Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon Tiberis » Fr 18. Nov 2022, 23:33

ille ego qui hat geschrieben:Liest man beispielsweise ohne Iktus, merkt man z.B., dass Tiberis seine sapphischen Strophen eher wie Catull baut, nicht wie Horaz


Gut beobachtet! :D

ille ego qui hat geschrieben:Ob er das will, weiß ich gar nicht.


Es geht nicht um das Wollen, sondern um die Machbarkeiten bei der Nachdichtung eines vorgegebenen Textes.
Catull ist in der Handhabung der sapphischen Strophe weniger restriktiv als Horaz. Würde man sich ausschließlich an diesem orientieren, wären die Möglichkeiten einer weitgehend vorlagegetreuen Nachdichtung noch eingeschränkter als sie es aufgrund des Versmaßes ohnehin schon sind. :(
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon Sapientius » Sa 19. Nov 2022, 08:34

Wie in der Antike Verse gelesen wurde, ist schon klar; "Quidquid dicere temptabam, versus erat" (Ovid), für die Römer kam der Versrhythmus von alleine; aber für uns kommt er nicht von alleine, und so nehmen wir den Iktus zuhilfe.
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon ille ego qui » Sa 19. Nov 2022, 08:53

@Tiberis:
Gratias tibi ago!
(Dass du dir so größere Freiheiten verschaffst, hatte ich mir insgeheim schon gedacht ;-) :-) )

@Sapientius:
- ganz klar ist es vllt auch für die Antike nicht. Darüber streiten wir ja auch hier recht grundlegend
- Ich widerspreche dir aus der Praxis: Wir können auch heute ohne allzu große Mühe lernen, Längen und Kürzen sauber zu sprechen. Und dann spüren wir den Quantitätenrhythmus auch ohne Iktus. Es lohnt sich! (Und sogar Schüler:innen kommen damit klar, wenn sich alle - inklusive Lehrkraft - etwas Mühe geben.)

(Auch der Iktus stellt einen nicht zu unterschätzenden Lern-Akt dar - plötzlich kommen neue, fremde Betonungen in die Wörter -, der für viele sehr irritierend ist. Nicht mehr für dich natürlich, der du vor längerer Zeit bereits mit dem Iktus aufgewachsen bist.)
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon marcus03 » Sa 19. Nov 2022, 09:21

ille ego qui hat geschrieben: (Und sogar Schüler:innen kommen damit klar, wenn sich alle - inklusive Lehrkraft - etwas Mühe geben.)

Das Beste mMn ist immer noch, sich viele Texte anzuhören wie eine CD.
So kommt man m.E. am besten in den "sound" rein.
Das sollte man vor jeder analytischen Verserklärung tun. Erst das Ganze, dann die Details!
Wer den sound im Ohr hat, ist vlt. auch mehr motiviert, Hintergründe zu erfahren.
Viele Schüler:innen finden den Hexameter und Pentameter-Sound gewiss "einfach geiiiiiil".
Ich auch. Kein Vergleich zu dem nihilistischen, z.T. schwachsinngen Hip-hop-Mist und - Müll
einer no-future lost generation.
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon ille ego qui » Sa 19. Nov 2022, 09:26

Das Beste mMn ist immer noch, sich viele Texte anzuhören wie eine CD.


Und gleich mitsprechen (Schüler brauchen immer was zu tun)!
Sehr gut helfen / motivieren auch musikalische Vertonungen, vor allem Tyrtarion! (Für die Quantitäten meine ich jetzt, weniger für das Iktus-freie Sprechen.)
:-)
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon Tiberis » Sa 19. Nov 2022, 17:26

marcus03 hat geschrieben:Das Beste mMn ist immer noch, sich viele Texte anzuhören wie eine CD.

Mag ja sein, aber leider existiert keine CD, auf der antike Rezitatoren zu hören sind. In Ermangelung solcher authentischer Tondokumente bleiben naturgemäß alle unsere Versuche, antike Verse originalgetreu zu rezitieren, letztlich fragwürdig. Und so wird in der Iktus-frage aufgrund diverser indizien in die eine oder andere Richtung argumentiert, wobei die Iktusleugner derzeit in der Mehrheit zu sein scheinen :roll: , ohne jedoch schlüssige Beweise für ihre Hypothese vorlegen zu können.
Ein beliebtes "Argument" dieser Iktusleugner ist nun, dass es nirgends vorkomme, dass Wörter in der Dichtung anders betont werden als in der Prosa. Für die gängigsten europäischen Sprachen mag das zutreffen, aber schon im Ungarischen, in dem die Quantitäten ebenso eine Rolle spielen wie im Lateinischen, ist die Wortbetonung in Liedern nicht selten anders als in der "normalen" Sprache. Im Lateinischen (und Griechischen) kommt noch hinzu, dass - im Gegensatz etwa zum Deutschen - der Wortakzent selbst variabel ist, vgl. dt. die Àrbeit - die Àrbeiten; ich árbeite - ich àrbeitete , hingegen lat. lábor - labóres; labóro - laborábam. Auch angehängtes -que verschiebt den Wortakzent, jedenfalls immer dort, wo sich Positionslänge einstellt: vírum - virúmque usw. Es wäre also einigermaßen befremdlich, wollte man in einem iambischen Senar,z.B.

'O qui tuarum, corve, pinnarum est nitor!

im letzten Metrum statt der letzten die erste Silbe betonen (nítor), was dem Versrhythmus völlig zuwiderliefe und eher an einen Hinkjambus denken ließe als an einen jamb.Senar.

