mystica hat geschrieben:Das humanistische Bildungsideal Humboldt'scher Prägung war vor allem für eine gewisse gesellschaftliche Schicht ein elitärer Code und ist darum wohl auch mit Recht durch das Konzept sozialer Chancengleichheit im Bildungswesen seit den 70ern Jahren im letzten Jahrhundert ersetzt worden. Hierin mag auch die tief greifende Legitimationskrise der alten Sprachen an den Schulen begründet sein, die sich nun vor einer neuen Klientel von ferneren Bildungsschichten rechtfertigen muss.
Salve liebe Mystica,
da hast Du wieder einmal einen Rundumschlag gelandet, der sich gewaschen hat, aber eigentlich mit dem ursprünglichen Thema nichts mehr zu tun hat: Nämlich wie man Kindern und ihren Eltern Latein schmackhaft machen könnte.
Eigentlich teile ich Tiberis' Meinung voll und ganz - und das wird Dich ja kaum wundern.
Aber als eine, die sowohl aus den, wie man sie heute wohlwollend-herablassend nennt, bildungsfernen Schichten stammt, als auch als Gymnasiastin, die den 68er "Aufstand" an unserem Gymnasium und in den Nachrichten den Radau und die Zerstörungswut der Studenten mitverfolgen konnte und auch als Bürgerin einer "wahrhaften", nämlich direkten Demokratie, muss ich doch noch ein paar Anmerkungen machen.
Also, die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium habe ich im Februar 1966 gemacht - und obwohl noch nicht in den 70ern, war das die fairste Prüfung, die ich je absolviert habe: Wir haben beim Namensaufruf eine Nummer erhalten und alle Schriftstücke mit dieser Nummer angeschrieben. Die korrigierenden Lehrer wussten nicht, wessen Arbeit sie vor sich hatten. Wir waren eine gut durchmischte Klasse, sowohl Kinder "der gewissen gesellschaftlichen Schicht mit dem elitären Code" als auch Kinder aus den verschiedensten bildungsfernen Schichten.
Die absolute Voraussetzung für diese Art Schule ist doch einfach der entsprechende IQ, egal aus welchem Milieu man stammt. Meine Eltern konnten mir beim Lösen der Aufgaben nicht helfen. Aber es haben Kameraden und Kameradinnen die Schule aufgeben müssen, deren Eltern hätten helfen können. Deine Schlüsse zum Humboldt'schen Bildungsideal sind für mich also nicht zutreffend. Es war mir durchaus bewusst, dass so lange zur Schule gehen zu können, nicht selbstverständlich, sondern ein Privileg war. Obwohl wir damals am Samstag Vormittag auch Schule hatten und auch mit Hausaufgaben gesegnet waren, blieb doch noch Zeit, unseren Interessen nachzugehen und unsere Persönlichkeit zu formen. Dass das heute nicht mehr so ist, das verdanken wir Bologna, da hast Du recht.
Ich habe die B-Matura gemacht, also mit Latein und einer modernen Fremdsprache, in meinem Fall Englisch. Französisch hatten wir alle. Es gab noch die Typen A (mit Altgriechisch) und C, ohne die alten Sprachen - dafür mit mehr Mathe und Physik. 1973, als ich mein Studium begann, wurde beschlossen, dass auch die C-Abgänger Medizin (oder Tiermedizin) studieren konnten, was vorher nicht der Fall war. Und in meinen Augen wurde da der eigentliche "Sündenfall" den alten Sprachen gegenüber begangen. Und warum? Man - die Bildungsminister, die Unirektoren etc. - waren der Meinung, dass die Medizin immer technischer würde. Das ist auch wahr, aber jemand, der später Radiologe wird, muss sich eh da konkret weiterbilden. Zu meiner Zeit war man nach dem Staatsexamen ein in der Theorie beschlagener Generalist (-In). Heute müssen die Studenten die spätere Fachrichtung schon zu Beginn der klinischen Fächer wissen und die Hauptrichtung wird dann Schwerpunktfach genannt. Das wird auch härter geprüft. Ich finde das auch falsch, und es ist wohl auch Bologna geschuldet, wie die Einteilung des Studiums in Bachelor und Master. Auch so idiotisch. Die Kunden wollen, dass Frau Doktor im Stall ihr Metier betreibt, nämlich die tiermedizinische Heilkunst, und nicht als Masterin of Veterinary Medicine sich rein technischen Abläufen widmet.
Zu den 68ern:
1968, im Frühsommer, habe ich als Drittjahr-Gymnasiastin mit Erstaunen gesehen, dass sich die zwei letzten Klassen vor der Matura (auch nicht alle) in der grossen Säulenhalle zu Sit-ins trafen. Sie sassen da auf dem kalten Plattenboden und hielten Transparente hoch. "Ho Chi Minh," und "Che" und "Fidel", "Amis go home" - dabei hatten wir ja ausser ein paar Touristen gar keine im Land. Die Schulleitung hat das Problem nonchalant gelöst. Sie liess die "Demonstranten" ein paar Tage sitzen und fragte dann, was sie konkret wollen würden? Eine Raucherzone vor dem Schulgebäude. Die haben sie auch erhalten: Auf der dem Ostwind zugewandten Seite.
