Das Lateinstudium

Fragen zur Ausbildung rund um die alten Sprachen, ihrer Geschichte und ihrer Archäologie

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Re: Bierdeckel auftürmen

Beitragvon Prudentius » Fr 31. Mai 2013, 15:58

Das Argument “die gewinnen Motivation, wenn sie einen Satz erfolgreich übersetzen können” sagt nichts über die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit selbst aus. Setzt man den letzten Bierdeckel auf einen 2 Meter hohen Bierdeckelturms stellt sich auch stolze Freude ein.


Hallo Laptop,

der Vergleich passt nicht, versetz dich mal in den Schüler, der gerade den lat. Satz gelesen hat, er sieht einen Wortsalat vor sich, lauter mehrdeutige Endungen, mehrdeutige Wörter, unklare Beziehungen; er muss jetzt eine Strategie neu erfinden, er kann ja nicht schematisch vorgehen, jeder Satz ist ja anders, er muss sich durch ständiges Feedback durcharbeiten, mit der Methode des Trial and error.
Auch ist das Erarbeiten der Ü. nicht das Endziel, er muss sich den Inhalt erschließen, Zusammenhänge erkennen, Stellung beziehen, usw., wenigstens im Idealfall.
So sieht die Schulpädagogik hier ein Propädeutikum für wissenschaftliches Arbeiten, problemlösendes Denken, methodisches Vorgehen, schlussfolgerndes Denken, kurz einen "Bildungswert",

Gruß P. :)
Prudentius
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon Pyrrha » Fr 31. Mai 2013, 23:49

Optime Prudenti,

Ich habe keineswegs die Absicht, Latein, Philosophie und Theologie abzuschaffen, und habe allen Respekt vor der geisteswissenschaftlichen Arbeitsweise, und wenn ich von einem „wissenschaftlichen Mehrwert“ spreche, dann ist das durchaus auch im geisteswissenschaftlichen Sinne gemeint. Die Sache ist bloß, dass das Lateinstudium bzw. Latein als Wissenschaft einen höheren Anspruch haben müsste, als immer nur dieselben Texte wieder und wieder zu übersetzen, denn das ist auch im geisteswissenschaftlichen Sinne kein Mehrwert. In allen anderen sprachwissenschaftlichen Fächern ist die Sprachbeherrschung zwar wichtig, aber am Ende doch nur ein Mittel zum Zweck und die eigentlichen Fragen beziehen sich auf die Literatur selber und ihre Hintergründe und Interpretationsmöglichkeiten. Nun ist die klassische Literatur begrenzt, so dass es leicht ist, sich im Kreise zu drehen, aber ein anderes geisteswissenschaftliches Fach, die Theologie, scheint trotz begrenzter Urtexte keine Probleme damit zu haben, man konzentriert sich auf Deutung und Interpretation, Geschichte und Hintergrund, und Rezeptionsgeschichte - all diese Richtungen stehen den Philologen genauso offen, und all das sehe ich durchaus als wissenschaftlichen Mehrwert. Im Ausgangsbeitrag dieser Diskussion wurde angemerkt, dass die Historiker viel mehr Werkzeuge zur Textarbeit im Studium vermitteln als die Lateiner – wie kommt das, wieso sollten Lateiner keine Textarbeit leisten und die Geschichte den Historikern überlassen, kann das Verständnis eines Wortes nicht historische Tatsachen verändern? Und wieso sollten sich nur die Philosophen mit der Aristotelesrezeption in Mittelalter und Neuzeit befassen, geht das die Gräzisten nichts mehr an? Beachte außerdem, dass in einer so gearteten Sprachwissenschaft sicherlich eher größere Sprachkenntnisse vonnöten sind als in einer auf Übersetzungen basierenden klassischen Philologie – das habe ich bei den Mittel- und Neulateinern feststellen dürfen, deren Seminare verlangten am Ende doch ein höheres Maß an Hintergrundbildung, zum einen in der Sprachbeherrschung, weil es oft eben keine fertigen Übersetzungen gibt, und zum anderen war eine recht genaue Kenntnis der klassischen Literatur erforderlich, was auch bei den klassischen Lateinern nicht in vergleichbarem Maße der Fall war.
Dementsprechend wird in anderen sprachwissenschaftlichen Fächern eine ausreichend gute Sprachkenntnis erwartet, dass man Texte fließend lesen kann; Übersetzungen sind daher nebensächlich, und wenn jemand sich speziell damit beschäftigt, gibt es entsprechende Einrichtungen, wo man Übersetzen lernen kann. Ähnliches sollte prinzipiell auch für Latein möglich sein, wenn man auch zu Beginn die Sprachkenntnisse vertiefen muss. Prinzipiell sollte das Textverständnis ab dem zweiten Studienjahr oder spätestens dem dritten selbstverständlich sein und somit mehr Gewicht auf Literaturtheorie etc. gelegt werden, das Übersetzen jedenfalls nicht mehr im Mittelpunkt stehen - es sei denn, natürlich, die Philologen haben keine literaturwissenschaftlichen Ambitionen und sehen sich als Übersetzerschule, aber dann verkaufen sie sich unter Wert, und das will ich nicht hoffen.
Meiner Meinung nach könnte die klassische Philologie, ohne ihr Wesen als Geisteswissenschaft aufzugeben, ein gutes Stück ehrgeiziger sein, und dann würde vieles, was heute als Ziel und Zweck einer mehr oder weniger sinnlosen Disziplin gesehen wird, einer neuen Sinnhaftigkeit zugeführt werden. Ich will also die Philologie gar nicht von ihrem Sockel stoßen, ganz im Gegenteil, ich denke, sie könnte viel mehr, als sie gegenwärtig unternimmt.