Sehen wir uns eine Horazode an, beispielsweise c.4,1:

Intermissa, Venus, diu
rursus bella moves? Parce precor, precor.
Non sum qualis eram bonae
sub regno Cinarae. Desine, dulcium
mater saeva Cupidinum, 5
circa lustra decem flectere mollibus
iam durum imperiis: abi,
quo blandae iuvenum te revocant preces.
Tempestiuius in domum
Pauli purpureis ales oloribus 10
comissabere Maximi,
si torrere iecur quaeris idoneum;


Jene Stellen, in denen Wortakzent und Versiktus zusammenfallen und deren Rhythmus somit eindeutig ist, habe ich farblich gekennzeichnet (blau= Glykoneus, rot = Asklepiadeus minor). Man kann davon ausgehen, dass dieser Rhythmus auch in den restlichen Versen existiert. Dieser Rhythmus wäre jedoch völlig zerstört, würde man z.B. in v.2 folgendermaßen betonen: parce précor, précor :hairy:
Natürlich wäre es ebenso verkehrt, den Wortakzent völlig auszublenden. Die Kunst des richtigen Rezitierens besteht ja darin, Wortakzent, Quantitäten und Versrhythmus gleichermaßen zu Gehör zu bringen. Man wird also beispielsweise v.8 folgendermaßen lesen:
quó blàndáe iùvenúm té rèvocánt prècés
quid obstat?
:)
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon marcus03 » Sa 19. Nov 2022, 18:17

Tiberis hat geschrieben:aber leider existiert keine CD,

Selber anfertigen oder von einer kompetenten Person (Lehrkraft//Profi) anfertigen lassen.
;-)
Vlt. sogar ein kleines Geschäftsmodell.

Tiberis hat geschrieben:In Ermangelung solcher authentischer Tondokumente bleiben naturgemäß alle unsere Versuche, antike Verse originalgetreu zu rezitieren, letztlich fragwürdig.

Es muss nicht perfekt sein, ein vernünftiger Kompromiss sollte ausreichen. :)
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon ille ego qui » Sa 19. Nov 2022, 20:10

ohne jedoch schlüssige Beweise für ihre Hypothese vorlegen zu können


Ui, da bist du nicht sehr gut informiert.
Einige Argumente habe ich hier bereits an verschiedener Stelle vorgetragen. Leider wird darauf kaum eingegangen (was mich zugegebenermaßen etwas frustriert :( ), weshalb ich es jetzt auch offiziell aufgebe, mich zu dem Thema hier zu verausgaben. :D
Valeatis!
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon Tiberis » So 20. Nov 2022, 02:03

ille ego qui hat geschrieben:Ui, da bist du nicht sehr gut informiert.
Einige Argumente habe ich hier bereits an verschiedener Stelle vorgetragen.


Richtig: Argumente ( die mich allerdings nicht überzeugen konnten), aber eben keine Beweise. Und solange keine originalen Tondokumente vorliegen oder zumindest eine eindeutige (!) Aussage eines antiken Autors, wird man schwerlich einen solchen Beweis erbringen können, "Information" hin oder her.
Im übrigen ziehe ich es grundsätzlich vor, erst einmal selbständig zu denken, anstatt unreflektiert die gerade vorherrschende Meinung sogenannter Autoritäten zu vertreten, die den Stein der Weisen gefunden zu haben glauben.
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon Sapientius » So 20. Nov 2022, 10:51

Wie soll man es verstehen, dass Tacitus seine Annalen mit einem perfekten Hexameter beginnt (Proömium):

"Urbem Romam a principio reges habuere",

wollte er mit der Aeneis konkurrieren? Oder hat er es gar nicht gemerkt?
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon ille ego qui » So 20. Nov 2022, 11:19

Im übrigen ziehe ich es grundsätzlich vor, erst einmal selbständig zu denken, anstatt unreflektiert die gerade vorherrschende Meinung sogenannter Autoritäten zu vertreten, die den Stein der Weisen gefunden zu haben glauben.


Sehr richtig!
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon Sapientius » So 20. Nov 2022, 17:33

...weshalb ich es jetzt auch offiziell aufgebe, mich zu dem Thema hier zu verausgaben.


Verdruss sollte es wegen so einer Frage nicht geben, lasst doch jeden die Verse lesen, wie er es für richtig hält! "Anything goes" heißt die Devise von Paul Feyerabend, es lohnt sich nachzuhaken.

Leider wird darauf kaum eingegangen (was mich zugegebenermaßen etwas frustrier


Das Gefühl kenne ich auch :-D
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon ille ego qui » So 20. Nov 2022, 18:21

:thumbup:
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 21. Nov 2022, 21:07

Ich bin jetzt keiner, der lateinische Dichtung als Priorität sieht. Es ist aber trotzdem interessant, was man in der Literatur alles findet.., :)
Dass man sich eigene Gedanken macht, ist schon verständlich, aber die schon geschriebene Literatur sollte man trotzdem nicht vergessen. Jedes Fach macht das. Denn keiner muss das Rad immer wieder neu erfinden. Das ist auch der Sinn von Wissenschaft und Universitäten. Diskussionen können sich dann ja trotzdem anschließen.
Niemand kann mit Sicherheit behaupten, wie es wirklich war. Cicero und auch Quintilian geben Hinweise.
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Re: Hörbeispiel Vergil ohne Iktus

Beitragvon ille ego qui » Mo 21. Nov 2022, 23:01

Cicero und auch Quintilian geben Hinweise


Salve!
Was findet sich dazu bei Quintilian? :-)
Vale.
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