Deutung der Aphrodite- Pan Gruppe

Fragen zur Geschichte und Archäologie des griechisch-römischen Altertums

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Deutung der Aphrodite- Pan Gruppe

Beitragvon Prodikos » Fr 12. Okt 2007, 17:30

Salve / Χαιρε

Wer Lust hat, kann sich ja mal meinen geistigen Dünnschiss zur Deutung der Aphrodite- Pan- Gruppe, der sog. "Pantoffelgruppe" reinziehen und u.U. konmmentieren. Ich hab einfach mal diesen Thread gewählt. Wem das Kunstwerk momentan nicht präsent ist: http://www.wellermanns.de/Gerhard/images/GL/griechen_roemer/olympia/aphrodite_eros_pan.jpg

Mythischer Stoff in der (spät)hellenistischen Plastik
am Beispiel der „Pantoffelgruppe“


Grundsätzlich können (griechische) Mythen (altgriechisch ὁ μῦθος) als erzählte Geschichten begriffen werden. Als solche fußen sie auf einer mündlichen Dichtungstradition, die wohl um das Jahr 700 v.u.Z. mit Homer eine entscheidende literarische Rezeption erfährt. Aber auch die bildliche Darstellung mythischen Stoffes bestimmt nun zunehmend die Lebensumwelt der Griechen. So hat sich neben der ursprünglichen Funktion des Mythos, als Kultlegende religiösen Charakter zu haben, eine neue Bewusstseinsdimension etabliert: Mythen dienen der Daseinsbewältigung; sie helfen, (z.B. Natur-) Phänomene erklär- und begreifbar zu machen sowie differenzierte anthropologische Erfahrungsebenen in Form von menschlichen Grundsituationen schlüssig zu verarbeiten. So unterliegen sie seither einer steten Beeinflussung, quasi einer permanenten Aktualisierung, denn indem jede Zeit ihre individuell unterschiedlichen Erfahrungen im Medium Mythos einbettet, offeriert dieser die prinzipiell offensten gestalterischen Rezeptionsformen. Während im 6. Jahrhundert v.u.Z. schwarz- und rotfiguriger Keramik die essentielle Bedeutung bezüglich der Mythendarstellung zukommt, bringt die Klassik ihren mit einem präsentischen Deutungsangebot versehenen Mythenstoff um 400 v.u.Z. sogar auf die Theaterbühne. Schließlich bedient sich der Hellenismus ab dem 4. Jahrhundert v.u.Z. eindrucksvollen Bronze- und vor allem Marmorplastiken, um ein epochentypisch überwältigendes Lebensgefühl zu vermitteln. Die Trinität aus Emotionalisierung, Dramatisierung und Psychologisierung wird dabei zum stilprägenden Merkmal. Anhand der (spät)hellenistischen Aphrodite- Pan- Gruppe soll in der Folge der Umgang der Künstler dieser Zeit mit mythischen Inhalten untersucht und grob skizziert werden.

Wieso denn das?

Die Marmorgruppe, welche die Gottheiten Aphrodite, Pan sowie Eros zum Thema hat, entstand vermutlich um 100 v.u.Z. als Weihgeschenk eines Dionysios aus Berytos (Beirut), der sie einem Vereinshaus seiner Landsleute (Poseidoniasten) auf Delos stiftete. Die 132 cm hohe Plastik findet sich heute im Archäologischen Nationalmuseum in Athen.

Eine durchtriebene Ehebrecherin

Um die Gesamtkomposition anschließend tiefgründiger verstehen zu können, scheint es sinnvoll, zunächst die einzelnen Figuren isoliert zu betrachten und erst dann in den Bildkontext einzuordnen. Die von der Vorderfront aus gesehen links situierte Aphrodite gilt als die Göttin der Schönheit sowie der geschlechtlichen Liebe. Doch bereits die Vorüberlegung, welchen Entstehungsmythos man ihrer Person zu Grunde legt, mag - wie man sehen wird - für die spätere Deutung maßgeblich werden. So wird sie, gemäß Homerischen Epen, als Tochter des Zeus und der Dione beschrieben, bei Hesiod hingegen entsteigt sie dem Meer, nachdem Kronos seinen Vater Uranos entmannt hat und die abgetrennten Genitalien im Ozean verschiedene Geschöpfe hervorbringen. Ihren eigentlichen Gatten, den hinkenden Schmiedegott Hephaistos, betrügt sie unter anderem mit dem Kriegsgott Ares, wobei aus dieser Verbindung neben Eros und Anteros noch Harmonia, Deimos sowie Phobos hervorgehen.