Zum pädagogischen Wert des Übersetzens antworte ich ein andermal.

Gruß,
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon Zythophilus » Fr 31. Mai 2013, 23:50

Lernen beginnt unabhängig vom Lernstoff normalerweise mit grundlegenden, aber einfachen Dingen. Man sollte sich daher nicht darüber lustig machen, dass für einen, der Latein lernt, schon die Übersetzung eines einfachen, inhaltlich eher nichts sagenden Satzes ein Erfolgserlebnis sein kann. Der Mensch freut sich eben normalerweise, wenn er erkennt, dass er etwas richtig gemacht hat. Discipuli iam diu grammaticum exspectant richtig analysiert zu haben, ist zudem etwas viel Greifbareres für einen Zwölfjährigen als der Verweis, dass der Satz über den grammaticus literarisch wertlos sei, der Lernende sich mehr auf die Aeneis, die er nach vier oder fünf Jahren kennen lernen werde, freuen solle.
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon Prudentius » So 2. Jun 2013, 10:43

Ich will also die Philologie gar nicht von ihrem Sockel stoßen, ganz im Gegenteil, ich denke, sie könnte viel mehr, als sie gegenwärtig unternimmt.


Hallo Pyrrha,

so denke ich auch, es wären jetzt tiefschürfende Ausführungen nötig, möchte nur soviel sagen, möchte nicht als Museumswächter der hehren Werte erscheinen, im Gegenteil, ich bin ja auch im Forum immer wieder bemüht, die Logik- und Modernisierungsdefizite der Grammatik bewusst zu machen, man stolpert ja dauernd darüber, da möchte ich gleich mal die Gelegenheit ergreifen und dich als Mathematikerin einladen, dabei mitzumachen, du könntest es professionell machen, während ich mich als Amateur versuche, vllt. wäre das sogar lohnender als das MA., so lohnend auch das ist. Beispiele: der Komparativ ist eine Ungleichung, das Pronomen eine Variable, die Indefinita sind Variablen mit Quantoren, Sätze sind Funktionen; die Grammatik insgesamt sollte ein deduktives System sein, das bestimmte Anforderungen erfüllen muss... Du schaust doch gern zu uns im L. herein, schau doch mal in dieser Richtung! :)

