Karl der Große

Fragen zur Geschichte und Archäologie des griechisch-römischen Altertums

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Karl der Große

Beitragvon Brakbekl » Di 28. Jan 2014, 09:30

Die Welt 28.01.14
Aber wie groß war Karl der Große wirklich?
Frankreich liebt ihn als Landesgründer, Deutschland verehrt ihn als Verkörperung eines toleranten Europa: Vor 1200 Jahren starb der Kaiser/ Von Alfred Grosser

Am 28. Januar 814 ist Karl der Große / Charlemagne gestorben. Die dümmste Frage, die man da stellen kann ist: "War er nun Franzose oder Deutscher?" Es sei denn, man wäre noch vor wenigen Jahrzehnten in die französische Grundschule gekommen und hätte eine kleine, noch von Augustin Thierry beeinflusste Histoire de France als Lehrbuch bekommen.

Dieser Historiker hatte nämlich 1840 das Werk Récits des Temps Mérovingiens (Erzählungen der Zeit der Merovinger) veröffentlicht, das beweisen sollte, wie barbarisch Gallien unter deren Dynastie gewesen war. Erst langsam hat sich heute herausgestellt, wie kultiviert das gut verwaltete Land damals gewesen war, wie sehr sich die Könige gewissermaßen als Statthalter Roms fühlten und regierten. Warum diese Entstellung? Weil Pippin, der erste Karolinger, durch einen Staatsstreich 751 zur Macht gekommen war, der den letzten Merowinger verstoßen hat. Und die Karolinger waren zunächst Franken, deren Reich ganz natürlich dem späteren Frankreich entsprach. Ein Reich, das von der Invasion von Germanen bedroht war. In Wirklichkeit lebten einige Tausend assimilierte Germanen im Reich der Franken, aber 1840 galt es bereits, Karl, den Sohn Pippins des Jüngeren (auf französisch le bref – "der Kurze"), für Frankreich einzunehmen, sei es nur, weil er als Träger einer Kultur dargestellt werden konnte, während doch die Germanen unkultiviert waren.

Jeder Franzose kennt einige Daten. 1515 Schlacht von Marignan. 1815 Niederlage von Waterloo. 800 Krönung Karls des Großen. Wahrscheinlich aber nicht die Geschichte dieser Krönung. Im Vorjahr hatte Karl den Papst Leo III. in Paderborn empfangen und ihn gegen seine römischen Ankläger – die Neffen des anderen Papstes Hadrian – in Schutz genommen. Die Krönung in Rom war also eine Art Gegenleistung. Nur dass sie nicht so verlaufen ist, wie Karl es gewollt hatte. Er wollte sich selbst krönen. Leo kam ihm zuvor und setzte ihm die Krone auf, was bewies, dass die Kirche dem politischen Herrscher ihren Segen gab und somit über ihm stand. Am 2. Dezember 1804 wird sich Napoleon nicht mehr so etwas gefallen lassen. Er nahm die Krone in Gegenwart des Papstes Pius VII., setzte sie sich auf und krönte dann seine kniende Frau Joséphine.

Warum der Empfang des Papstes in Paderborn? Weil es dort so viele Quellen gab und Karl Heilbäder gerne genoss. Später ist Paderborn die älteste deutsch-französische Partnerschaft geworden. Im Jahre 836 sind nämlich die Gebeine des heiligen Liborius, Bischof von Le Mans, nach Paderborn geschickt worden. Seitdem besteht eine freundschaftliche Beziehung zwischen beiden Bistümern und Städten. Der Kardinal Marx, Erzbischof von München, erinnert sich noch gerne seiner Zeit der zusätzlichen Ausbildung in Le Mans.

Bis 800 war Karl König der Franken. Nun war er Kaiser. Aber Kaiser von was? Auf Deutsch heißt er oft "römischer Kaiser", auf französisch empereur d'Occident – "Kaiser des Abendlandes". Der Ausdruck hatte und hat eine doppelte Bedeutung. Einerseits soll Karl ebenso als Kaiser anerkannt werden wie der Basileus in Byzanz, damals eine Frau, Irene, als Regentin für ihren Sohn Konstantin VI.

Er war als "Kaiser der Römer" gekrönt worden, was ihm laut Byzanz nicht zustand. Erst nach dem Tod von Irene kam die Anerkennung aus dem immer mehr abgetrennten Morgenland. Andererseits war er Kaiser des ganzen "zivilisierten", das heißt katholischen Reichs, das dem größten Teil des heutigen Europas entsprach. Ein Teil, der mit Gewalt auszuweiten war. Es ist nicht zu Unrecht gesagt worden, der erste dreißigjährige Krieg in Deutschland sei der gewesen, den Karl gegen die Sachsen geführt hat, und zwar , mit Unterbrechungen, von 772 bis 799. Es galt, sie zu unterwerfen und sie dazu zwingen , sich taufen zu lassen. Widukind, der größte Kämpfer , ist schließlich 785 zur Taufe gegangen.

Später, nach einer Niederlage, wurden über vier Tausend die Taufe ablehnende Männer geköpft und Frauen und Kinder vertrieben. Wegen der an den germanischen Sachsen ausgeübten Grausamkeit ist zur Zeit des Naziregimes der Ruhm Karls des Großen gar nicht so groß geschrieben worden. Schlimmer noch ist es Awaren im heutigen Ungarn ergangen. Sie hatten das Reich angegriffen, wurden im Gegenangriff geschlagen und weitgehend vernichtet. Ihr durch langjährige Raubzüge angehäufte enormer Schatz wurde von Karl erobert. Lange vor Richard Wagner hieß der Schatz "Der Ring"!