Als dann aber, im August 68 die russischen Panzer durch Prag donnerten und wir, d.h. , die jüngeren Schüler mit ihren Klassenlehrern mit einem Fackelzug gegen das Niedertrampeln von ein paar Knospen der Demokratie protestierten, hat man von den Säulenhallenheiligen nur wenige gesehen.
Du schreibst:
mystica hat geschrieben:die 68er Studentengeneration sehr hitzköpfig
. Hitzköpfig ist der falsche Ausdruck: Die waren gedankenlos, gewalttätig, ja zum Teil kriminell: Autos (die durchaus auch FabrikarbeiterInnen gehört haben könnten) anzünden, Scheiben einschlagen, Polizisten mit Pflastersteinen bewerfen - das alles ist einer Studentenschaft unwürdig. Zumal ein Teil des Studiums ja von diesem verhassten Staat finanziert wurde! Und komm mir jetzt ja nicht damit, die Polizei hätte sie provoziert und sei brutal gewesen: Jeder Staat, egal welcher Couleur, muss seine Bürger und ihr Eigentum schützen. Ich bin sicher, Caesar hätte in derselben Situation die Aufstände (um solche handelte es sich ja eigentlich) mit ein oder zwei Legionen erstickt.
Ja, was ist aus den Alt-68ern geworden? Einige haben die RAF gegründet und sind zu Terroristen und Mördern geworden, z.T. auch in ihre gelobten Ostblockländer ausgewandert und haben in dem Dunstkreis auch den Palästinensern geholfen, Flugzeuge zu entführen - die überwiegende Mehrheit hat ihr Studium wieder aufgenommen. Die Universitäten haben Studentenräte (an meinem ersten Studientag ist auch so einer beim Eingang gestanden mit einem Programm für eine Versammlung der Erstsemestrigen - was soll ich Dir sagen: 61 Veterinäre und etwa 160 Ärzte und Zahnärzte in spe haben dankend abgelehnt) toleriert, sie durften für ihre Beratungen Uni-Räumlichkeiten benutzen, die Rektoren haben ihre Anliegen mit einem Lächeln entgegengenommen und der Betrieb ging weiter wie vorher. Nichts von "verkrusteten Strukturen" aufbrechen. Die Rekruten durften mit langen Haaren Dienst tun - allerdings aus Sicherheitsgründen mit Haarnetz. Und weil das ziemlich weiblich aussieht (Transgender war damals ein unbekanntes Fremdwort), dauerte diese Phase nicht sehr lange.
Aber als das Studium fertig war, da haben sich die idealistischen 68er ins Berufs - und Wirtschaftsleben gestürzt: Einige sind rot geblieben und Bundeskanzler geworden, haben Zigarre geraucht, regelmässig die Ehefrau gewechselt und Harz IV eingeführt; andere sind grün und Aussenminister geworden und einer der Bekannteren ist, nachdem er die RAF-Mörder verteidigt hatte, noch Innenminister geworden. Wiederum andere sind CEOs oder Vorstandspräsidenten von grossen Gesellschaften geworden. Und haben als solche dann Bologna mit in Gang gesetzt. Dass die 68er zur Gleichberechtigung der Frauen wesentlich beigetragen hätten, halte ich für ein Gerücht. Wir haben das Frauenstimmrecht spät erhalten - aber durch die stimmberechtigten Schweizer Männer, nicht die 68er.
Noch zu dem da:
mystica hat geschrieben: Professoren wie z. B. Ernst Nolte, der einen kausal Nexus zwischen Auschwitz und dem Archipel Gulag herzustellen versuchte, relativierte den Holocaust, indem er lehrte, dass der Archipel Gulag "das logische und faktische Prius" von Auschwitz gewesen sei.
Ich kannte die Ansicht dieses Professors bis jetzt nicht. Aber ich glaube nicht, dass er damit den Holocaust relativieren wollte. Er hatte insofern nicht recht, als dass die agierenden Nazis wahrscheinlich von diesen Gulags, weit hinten in Sibirien, gar nichts wussten. Hier wäre vielleicht auch die Bemerkung angebracht, dass Stalin durch die Gulags, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die "Säuberung" des Offiziers-Kaders mehr Leute umgebracht hat als er dann im WK II verloren hat.
Über den Antisemitismus, der, da hast Du recht, an verschiedenen Orten wieder auflebt, was ich auch nicht gut finde, solltest Du insofern vertiefter nachdenken, als er seinen Ursprung meines Wissens nach in der frühen katholischen Kirche hat: Man hat die Juden als Mörder Christi hingestellt (das war allerdings den Nazis egal) und verfolgt. In der Folge hat man ihnen im Mittelalter nur einige Berufe zugestanden, u.a. Geldverleiher, Händler etc. Und, liebe Mystica, wenn Deine oder meine Familie während tausend Jahren Geldverleiher gewesen wären, wären wir wahrscheinlich jetzt Töchter von grossen Bankern. Und das ist den Nazis im Wesentlichen in die Nase gestochen, dass viele Bankhäuser Juden gehörten und sie gut, wie man heute sagt, "vernetzt" waren.