Was das schnelle Übersetzen anlangt: ich bin da als Schulmann skeptisch; sieh dir mal im Forum die entsprechenden Beiträge von Schülern an! Lauter Grammatikprobleme, die das Vorwärtskommen behindern; die Empfehlung, die Schüler sollten schneller lesen, ist wohl nicht sehr hilfreich. Es geht gar nicht in erster Linie um das Übersetzen, die Schüler sind nicht zufrieden, wenn man ihnen die richtige Übersetzung vorlegt: sie wollen den Satz "verstehen".
Beim schnellen Übersetzen denke ich an mein Staatsexamen: da bekam ich in der Prüfung eine Seite vorgelegt und sollte herunterübersetzen; aber nach einem Fachstudium von 5 Jahren, und mit Vorbereitungszeit!

Liebe Grüße P. :)
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon RM » So 2. Jun 2013, 13:54

Prudentius hat geschrieben:Was das schnelle Übersetzen anlangt: ich bin da als Schulmann skeptisch; sieh dir mal im Forum die entsprechenden Beiträge von Schülern an! Lauter Grammatikprobleme, die das Vorwärtskommen behindern; die Empfehlung, die Schüler sollten schneller lesen, ist wohl nicht sehr hilfreich. Es geht gar nicht in erster Linie um das Übersetzen, die Schüler sind nicht zufrieden, wenn man ihnen die richtige Übersetzung vorlegt: sie wollen den Satz "verstehen"

Sehr interessant! Bestärkt mich auf jeden Fall in der Meinung, dass es Unsinn ist, lateinische Texte nur über Übersetzungen erschließen zu wollen, sondern dass es für das Verständnis der Texte notwendig ist, die lateinische Sprache auch aktiv zu beherrschen. Leider hat die Fachdidaktik der letzten Jahrzehnte diese Chance komplett kaputtgetrampelt. Auch in den modernen Sprachen steht das Übersetzen ja erst am Ende, nicht am Anfang. Die meisten guten Übersetzer moderner Sprachen sind - wenn sie schon nicht zweisprachig aufgewachsen sind wie die meisten Dolmetscher - in beiden Sprachen aktiv und passiv zu Hause.
Was die Grammatik betrifft, so liegt das Problem der Schüler meist darin, dass sie ihre eigene Muttersprache noch nicht gut genug beherrschen. Was aber den Versuch angeht, Grammatik als mathematische Gleichung darzustellen, so kommt man damit über einen bestimmten Punkt, bei dem zum Verständnis spezifisches Hintergrundwissen notwendig ist, wahrscheinlich nicht hinaus.
Der Klassiker zum Thema der unterschiedlichen Arbeitsweise in Geistes- und Naturwissenschaften ist sicherlich Gadamers "Wahrheit und Methode". Ich stimme diesbezüglich aber nicht mit ihm überein.

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Re: Das Lateinstudium - sapienti sat

Beitragvon Willimox » So 2. Jun 2013, 14:26

Sehr interessant! Bestärkt mich auf jeden Fall in der Meinung, dass es Unsinn ist, lateinische Texte nur über Übersetzungen erschließen zu wollen, sondern dass es für das Verständnis der Texte notwendig ist, die lateinische Sprache auch aktiv zu beherrschen.
[...]
Was die Grammatik betrifft, so liegt das Problem der Schüler meist darin, dass sie ihre eigene Muttersprache noch nicht gut genug beherrschen.


