descensus Averno

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Re: descensus Averno

Beitragvon ille ego qui » Mi 7. Sep 2022, 09:44

monte descensus = der Abstieg vom Berg
Würde Cicero das sagen?


Entscheidendend dafür wäre wohl nicht zuletzt die Frage, ob er "monte descendere" (doch wohl eher: de...?) sagen würde.
Dass aber auch ein separatives "Attribut" auch bei Cicero möglich ist, zeigen die Belege.
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Re: descensus Averno

Beitragvon Tiberis » Mi 7. Sep 2022, 12:06

Ob Averno als Dativ oder Ablativ zu verstehen ist, lässt sich wohl nicht eindeutig beweisen. Aber ich denke, dass mehr für den Dativ spricht, wenn man sich den Kontext vor Augen führt.

Die Aussage lautet vereinfacht : Der Abstieg in die Unterwelt ist leicht, der Wiederaufstieg in die Oberwelt ist schwierig.
Dieser Gegensatz , hier chiastisch dargestellt, wird nicht zuletzt durch die Zahl der einander entsprechenden Wörter (farblich hervorgehoben) ausgedrückt:


facilis descensus Averno:
noctes atque dies patet atri ianua Ditis;
sed revocare gradum superasque evadere ad auras,
hoc opus, hic labor est

vereinfacht dargestellt, gibt es also folgende Gegensatzpaare:

facilis - opus/labor
descensus - revocare gradum/ evadere
Averno - superas ad auras

Verstünde man Averno als Ablativ, wäre als Gegenstück dazu ebenfalls der Ausgangspunkt zu erwarten (z.B. ex Orco), nicht aber das Ziel.
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Re: descensus Averno

Beitragvon marcus03 » Mi 7. Sep 2022, 13:36

Georges:

Avernus, ī, m. (Ἄορνος), vollst. lacus Avernus od. lacus Averni, ein tiefer, einen vulkanischen Krater ausfüllender See von mephitischer Ausdünstung bei Kumä in Kampanien unweit der Acherusia, von steilen Höhen eingeschlossen u. von dichtem, hochstämmigem Walde überschattet, in dessen Nähe die Sage den Hain der Hekate, die Grotte der kumäischen Sibylla u. den Eingang in [758] die Unterwelt verlegte, noch j. Lago d'Averno, Verg. Aen. 6, 126 u. 201. Prop. 3, 18, 1. Cic. Tusc. 1, 37. Liv. 24, 12,
...
dah. Avernus poet. für Unterwelt, Ov. am. 3, 9, 27 u.a.: u. für Acheron, Stat. Theb. 11, 588. –
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Re: descensus Averno

Beitragvon ille ego qui » Mi 7. Sep 2022, 16:13

Verstünde man Averno als Ablativ, wäre als Gegenstück dazu ebenfalls der Ausgangspunkt zu erwarten (z.B. ex Orco), nicht aber das Ziel.


Alles ganz richtig natürlich.
Das Banalste würde ich aber noch ergänzen:
descensus heißt Abstieg. Der Abstieg indes AUS der Unterwelt - wohin soll der noch führen? Auf jeden Fall wohl nicht wieder zu den Lebenden (das einzige, was hier sinnvoll wäre), denn die halten sich doch ÜBER der Unterwelt auf.
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Re: descensus Averno

Beitragvon Sapientius » Mi 7. Sep 2022, 16:34

Man kennt ja die Regel, dass normalerweise kein Präpositionalausdruck von einem Substantiv abhängt.


Man kann auch sagen, warum: Denn der Römer könnte sonst nicht unterscheiden zwischen "Der Mann kommt aus Rom" und "Der Mann aus Rom kommt": Vir Roma venit. Der Römer hat die freie Wortstellung, wir die geregelte.
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Re: descensus Averno

Beitragvon ille ego qui » Mi 7. Sep 2022, 17:23

Man kann auch sagen, warum: Denn der Römer könnte sonst nicht unterscheiden zwischen "Der Mann kommt aus Rom" und "Der Mann aus Rom kommt": Vir Roma venit. Der Römer hat die freie Wortstellung, wir die geregelte.


MIT Präposition hingegen geht dergleichen wieder.
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Re: descensus Averno

Beitragvon ille ego qui » Do 8. Sep 2022, 00:43

Man kann auch sagen, warum: Denn der Römer könnte sonst nicht unterscheiden zwischen "Der Mann kommt aus Rom" und "Der Mann aus Rom kommt":


Spätestens im Nebensatz kann es der Deutsche auch nicht mehr ;-)
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Re: descensus Averno

Beitragvon Sapientius » Do 8. Sep 2022, 10:40

Das Dativattribut ist mMn schon ungewöhnlich.


Da hat ein Umsetzungsprozess stattgefunden (erinnert euch, ich propagiere das "Prozessdenken" im Gegensatz zum Substanzdenken!"). Der Ausdruck "descendere Averno" wurde umgesetzt, "substantiviert", sagen wir, zu: "descensus Averno". Dabei wurde das Dativobjekt einfach mitgenommen; es ist ein "ehemaliges" Dativobjekt, umetikettiert als "Dativattribut". Die Objekteigenschaft wurde also "suspendiert", kann man sagen.
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Re: descensus Averno

Beitragvon Tiberis » Do 8. Sep 2022, 12:08

ille ego qui hat geschrieben: Der Abstieg indes AUS der Unterwelt - wohin soll der noch führen? Auf jeden Fall wohl nicht wieder zu den Lebenden (das einzige, was hier sinnvoll wäre), denn die halten sich doch ÜBER der Unterwelt auf.

Wenn man Averno als Ablativ interpretiert , meint man damit natürlich nicht "die Unterwelt", sondern den Averner See als den Eingang zu derselben.
Sapientius hat geschrieben:der Römer könnte sonst nicht unterscheiden zwischen "Der Mann kommt aus Rom" und "Der Mann aus Rom kommt": Vir Roma venit.

:?
vir Roma venit heißt in jedem Fall "der Mann kommt aus Rom". Der Mann aus Rom = vir Romanus
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Re: descensus Averno

Beitragvon Sapientius » Di 13. Sep 2022, 16:20

iurisconsultus hat geschrieben:Ich meine, dass ich, zumindest bei kursorischer Durchsicht, sonst keine Stelle im 6. Buch gefunden habe, wo Avernus mit hoher Wahrscheinlichkeit (eher) die Unterwelt und nicht den See bezeichnet. Warum sollte das dann solitär an dieser Stelle anders sein? Zumindest für uns Juristen ist das eine gängige Auslegungsmaxime. :-D


Vergil will hier sagen, dass der Weg vom Leben in den Tod eine Einbahnstraße ist, aber er schreibt kein Wanderbuch für die Gegend am Avernersee.
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