So und jetzt noch ein paar Worte zur Demokratie. Dass Du rechtsbürgerliche oder rechtskonservative Kreise gleich ins Nazilager schmeisst, oder ihnen Antisemitismus usw. vorwirfst,
das ist intolerant und "pseudo-elitär" Ich wähle seit Jahrzehnten die Schweizerische Volkspartei (die Partei bei uns, die den grössten Wähleranteil hat, notabene), ohne Mitglied zu sein. Sie ist rechtsbürgerlich und vertritt die Interessen von Bauern, Handwerkern, Freiberuflern (wie eben Tierärzten), aber natürlich z.T. auch von einem Teil der Grossindustrie (da ist dann auch noch die FDP zuständig). Da wir eben eine direkte Demokratie sind, können wir ja auch viermal im Jahr zu Sachvorlagen Stellung nehmen. Und wenn dann diese Partei halt mit einem "Furz" kommt, ja dann stimme ich auch dagegen. So einfach ist das.
Die grosse Gefahr für unsere Demokratien ist, dass die Leute nicht mehr verlieren können. Der zentrale Punkt der Demokratie ist die Abstimmung, das Entscheidenkönnen. Und da gibt es jeweils einen Sieger und einen Verlierer. Das war schon im alten Griechenland so. Nur gab es dort keine Journalisten, die fünf Minuten nach Bekanntwerden des Resultates vom Anführer der Verlierer wissen wollte, was er falsch gemacht habe. Und der dann sofort antwortet, "eigentlich haben wir ja die Abstimmung gar nicht verloren".
Eigenartig ist auch, dass Du - aber nicht nur Du, den Populismus immer nur rechts der Mitte suchst und findest. Wenn ich richtig liege, hat das Wort mit populus zu tun und das wird ja u.a. mit "Volk" übersetzt (zu Zeiten der Republik waren das die freien Römer). Jede Partei vertritt "ihr Volk": Also müsste es dem gemäss auch Mittepopulisten, Linkspopulisten und seit einiger Zeit Grünpopulisten geben!
Und bei letzteren wären wir dann auch noch bei Greta, der Du ja "so dankbar" bist. Ist durchaus o.k. Die sollen demonstrieren - aber nicht an Schulnachmittagen! Da sollen sie lernen, damit sie dann, sollten sie einmal an den Drücker der Entscheidung kommen, alles besser machen können! Wie seinerzeit die 68er!
mystica hat geschrieben:ich meine, dass dies auch notwendig gewesen ist, um die verkrusteten autoritären Strukturen von Staat und Gesellschaft überhaupt aufbrechen zu können.
Ein Staat, selbst ein moderater, wie der in dem ich lebe, braucht gewisse, auch autoritäre (z.B. Strafverfolgung) Strukturen - sonst herrscht Anarchie. Wie damals, als die 68er auf die Strasse gingen - das waren keine Demonstrationen mehr, das waren Zerstörungsorgien.
Und wie ist denn Deine Einstellung zum Vatikan? Es gibt doch in ganz Westeuropa keinen autoritäreren Staat als den Vatikan. Gemäss Deiner Logik müssten ja die Katholiken auf dem Petersplatz Tag und Nacht demonstrieren, um die Basis-Demokratisierung Eurer Kirche herbeizuführen.
mystica hat geschrieben:Diskriminierung von Minderheiten, Sexismus, Genderphobie und Nationalismus
Warum hast Du denn am 24.1. 21. im Forum Latine loquendi unter "Abhinc annos" den Geburtstag des "alten Fritz" so gross aufgemacht? Er ist zufällig eine meiner Lieblingsfiguren der Geschichte - aber er war einer der grössten Frauenfeinde, den es in Europa je gab. Die einzige Frau, mit der er sich austauschte, war seine Schwester. Seine Gemahlin hat er, nachdem er den Thron bestiegen hatte, in einem Schloss deponiert. Er war ein Nationalist erster Güte - er hat Kriege nicht geführt, um seine Armee auszuprobieren, sondern um Preussen grösser zu machen. Er war ein absoluter Herrscher, intelligent und begabt zwar und glaubte sicher daran, wenn er sagte, " es solle jeder (nicht "jede") auf seine Façon selig werden". Das galt nur, solange sich die Façon seiner Untertanen nicht mit der Seinigen kreuzte: Dienstverweigerer und Deserteure hat er zum Tode verurteilt.
Liebe Mystica, es wäre toll, wenn Du Fritzes Motto, dass jeder (und jede) auf ihre Façon selig werden sollte, etwas mehr beherzigen würdest und nicht alle von uns, die Meinungs- und Redefreiheit und (rechts-)bürgerliche Werte hochhalten, in Deinen grossen Schlagworttopf werfen würdest.
In diesem Sinne vale
Veterinaria