Und das trotz nicht gering zu schätzender Sprechaktivität.
Oftmals sogar exzessiver Sprechaktivität. :wink:

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„Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“
Hans-Georg Gadamer, Interview in DER SPIEGEL, 21.02.2000
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon Pyrrha » Di 4. Jun 2013, 02:12

Deine Skepsis als Schulmann, Prudenti, halte ich für sehr begründet, denn innerhalb des gegenwärtigen Systems ist wahrscheinlich wirklich nicht viel mehr möglich. Ich frage mich nur, ob es bei der Sache nicht irgendwo einen pädagogischen Fehlschluss gibt, wie weit man Sachen vereinfachen kann, ohne dass sie wegen fehlenden Hintergrundes oder zu wenig Übung wieder schwer werden. Die modernen Fremdsprachen, die wir in der Schule lernen, beherrschen wir allesamt besser als Latein, und auch Frau Merkel hat in der DDR besser Russisch - keine einfache Sprache! - gelernt, als der moderne Lateinschüler Latein kann. All das liegt mit Sicherheit daran, dass man in modernen Fremdsprachen selbständig formulieren muss, denn dadurch prägt sich Grammatik und Vokablen besser ein. Man sieht ja immer wieder, dass gerade die ältere Generation auch nach vielen Jahren in der Grammatik noch deutlich sicherer ist als heutige Schuler, eben weil man damals regelmäßig auf Latein formulieren musste. . Ich frage mich manchmal, ob man es den Schülern nicht unnötig schwer macht, indem man es ihnen an den falschen Stellen leicht macht.
Ich selber war übrigens ab dem Zeitpunkt merklich besser als meine LK-Kameraden, als ich mich im Internet im lateinischen Schreiben versucht habe - das können hier sicherlich mehrere nachvollziehen. Im Grundstudium hatte ich dann eine Freundin, die Latein studiert hat, und als sie die Fasten gelesen hat (die ich allerdings ein, zwei Jahre vorher mal auf lat. gelesen hatte), habe ich ihr mal die erste Seite so grob vorübersetzt, und sie war baff, wie ich das konnte – der Unterschied war mein Kontakt mit Lebendigem Latein und daraus hervorgehend halbwegs flüssige Lesefähigkeiten, und wenn ich den Inhalt verstehe, kann ich ihn auch zwar nicht sofort in geschliffenem Deutsch aber doch sinngemäß irgendwie wiedergeben, wie halt in anderen Fremdsprachen auch. Inzwischen ist es Jahre her, dass ich einen Text übersetzt habe, und wenn du mich fragst, wie ich „mens“ übersetze, schlage ich im Lexikon nach, nicht weil ich das Wort nicht verstehe, sondern weil ich es gut genug an sich verstehe, um mir die deutschen Entsprechungen nicht mehr dazu merken zu müssen; bei den grammatikalischen Fachbegriffen sieht es auch düster aus, aber das schöne ist ja, dass man die, genauso wie die Übersetzung komplizierter Vokabeln, nicht mehr braucht, wenn man einmal das Sprachgefühl entwickelt hat – nur soweit kommt es ja bei den meisten nie.

Dein Argument bezüglich der Problemlösefähigkeiten ist zwar unzweifelhaft wahr, nur halte ich es für gefährlich, Primär- und Metaziele des Lateinunterrichts zu vermischen. Zu dem Thema hat übrigens Aloisius Miraglia viel zu sagen: Seiner Meinung nach sind die preußischen Schulreformen mit ihrem Fokus auf formaler Bildung das Schlimmste, was dem Lateinunterricht passieren konnte, weil dadurch vor lauter Problemlösefähigkeiten, Logik und grammatikalischer Analyse das Hauptziel, nämlich Latein um der Sprache und Geistesgeschichte willen zu lehren, aus den Augen geraten sei. Ob es nun ganz so schlimm ist, wie er es sieht, kann man vielleicht bezweifeln, aber ganz Unrecht hat er nicht (ganz davon abgesehen, dass das Problemlösefach par Excellence eigentlich die Mathematik wäre, aber der Matheunterricht ist auch zu mechanisch auf Rechenwege ausgerichtet). Meiner Erfahrung nach erreicht man die Metaziele am besten, wenn man die Primärziele hoch setzt und im Übrigen nicht weiter darüber redet; ich weiß nicht, ob du das anders siehst.


