erlanger Dozenten? :D
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » Mo 16. Mai 2022, 19:33

Nein, zufällig auf Gottwein gesehen.
Aber neben verschiedenen anderen "prädikativen" Übersetzungsweisen wäre das eine gewesen, die ihm gefallen hätte (bzw. gefallen würde).
Ich persönlich finde das sogar ganz reizvoll ;)
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » Mo 16. Mai 2022, 21:08

Wie eine Schwangere sehe ich jetzt überall ... Prädikativa :-P

Scriberis Vario fortis et hostium
victor Maeonii carminis aliti


Sehr poetisch, aber doch wohl als Prädikativum interpretierbar. (Andere syntaktische Deutungen sind vielleicht nicht ganz ausgeschlossen.)
Mittlerweile ist mir klar, dass Tiberis wohl von prototypischen Sätzen wie "Er betrat traurig den Raum" ausging.
:-)
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon Tiberis » Mo 16. Mai 2022, 23:07

Ich wusste zwar nicht, dass Schwangere überall Prädikativa sehen, weiß aber, dass sie mitunter ein seltsames Suchtverhalten zeigen. Und offenbar bieten auch Prädikativa ein gewisses Suchtpotential. :lol:
Im übrigen hast du Recht: fortis und victor sind tatsächlich Prädikativa. euge! :D
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Re: Adverb oder prädikativ?

Beitragvon ille ego qui » Di 17. Mai 2022, 08:23

Ich wusste zwar nicht, dass Schwangere überall Prädikativa sehen, ...

Stimmt. Zumindest ja aber überall andere Schwangere, wie man hört :D
dass sie mitunter ein seltsames Suchtverhalten zeigen. Und offenbar bieten auch Prädikativa ein gewisses Suchtpotential. :lol:

:D
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