Stinkendes Tier und die Liebe

Der in der Regel gehörnt und bocksbeinig dargestellte Hirten- und Weidegott Pan befindet sich in der Gruppe rechts, wobei Aphrodites Sohn Eros, der Gott der Liebe, als kleine, engelhafte Züge tragende Gestalt zwischen beiden oberhalb schwebt. Hesiod begreift die Figur des Eros als eine Art Urkraft, die am Anfang der Zeit entscheidend Sorge für die Entwicklung vom Chaos zur geordneten Welt (ὁ κόσμος) trägt.


Eine Begegnung der absonderlichen Art

Vorab: die Grundsituation dieser mythischen Begebenheit ist eine konstruierte. Das heißt, dass der Marmorgruppe kein eigentlicher Mythos zu Grunde liegt, sondern hier eines der wesentlichen Charakteristika (spät)hellenistischen Mythenverständnisses offenbar wird: selektiv bestimmte Bildelemente (in diesem Fall Götter) werden quasi versatzstückartig komponiert, um die bereits angesprochene emotional- dramatische Wirkung zu erzielen. Konkret ist es unzweifelhaft das Anliegen des lüsternen Pan die bezaubernde Aphrodite für ein sexuelles Abenteuer zu gewinnen. Wer könnte es ihm verdenken? Wiederum Hesiod macht darauf aufmerksam, dass schlichtweg alles ihrem Charme erliegen müsse, wenn er schreibt „[…] Hier entwand sich dem Schaum die erhabenste, reizendste Göttin“. Dennoch muss man sich diesen krassen (, weil inszenierten!) Gegensatz eines vollkommen ungleichen Paares bewusst vor Augen führen: einerseits die schöne, wohlgestaltete Göttin mit der perfekten Figur und einem anmutigen, gar rein erscheinenden Wesen, kurzum eine kultivierte Frau; andererseits das (auch deutlich kleinere) stinkende, rohe, triebgesteuerte Ziegenwesen. Diese geradezu beißende Polarität vermag die (spät)hellenistische Plastik so treffend zu karikieren; die Situation lebt regelrecht von ihrer Absurdität und Pervertiertheit. Obgleich man anmerken muss, dass das Werk angesichts seiner Datierung mit 100 v.u.Z. nicht der Majorität typisch späthellenistischer, sprich mehr oder weniger neoklassischer Künstler, folgt. Nichtsdestotrotz verkörpert es den emotionalen Grundgedanken von Unerhörtheit sowie teils phantasten Konstellationen (erinnert sei an den artemisionischen Jockey) unnachahmlich.

Stinki buhlt

Pans ungenierter Griff an Aphrodites Handgelenk, dessen Fortsatz sie nutzt, ihre Scham zu verdecken, wirkt geradezu dreist. Sein ahnungsvolles Lächeln findet zudem Ergänzung in der Geste der rechten Hand. Diese werkelt nämlich bereits am Po der Göttin. Ferner scheint Pans rechtes Bein Aphrodites Oberschenkel und ihren Gesäßansatz bewusst zu berühren. In diesem Zusammenhang sei nochmals auf die völlig konträren Konzeptionen der Figuren hingewiesen: Aphrodites Füße sind nicht in der Erde verwurzelt, die linke Ferse ist leicht angehoben, grundsätzlich ist die Göttin nicht an die Erde und ihre Genüsse gebunden. Pan dagegen wirkt wieder als der Niedere, Primitive, den Wurzeln Nahe, der es sich als maskuliner, erdverhafteter menschlich- tierischer Bock nicht erlauben dürfte, die weiblich- himmlisch- lichte Göttin frech- frivol zu berühren oder gar zu nötigen.

Warum denn nun „Pantoffel“?

Aber wird Aphrodite tatsächlich genötigt? Vollkommene Ablehnung sieht freilich anders aus. Der leicht belustigt wirkende Schimmer auf ihrem Antlitz verrät so viel wie er offen lässt. Ist sie vielleicht sogar erregt? Natürlich hebt sie mit der rechten Hand ihren Schuh, um dem lüsternen Widerling Einhalt zu gebieten; das Ganze wirkt dennoch ziemlich halbherzig und keineswegs als ob eine brutale Verletzung des Hirtengottes intendiert wäre. Diese wenig erschreckende Andeutung einer Drohgebärde mit dem Schuh mag ausschlaggebend für den bereits gefallenen mehrdeutig- karikierenden Ausdruck der „Pantoffelgruppe“ sein: der Pantoffel, der gegen Pan gerichtet ist.

Wird sie schwach?