Die Anregung, die Grammatik mathematisch aufzubauen, ist durchaus eine Überlegung wert, aber ich bin skeptisch, inwieweit das wirklich funktionieren kann, dazu ist natürliche Sprache und Grammatik oft einfach zu unregelmäßig und zu voll von – oft durchaus intendierten - Ambiguitäten, und was die mathematische Formulierung and Genauigkeit gewinnt, verliert sie an Reichhaltigkeit: Ich fürchte dass, wenn man die Idee weit genug verfolgen will, um Grammatik von der Sprache abstrahieren und komplett formalisieren zu können, so viele sprachlich-grammatische Nuancen verloren gehen, dass es mit der Sprache nicht mehr viel zu tun hat; wenn man sich allerdings nahe genug an der Sprache selber orientiert, um diese Nuancen zu erhalten, lernt man wahrscheinlich nicht viel Neues.
In der Mathematik gibt es zwar Möglichkeiten, die mathematische Sprache komplett zu formalisieren, so dass Aussagen und ganze Beweise vom Computer geprüft oder sogar generiert werden können, aber diese formale Sprache ist so kleinschrittig, dass sie für Menschen im Grunde nicht mehr lesbar ist, da wir in größeren Konzepten denken als Computer. Tatsächlich ist die formalisierte Version recht kurzer und einfacher Beweise oft um ein Vielfaches länger, und mit vielfach meine ich durchaus eine zweistellige Zahl.

P.S. Ich verstehe schon, dass du hier ein bisschen den Advocatus Diaboli spielst, und das ist auch dringend nötig, denn wenn nur RM und ich hier diskutierten, dann kämen ja die Argumente der Museumswächter gar nicht vor. Insofern bin ich für meinen Teil dir sehr dankbar, dass du diese undankbare Rolle übernimmst, und habe nach wie vor den allergrößten Respekt vor dir!

P.P.S. Entschuldige bitte den mal wieder viel zu langen Beitrag - Kürze ist leider nicht meine Stärke!
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon Laptop » Di 4. Jun 2013, 03:54

Der Künstler hat sein Produkt, der Handwerker seine Dienstleistung, und der Wissenschaftler hat als “wissenschaftlichen Anspruch” die Forschung, d. h. einen Erkenntnisgewinn, und zwar nicht den eigenen, sondern den der Gesellschaft. Doch wo ist die Forschung? Obwohl der Malerlehrling von Beginn an lernt indem er sich am Gemälde versucht, lernt der Student der Altphilologie zuerst wie in einem Schulbetrieb durch Fleißarbeit Übersetzen, Historisches, Biographisches, kurz gesagt viel Auswendiglernen, was auf Wikipedia steht. Nicht indem er sich von Beginn an am wissenschaftlichem Anspruch versucht. Wissenschaftliche Arbeit kommt viel zu spät. Das ist meine Kritik am philologischen Hochschulbetrieb. Ich folge RM und sage, daß wissenschaftliche Arbeit schon in der Schule beginnen könnte. Dem steht nur eine Tradition der Forschungsfeindlichkeit im Wege. Nicht einmal die Schriften der silbenern Latinität sind vollständig erschlossen, weil sie nicht zum Canon gehören und man das Süppchen des maßgeblichen Lateins auf wenige Autoritäten reduziert. Ich habe den sprichwörtlichen Elfenbeinturm erlebt, der sich mit sich selbst beschäftigt. Mir tun die Studenten einfach nur leid, die solche Zustände ertragen müssen, ihnen bleibt oft keine Wahl.
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon RM » Di 4. Jun 2013, 07:26

Laptop hat geschrieben:Doch wo ist die Forschung?

