Salute ille ego qui!
(0) Der TextPrometheus Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest!
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn', als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät,
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Thoren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus, wo ein,
Kehrt' ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär'
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir
Wider der Titanen Uebermuth;
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht
alle Blütenträume reif
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
[Goethe: Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827), S. 514.
(1) Goethes Hauptquellen: Sulzer und HederichGoethe hat wohl Sulzer (Allgemeine Theorie der Schönen Künste) und Hederich (Gründliches mythologisches Lexikon) genutzt. (vgl, Inka Mülder-Bach: Prometheus. In: Goethe-Handbuch. Stuttgart, Weimar 1997, S. 100 bis 105 zum Dramatischen Fragment).
Hederichs Prometheus-Artikel ist hier zu finden:
http://www.zeno.org/Hederich-1770/A/Pro ... prometheus(2) Tod und Sklaverei Ein direkter Bezug zum Prometheus-Mythos ist schwer zu finden, eher diffuse Assoziationen:
Tod, Sklaverei .. in Ketten angeschmiedet im Kaukasus, Dauerangriff durch den Jupiter-Adler
Oder überhaupt eher metaphorisch-metonymisch:
Eine beengte, kaputtmachende Existenz unter der angemaßten Macht der herrschenden Götter, epikuräisch tatenarm ihr Treiben genießend, sicher zu keiner barmherzigen Hílfe tendierend und insofern kaum als anbetungswürdig zu charakterisieren, fern von theistischen Modellen.
Wobei es sehr wahrscheinlich ist, dass hier (auch) das Modell christliche Gott und sein Eingreifen als Alliierter der gottgefällig Lebenden gezielt und indirekt demontiert werden soll.
(3) Gottesmodelle in der Antike und im Christentum3.1 GrobstrukturDie Antike kennt - sehr kurz zusammengefasst - unterschiedliche Gottesmodelle, so etwa:
- das Modell des eingreifenden Gottes, der sich von Opfergaben und guten Taten der Menschen bewegen lässt,
- das Modell des in einer Ruhelage befindlichen Gottes ohne jede Fürsorge für die Welt (Epikuräismus) oder
- das Modell eines willkürlich agierenden Gottes, der sich nicht von einem erkennbaren Gerechtigkeitsethos leiten lässt.
Es mag sehr gut sein, dass hier eine religiöse Universalie voller Schattierungen im Gedicht ausgebreitet wird und dabei - die heidnisch-antiken Bezirke überschreitend - den christlichen Gott als ungöttlich-unbarmherzige Instanz hymnisch verhöhnt.
3.2 Christliche AllusionenMan vergleiche zu christlichen Anspielungen den Korintherbrief (13,11):
Als ich ein Kind war4 Mose 14,18:
Der Herr ist von großer BarmherzigkeitLukas 1,50:
Seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu GeschlechtEpheserbrief (2,4):
Gott, der reich ist an BarmherzigkeitMatthäus 11,28:
Kommt her zu mit, alle, die ihr mühselig und beladen seidOffenbarung 7,17; 21,4:
Gott der Herr wird die Tränen abwischen„Selig sind, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“ (Matthäus 5,4 Bergpredigt)
„Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens“ (Psalm 130,2)
„Und er schuf die Menschen nach seinem Ebenbilde..“
„Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind und urteilte wie ein Kind, als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was kindisch war ..“ (Paulus 1. Korinther 13,11)
3.3 Selbstauskunft: Das Erdbeben von LissabonDurch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. (.....)
"Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen (....)
Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen musste, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen…
Der folgende Sommer gab eine nähere Gelegenheit, den zornigen Gott, von dem das Alte Testament so viel überliefert, unmittelbar kennen zu lernen. Unversehens brach ein Hagelwetter herein..
( Goethe: Dichtung und Wahrheit 1.Buch)
(4) Der Vaterbegriff: Politisch-soziokulturelle Einbettung, die Verschmelzung von Religionskritik und Kritik am ancien regime: Gottvater, Landesvater- Die Sturm-und-Drang-Poeten sind eine junge, die Väter-Autorität angreifende Gruppe von Zwanzigjährigen.
- Vater-Autorität findet sich in der Familie, im Staat des „Landesvaters“ und in der Religion des väterlich-fürsorglichen Gottes. Die Autorität der Eltern anerkennen, den Sündenfall der Ureltern („eritis ut deus“) nicht zu wiederholen, nicht aus dem Paradies vertrieben zu werden, all dies ist die aktuelle Normlage.
- Der Gott des AT hat im vierten Gebot die elterliche Autorität und ihre Verehrung an ein Versprechen geknüpft und damit bis zu einem gewissen Grad gegen Angriffe immunisiert: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden.“
- Goethe wählt einen antiken Horizont für dieses Problemfeld. Das Primärziel des „Prometheus“ ist der Angriff auf einen „schlafenden“ Gott, der kein Herz hat, „sich des Bedrängten zu erbarmen“ (25ff).
- Dieser Angriff hat mit dem Deismus-Theismus-Problem zu tun: Egal, ob ein nichteingreifender Uhrmachergott (unter Abwahl eines eingreifenden theistischen Gottes) oder ein pantheistisches Modell angesetzt wird: Der Glaube an eine allgütige Vaterinstanz ist in diesem Gedicht destruiert.
Auf der konnotativen Ebene scheint es im Spielraum der Mythologie eine zeittypische Erweiterung des Angriffsfeldes zu geben:
Doppellexeme wie „Opfersteuer“ (16) und das Lexem „Majestät“ oder „Sklaverei“ (32) öffnen das Wortfeld „politisch-soziale Herrschaftsformen“ und lassen so den Angriff auf Zeus nicht nur als Angriff auf das christliche Gottesmodell, sondern auch als getarnten Angriff auf selbstbezogene Herrscher lesen, die ohne echte Fürsorge epikuräisch abgehoben ihren Lüsten frönen und über die Zeugung von Nachkommen göttergleich ihre Herrschaft über die Zeiten transportieren (wollen).
Ein wahrscheinlich ergiebiger Code-Schlüssel im mythischen Narrativ des Umfeldes und der Schlüssel in der Mikrostruktur der Antihymne und fulminanter Selbsterhöhungsoratorik: Göttervater - Gott des Paternosters - Landesvater von Gottes Gnaden ... Selbsthelfer, Menschenbildner, sprachgewaltiger Poet (?).