Aphrodite, wie gesagt als Göttin der geschlechtlichen Liebe, scheint ihrerseits in der Tat noch im Entscheidungsprozess für oder wider ein heftig- laszives Liebesabenteuer befindlich, man muss jedoch auch berücksichtigen, dass sie ihren Gatten Hephaistos bisher nur mit vermeintlich edleren Partnern (z.B. Anchises, Adonis, Hermes) als dem stinkenden Halbtier Pan betrogen hat. Daher kann hier lediglich die begründete Vermutung ihrer gegenwärtigen Unentschlossenheit geäußert werden. Letztlich handelt es sich aber eben auch bei Aphrodite um eine anthropomorph gestaltete Gottheit.

Der Sohn verkuppelt die Alte

Womöglich beeinflusst Eros die bisher unaufgelöste Szene; jener pausbäckig dargestellte, fast schon barockähnliche, kleine, geflügelte Gott, welcher normalerweise Pfeil und Bogen bei sich trägt, um das Liebesglück zu verteilen. Er scheint regelrecht in der Luft schwebend, da nur eine sanfte Berührung von Aphrodites Schulter auszumachen ist. Diese Szenerie genießt aber in der bildenden Kunst durchaus keinen Seltenheitswert, denn der kleine, verspielte Eros gilt in Gesellschaft seiner Mutter Aphrodite als beliebtes Motiv. Zurück zur Marmorgruppe: das kecke Lachen, das den Mund des Winzlings vollkommen amüsiert umspielt, deutet dabei schon seine Absicht an. Dieser unerhörte Frechdachs scheint doch tatsächlich Gefallen daran zu finden, seine Mutter mit diesem Tierwesen verkuppeln zu wollen. Eros lacht dem Pan zu; kann ersterer vielleicht sogar die Göttin der Schönheit selbst - wenn auch nur temporär - liebestrunken machen? Mag man mit diesem Deutungsansatz sympathisieren, so darf der Griff Eros’ an Pans rechtes Horn getrost als aktive Einflussnahme auf das Geschehen gelten: er zieht ihn in Richtung Aphrodite.

Das Trikolon

Wie schon erwähnt, begreift Hesiod die Gestalt des Eros als die des ersten und so auch ältesten Gottes, welcher jedoch gleichzeitig ewig jung bleibt und sich die damit verbundene kindliche Spielerei bewahrt. Es handelt sich hierbei um einen kreativen, tabubrechenden Knaben, vermutlich unerzogen bis in alle Ewigkeit. Schließlich sei erneut der Verweis auf die zuvor geäußerte Deutungshypothese gegeben, dass der Korrelation der Figuren ein gewisses, absichtlich derart intendiertes, Trinitätsschema der Liebe innewohnt: oben Aphrodite (himmlische Liebe) - unten Pan (naturhafte Liebe) - dazwischen Eros (beide Aspekte verbindend). Denn: im Prinzip stellt die Plastik drei Liebesgottheiten dar.
Auf der Grundlage der bisher gewonnenen Erfahrungen soll nun kurz versucht werden, den für den Hellenismus typischen, von Lessing als „fruchtbaren Augenblick“ charakterisierten Moment in der „Pantoffelgruppe“ zu spezifizieren. Es handelt sich dabei um jene Art Sekundenbruchteil des mythischen Geschehens, der sowohl Vergangenheit, Gegenwart als auch Zukunft der jeweiligen Handlung(en) erkenn- und abbildbar machen lässt. Während man bei der vorliegenden Marmorplastik die ersten beiden Tempora noch relativ offensichtlich zunächst durch Pans frivoles Ansinnen (und Zugreifen!) sowie später Aphrodites präsentisch aufzufassende Schuhabwehr gekennzeichnet sieht, so gestaltet sich die Frage nach dem Kommenden, quasi dem Ausgang der Situation, als wohl schlichtweg nicht beantwortbar. Man darf Folgendes nicht außer Acht lassen:
1. die mythische Begebenheit ist rein konstruierter Natur
2. die Göttin wirkt unentschlossen

Dieses Verständnis der Gesamtsituation suggeriert dem Betrachter eine - womöglich bewusst gestaltete - Offenheit des Geschehens in beide Extreme: Pan erntet eine schallende Ohrfeige durch die Sohle oder er erreicht sein Ziel des Liebesakts.

Warum zum Teufel „fruchtbar“?

Ergänzend kommt hinzu, dass das hellenistische Lebenskonzept grundsätzlich so geartet ist, dass es sich (auch in der Kunst) in Form von momentanen Eindrücken niederschlägt: man vermag Augenblicke festzuhalten. Diese Prämisse erlaubt ganz und gar erst, einen „fruchtbaren Augenblick“ identifizieren zu können.