Nach meiner Erfahrung sind am fehlenden Forscherdrang in der Altphilologie auch die Lehramtsstudenten nicht ganz unschuldig: Oft fehlt es bei ihnen an der nötigen Neugier und dem Willen bzw. dem Mut, die doch sehr ausgetretenen Pfade des klassisch-philologischen Mainstreams zu verlassen, um in unerforschtes Terrain vorzudringen - und entsprechende Unterstützung auch von den Lehrenden einzufordern. Aber es gibt Lichtblicke, z. B. in den Digital Humanities, die inzwischen auch in der Altphilologie angekommen sind. Da es dort darauf ankommt, möglichst große Datenmengen möglichst schnell zu verarbeiten, kommt man gar nicht darum herum, neue Methoden des Textverständnisses zu entwickeln.

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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon Medicus domesticus » Di 4. Jun 2013, 22:31

Da liest man ja einiges an Verbesserungsbedarf. Die Crux des Faches ist eben, dass 99% Latein für das Lehramt studieren. Da schleifen sich dann Stereotypen in der Ausbildung ein. Doktorarbeiten macht da nur ein Bruchteil. Wissenschaftliches Arbeiten bleibt dann bei vielen auf der Strecke. Ebenso ein Problem ist die eigene Selbsteinschränkung des Faches in der Autorenauswahl und eine gewisse Intoleranz gegenüber allen, was nicht "dem Stil" entspricht. Da besteht sicher viel Innovationsbedarf, jedoch auf beiden Seiten: sowohl Studenten als auch Profs usw. Eine "Revolution" sehe ich da aber nicht kommen. Offen zu sein für neue Methoden des "Lateinlernens" und auch die Sprache wieder mehr als Gesamtheit zu sehen, die es zu erforschen gilt, wäre sicher eine neue Richtung.
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon RM » Mi 5. Jun 2013, 00:37

Ich glaube, die Mediävisten und Frühneuzeitler sind auf diesem Gebiet wesentlich weiter, schließlich rückt da die Lehramtsperspektive auch ein wenig in den Hintergrund.

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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 5. Jun 2013, 18:06

Ja, die Quellenlage ist ja enorm. In der lateinisch-medizinischen Literatur ist ja auch vieles nicht übersetzt. Ein neues Buch anzugehen ist immer wie eine Herausforderung oder auch Schatzsuche. Man hat nicht den 50. Kommentar oder Übersetzung zum selben Thema wie in der klassischen Philologie. Was man immer wieder sieht und merkt, dass bei lateinisch-medizinischen Texten der klassische Philologe oft überfordert ist, da er die Zusammenhänge nicht kennt. Deswegen ist da interdisziplinäre Arbeit besser. Insbesondere braucht man da Leute mit medizinischen und lateinischen guten Kenntnissen, da es dann oft in einem Aufwasch geht. Gerade in der Geschichte der Medizin gibt´s viel zu forschen.
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Re: Das Lateinstudium

Beitragvon Laptop » Mi 5. Jun 2013, 18:16

Hier mal ein Beispiel, was die Historiker auf die Reihe bekommen. In meinen Augen eine hervorragende technische Umsetzung, was – wie schon erwähnt – in den Bereich der "Digital Humanities" fällt. http://www.uni-konstanz.de/Signori/Hand ... age01.html
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Re: Lernziel: schnelles Lesen

