Deine Punkte, Prudenti, kann ich vom psychologischen Standpunkt her nachvollziehen. Die Argumente beziehen sich ja auf den didaktischen und allgemeinbildenden Aspekt des Lateinichen, der meiner Meinung nach vom streng wissenschaftlichen zu trennen ist - das Gymnasium hat ja keinen wissenschaftlichen, sondern einen bildenden Anspruch. Allerdings sollte die klassische Philologie einen Anspruch haben, der ueber das Gymnasium hinausgeht.
Interpretiert man das Ganze aber von der wissenschaftlichen Seite her, scheinen mir deine Punkte ein Symptom dafuer zu sein, dass die heutigen klassischen Philologen sich vom Selbstverstaendnis her historisch am ehesten mit der Artistenfakultaet identifizieren, die natuerlich eine zentrale Rolle in der akademischen Welt spielte, die aber, wahrscheinlich im Gegensatz zu der Auffassung der Professoren, fuer den Grossteil der Studenten nur die Vorstufe der weiterfuehrenden Studien in Recht, Medizin oder Theologie war und keinen Selbstzweck darstellte. Heutzutage ist es aber nun einmal so, dass die Faecher des Quadrivium nicht mehr das Trivium voraussetzen, und eine Wissenschaft, um anerkannt zu werden, einen wissenschaftlichen Mehrwert vorzuweisen hat, und wenn sich die Lateiner auf ihre Rolle als Hueter und Vermittler des kulturellen Erbes beschraenken, ohne zu versuchen, die menschliche Erkenntnis zu erweitern, dann sind sie eben keine Wissenschaftler im modernen Sinne.
Dieses Bild ist natuerlich ueberzeichnet, und es gibt viele Philologen, die sich ihres wissenschaftlichen Auftrags durchaus bewusst sind, aber es hat vielleicht einen wahren Kern, genau wie deine ueberzeichneten Punkte einen wahren Kern haben.
Ueber das Lateinstudium kann ich natuerlich nur als Aussenstehende sprechen und uebersehe sicherlich auch einiges; ich glaube aber, ein grosser Teil des Problems liegt darin, dass das Lateinstudium dieser Tage zu sehr auf die Lehrerausbildung fokussiert ist. In diesem Zusammenhang waere es mal interessant, Zahlen zu haben, wie viel Prozent eines Jahrgangs auf Lehramt studieren und wie viele das anpeilen, was bis vor kurzem ein Magister war (heute heisst ja beides Master). Mittel-und Neulatein war jedenfalls gerade deswegen so attraktiv, weil die Studenten ein echtes und tiefergehendes wissenschaftliches Interesse hatten, waehrend ein Teil der Lehraemtler das Studium als reine Ausbildung betrachten und damit leider das generelle Niveau senken. Ich weiss nicht, wie das in anderen Geisteswissenschaften aussieht, aber in den Naturwissenschaften ist es so, dass die Lehraemtler ab etwa dem dritten oder vierten Semester getrennte Wege gehen. Fuer kuenftige Lateinlehrer ist natuerlich die Sprachbeherrschung das A und O, und insofern ist es sinnvoll, weiterhin sprachpraktische Uebungen fuer sie anzubieten, aber fuer wissenschaftlich interessierte Studenten hat es eigentlich keinen Sinn, sich im Hauptstudium noch auf Uebersetzungen zu konzentrieren; spaetestens hier sollte die Literaturtheorie einsetzen. Wer wissenschaftlich interessiert ist, sollte aus eigenem Interesse die sprachlichen Voraussetzungen mitbringen. Vielleicht muesste in den ersten Semestern mehr gesiebt werden, eine saftige Stilklausur im ersten Studienjahr oder so... Wenn es anderen Geisteswissenschaftlern zuzumuten ist, innerhalb eines Semesters Latein bis zum kleinen Latinum nachzuholen, dann muesste so etwas auch vertretbar sein.
In den fortgeschrittenen Seminaren koennte man sich vielleicht an den Theologen orientieren, die scheinen es ja halbwegs zu schaffen, auf der Grundlage eines eher beschraenkten, aber gut erschlossenen Textkorpus und seiner Rezeptionsgeschichte trotzdem tiefgruendig zu forschen. Die neueren Sprachen sind da wahrscheinlich kein gutes Vergleichsobjekt, weil sie auf ein viel groesseres und staendig wachsendes Textkorpus zurueckgreifen koennen.
Roberte, ich habe mich fuer die Mathematik u.a. deswegen entschieden, weil es viel leichter ist, Latein als Hobby zu betreiben als Mathematik. Und das mit dem frischen Wind, was du beschreibst, Medice, stelle ich auch immer wieder fest. Ohne uns Fachfremde waeren die Philologen schon arm dran, was?