Antike Winkelkunde

Abschließend sei noch ein Bezug zur charakteristischen Gestaltung hellenistischer Plastiken gegeben. So präsentiert sich die sowohl auf Einzelfigur und Gruppenkomposition angewendete Methode des völligen Auseinanderstrebens sämtlicher Körperachsen gestalterisch in der linearen Folge von Archaik (zueinander orthogonale Achsenführung) und Klassik (zunehmende Verwendung spitzer oder gar stumpfer Winkel in der Achsenführung). Es kommt zur allseitigen Eroberung des Raumes. Bewegungen werden bis zu ihren finalen Möglichkeiten und Flüchtigkeiten dargestellt und Körperhaltungen in voller Leidenschaft oder brutaler Rohheit plastisch gebannt. Meist nur für Augenblicke mögliche Bewegungen sind auf Grund statisch gewagter Konstruktionen oft nur mittels Stützen überhaupt standtauglich (als Beispiel kann erneut der artemisionische Jockey herangezogen werden, da sein monströser Gaul nur durch eine Strebe die Vorderhufe heben kann).

Was bleibt?

Basierend auf der Auseinandersetzung mit der Marmorplastik Aphrodite- Pan- Gruppe gelangte ich zu der Erkenntnis, dass die Verarbeitung mythischen Stoffes in der (spät)hellenistischen Zeit in erster Linie auch dekorativen Zwecken dienlich gemacht wurde. So stand die Produktion der Werke oftmals unter dem Einfluss königlicher Auftraggeber. Desweiteren hoffe ich, dass es mir ansatzweise gelungen ist, essentielle Stilmerkmale herauszustellen sowie diese am konkreten Beispiel verifizieren beziehungsweise falsifizieren zu können. Der Aspekt des stark psychologisierenden Effektes solcher, bewusst derart komponierten, Plastiken kann in diesem Kontext insofern verwurzelt werden, als dass er vollkommen den Nerv der späthellenistischen Zeit trifft. So verweist die „Pantoffelgruppe“ möglicherweise auf die generelle zeitgenössische Tendenz, dass sich sowohl himmlische als auch naturhafte Liebe, sprich Agape und Sexualität voneinander wegbewegen respektive dieser Prozess bereits zu einem gewissen Prozentsatz vollzogen ist. Eine Art Gegensatzspannung scheint unvermeidbar. So steht Aphrodite nun also auf ewig unentschlossen und doch in jedem Moment neu betroffen mit dem erhobenen Sandal in der rechten Hand.
Prodikos
 

Beitragvon Clemens » Sa 13. Okt 2007, 18:13

Der Hellenismus im Spiegel seiner künstlerischen Ausdrucksformen ist sicherlich ein reizvolles Thema - was mir hier allerdings öfter fehlt, ist der Bezug auf antike Quellen, beziehungsweise eine genaue Angabe derselben.

Basierend auf der Auseinandersetzung mit der Marmorplastik Aphrodite- Pan- Gruppe gelangte ich zu der Erkenntnis, dass die Verarbeitung mythischen Stoffes in der (spät)hellenistischen Zeit in erster Linie auch dekorativen Zwecken dienlich gemacht wurde.

Was kann man anhand von zeitgenössischen Quellen über das Kunstverständnis der Zeit herausfinden? Wie war es in den Jahrhunderten davor, der Klassik - welchen Zweck erfüllte die bildende Kunst dort?

So verweist die „Pantoffelgruppe“ möglicherweise auf die generelle zeitgenössische Tendenz, dass sich sowohl himmlische als auch naturhafte Liebe, sprich Agape und Sexualität voneinander wegbewegen respektive dieser Prozess bereits zu einem gewissen Prozentsatz vollzogen ist.

Was ist damit gemeint? Wie sollten sich Agape und Eros voneinander fortbewegen? Im Denken der Menschen? In der Kunst? In der Literatur?

So viel erst einmal.
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Beitragvon Prodikos » Sa 13. Okt 2007, 19:12

Clemens hat geschrieben:Was ist damit gemeint? Wie sollten sich Agape und Eros voneinander fortbewegen? Im Denken der Menschen? In der Kunst? In der Literatur?


Ich gehe davon aus, dass sich die angesprochene Veränderung in der Lebenspraxis der Menschen ebenso in Kunst und Literatur niederschlägt, welche als menschliche Ausdrucksformen m.E. in der Regel stets auch zeitgenössische Tendenzen widerspiegeln.
Prodikos
 


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