Beitragvon Prudentius » Mi 5. Jun 2013, 19:39

Wenn ich meiner Rolle gerecht werden will, muss ich euch zu bedenken geben: überlegt einmal, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine Klasse zu schnellem L-Lesen und Sprechen zu führen! Ein Fundament an Grundkenntnissen muss da sein, die Flexionsformen müssen gut eingeübt sein, die unregelmäßigen Verben müssen sitzen, die Kasuslehre, PC-Konstruktionen, ein großer Wortschatz muss zur Verfügung stehen; große Mühe wird die aktive Beherrschung der KNG-Kongruenz erforden: brevi tempore, e magna urbe ...; da bleibt oft nicht mehr viel Zeit bis zum Schluss des L-Unterrichts, und man fragt sich, wenn man vllt. noch ein halbes Jahr hat, ob man nicht lieber ein paar Seiten Cicero und ein paar Verse von Catull und Ovid liest.
Bedenkt auch: wir stehen als Lateiner in einer Markt-Situation, in einem Verdrängungswettbewerb, wir müssen uns gegen attraktivere Anbieter durchsetzen, für uns ist die Fächerwahl in den Klassen jedes Jahr schicksalhaft. Bisher haben wir uns halten können. Mit dem Lernziel "schnell Latein lesen und sprechen" können wir aber nicht kommen, denn dann sagen die Eltern, die Kinder sollen lieber F schnell lesen und sprechen lernen. Unsere Chance besteht darin, dass wir fundamentale europäische Kulturwerte vermitteln, um es einmal plakativ zu sagen.

:-D Zum Glück ist aber keiner von uns, glaube ich, in der Lage, im Schulbereich Unheil anzurichten! :-D

Ich habe den Eindruck, ihr reduziert die schulische Arbeit zu sehr auf das Übersetzen; soweit ich die Verhältnisse kenne, in Bayern haben wir seit der Einführung der Kollegstufe in den 70er Jahren ein breitgefächertes Spektrum von verschiedenen Unterrichtszielen; man musste sich ja damals viel einfallen lassen, um die Alten Sprachen über die Schwelle des neuen Kurssystems zu bringen; es hat auch eine lebhafte Diskussion gegeben, so dass unsere jetzige Diskussion nicht sehr originell sein kann.

Es wären noch weitere Fäden aufzugreifen :lol: , ich mache erstmal Schluss,

liebe Grüße P. :)
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Re: Lernziel: schnelles Lesen

Beitragvon RM » Do 6. Jun 2013, 00:51

Ich war jetzt fast versucht, eine kleine kabarettistische Einlage zum Besten zu geben :wink:
Prudentius hat geschrieben:überlegt einmal, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine Klasse zu schnellem L-Lesen und Sprechen zu führen!

Wissen wir doch schon! Es ist nicht so mühsam, wie manche denken, aber es erfordert eben den Mut, etwas Gutes gegen etwas Besseres einzutauschen. Ich selbst habe mit 16 begonnen, die lästigen Übersetzungsübungen gegen das Lateinsprechen einzutauschen. Eine Woche bei Eichenseer hat genügt, um dem Lateinunterricht echten Sinn einzuhauchen. Danach konnte ich ebenso mühelos Caesar wie Sallust lesen (nicht nur übersetzen). Caesar wird spätestens ab dem Buch 4 etwas langweilig, weil er eigentlich immer dasselbe macht, Sallust ist wesentlich interessanter, besonders "Bellum Iugurthinum". Fazit: 3 Jahre Lateinunterricht, dann 4 Wochen lang intensiven Sprechunterricht und wir werden wieder eine Menge kompetenter Lateiner statt gelangweilter und sich gequält fühlender Schüler haben.
Prudentius hat geschrieben:Unsere Chance besteht darin, dass wir fundamentale europäische Kulturwerte vermitteln, um es einmal plakativ zu sagen.

Ich könnte jetzt plakativ sagen, dass die Römer ja nicht immer das große Vorbild sind, für das sie manche Lateinlehrer halten. Da gibt's einen, der mit aller Gewalt Frankreich und England unterjocht, ein anderer vergöttert einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher, ein weiterer erkennt die Zeichen der Zeit nicht und manövriert sich ins politische Aus. Ja, und die kulturell wichtigen Dinge (z. B. Cato, Vitruv, Columella, Plinius d. Ä. etc.) werden in der Schule weitgehend ignoriert. Das mit den europäischen Kulturwerten ist also manchmal durchaus etwas dürftig.

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