Durch Massenmord bekehren: Karl stand da nicht allein, sondern in der Tradition der katholischen Kirche. Seit dem Edikt des Kaiser Theodose von 380, der das Nicht-katholisch-sein unter Strafe stellte, bis zu Vatikanum II, wo der schöne Text Dignitatis humanae im Oktober 1965 jeden religiösen Zwang verboten hat, ist im "christlichen Abendland" die Toleranz keine christliche Tugend gewesen. Auch nicht anderen Christen gegenüber. Während des "Kreuzzugs" gegen die Albigenser wurde 1209 die Bevölkerung der südfranzösischen Stadt Béziers vernichtet und der Legat des Papstes konnte an diesen schreiben: " Die Rache Gottes hat wunderbar gewirkt: Wir haben sie alle getötet."

Charlemagne spielte in Frankreich eine grosse Rolle im Schulwesen. Mit sechs Jahren beginnt man, Geschichte zu lernen und zwar als Histoire de France. Noch in den kleinen Bücher der fünfziger Jahre war Karl der gütige und zugleich strenge Befürworter des Lernens. Er ging in die Schulzimmer, belohnte die Fleißigen, bestrafte die Faulen. Vor ihm hatten sich die Könige nicht um das Lernen gekümmert. Dass es schon seit langem Schule gegeben hatte, wurde verschwiegen. Dass er selbst nur sehr spät das Schreiben erlernt hatte, das stand nicht dabei. Das Bild des Kaisers vor den Schülern ist noch in den Vorstellungen vieler Franzosen vorhanden.

Dauerhafter ist der Begriff Roncevaux, verbunden mit Roland und mit Ganelon. Letzterer war der Verräter, der den Feind die Nachhut des Heeres des Kaisers in der Schlucht von Roncesvalles angreifen ließ. Wer waren da 788 die Angreifer ? Bis heute werden fast alle der Meinung sein, es es seien böse Moslems, böse Araber gewesen, was in den Köpfen den Antiislamismus nährt. In Wirklichkeit war damals das heutige Spanien das Land der hohen Islamischen Kultur, mit sich selbst beschäftigt, ohne Angriffslust. Der gelungene Überfall war von Basken durchgeführt worden. Seit dem Ende des XI. Jahrhunderts ist La Chanson de Roland gewissermaßen ein französisches Nationalepos. Nur französisch?

Seitdem Ludovico Ariosto Roland als Orlando dargestellt hat, ist er heute noch der Held (allerdings in eine Zauberin verliebt) oft aufgeführter Opern, wie Händels Orlando, Vivaldis Orlando furioso, Haydns Orlando Paladino. Roland, Neffe von Karl hat ein Schwert Durandal, das noch wunderbarer wirkungsvoll ist als das Nothung von Siegmund/Siegfried. Er stirbt aber doch, sei es nur, weil er sich geweigert hat, sich seines Horns zu bedienen, um den weiter reitenden Kaiser zurückzurufen.

Auch Victor Hugo hat Karl verewigt. Im Gedicht "Aymerillot" möchte Karl die schöne Stadt Narbonne erobern. Er reitet zunächst traurig, denn er denkt an "Roncevaux, Roncevaux. O traître Ganelon! Car son neveu Roland est mort dans ce vallon". Er spricht dann als Charles de France, appelé Charlemagne, exarque de Ravenne, empereur d'Allemagne. Also ist er Franzose, aber deutscher Kaiser! Und auch Charlemagne, empereur à la barbe fleurie. Der "blumenreiche Bart" kommt so ziemlich überall im französischen Bild vor, das man vom Kaiser hat. Der Ausdruck beruht auf einem Übersetzungsfehler. In Altfranzösisch bedeutete flori einfach weiß. Und es ist gar nicht sicher, ob Karl überhaupt bärtig war: die Franken trugen keinen Bart – aber welch besseres Zeichen der Weisheit und der Güte als ein großer, weißer Bart?

In Deutschland ist der Kaiser vor allem mit Aachen verbunden und mit dem heutigen Europa. Das war nicht immer so. Die 33. Waffen-Grenadier Division der SS Charlemagne (auf französisch kurz Division Charlemagne ) ließ Tausende freiwillige Franzosen für Hitlers Europa kämpfen und in Russland sterben. Aber heute denkt man nicht an Russland, sondern an Aachen. Dort, im schönen, von ihm gewollten Dom, steht sein kaiserlicher Sessel. Napoleon hat sich vor diesem verbeugt und wollte sich aus Ehrfurcht nicht darauf setzen. Es heißt, Göring hat es gewollt, war aber etwas zu breit. Nach dem Ende des Triumphzuges von de Gaulle durch Deutschland, im September 1962, schrieb eine deutsche Zeitung: "Wir wissen nun, wer der Nachfolger des alten Adenauers sein wird, nämlich General de Gaulle, mit Sitz in Aachen."

Aachen ist wirklich so etwas wie eine besondere Europa-Stadt geworden, sei es nur durch die Gründung 1950 des bis heute jährlich vergebenen Karlspreis. Er wurde nacheinander verliehen an die Gründer der Europäischen Gemeinschaft – Alcide de Gasperi, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Robert Schuman, Paul Henri Spaak und an den einzigen europafreundlichen britischen Premierminister Edward Heath.

Später kamen verdienstvolle Europäer dazu, wie Jacques Delors, und auch manche Würdeträger, die nicht besonders viel für Europa geleistet hatten. Ob nun Karl der Große wirklich ein offenes, tolerantes, wertebewusstes Europa verkörpert hat, bleibe dahingestellt.

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