Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon iurisconsultus » Mo 6. Jun 2016, 17:31

Hallo, kann mir jemand bei der markierten Livius-Stelle weiterhelfen?
lngenti incremento rebus auctis cum in tanta multitudine hominum, discrimine recte an perperam facti confuso, facinora clandestina fierent, carcer ad terrorem increscentis audaciae media urbe imminens foro aedificatur.

Ich verstehe die Stelle so, dass mitten in der Stadt ein Kerker gebaut wurde, der aus dem Forum emporragte.

In der Tusculum-Übersetzung S. 93 heißt es jedoch, dass der Kerker mitten in der Stadt oberhalb des Forums gebaut wurde.

Das mag der tatsächlichen geografischen Lage des Carcer Tullianus, der sich am nordöstlichen Hang des Kapitols befand, besser entsprechen, aber wie kommt man zu dieser Übersetzung von imminere, ohne topographisches Hintergrundwissen in Livius' Text legen zu müssen? - vielleicht mit "über das Forum ragend" = oberhalb des Forums?

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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon marcus03 » Mo 6. Jun 2016, 17:36

Liv.: carcer imminens foro (hart am Forum) aedificatur,

http://www.zeno.org/Georges-1913/A/immineo?hl=imminens
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon iurisconsultus » Mo 6. Jun 2016, 18:33

Danke marcus,

mir scheinen die verba Livii an dieser Stelle ob des polysemen imminere einfach nicht ausreichend präzise, um die konkrete topographische Lage auszudrücken.
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon Tiberis » Di 7. Jun 2016, 00:08

iurisconsultus hat geschrieben:mir scheinen die verba Livii an dieser Stelle ob des polysemen imminere einfach nicht ausreichend präzise, um die konkrete topographische Lage auszudrücken.

naja, so "polysem" ist imminere auch wieder nicht. auch wenn es keine universell anwendbare grundbedeutung gibt ("hereinragen" oder "hinneigen" ist auch keine befriedigende lösung), so lässt sich doch die eigentliche bedeutung von imminere verstehen als "unmittelbar neben jm. od. etw. emporragen", wobei dies durchaus bedrängend , bedrohend oder beherrschend empfunden wird.
die unmittelbare nähe zu einer person od. sache ist also entscheidend,z.b. villae pinus imminet > die pinie überragt also nicht nur das haus, sondern steht unmittelbar neben diesem, sodass ihre äste sich zum teil über dem haus befinden. der baum beherrscht also die szenerie, könnte man sagen.
im übertragenen sinn bedeutet imminere dann eben " (drohend) bevorstehen" u.dgl.
"aus dem forum emporragen" hieße übrigens " (e) foro eminere" ;-)
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon iurisconsultus » Di 7. Jun 2016, 08:40

Vielen Dank Tiberis für die erhellenden Worte, die mein Wissen tatsächlich erweitert haben. Allerdings erscheint mir dann auch die Tusculum-Übersetzung zu frei zu sein, denn "oberhalb des Forums stehend" ist nicht dasselbe wie "neben dem Forum prangend". und auch wenn Livius "oberhalb des Forums stehend" sagen wollte, kann der Leser diese Übersetzung nur mit Blick auf die tatsächliche geographische Lage machen, aber nicht aus den Worten ableiten. Aber vielleicht sind diesbezüglich Juristen zu penibel, weil bei uns ein Wort häufig den ganzen Rechtsfall entscheidet. :lol:
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon Tiberis » Di 7. Jun 2016, 10:04

du hast vollkommen recht, optime iurisconsulte, wenn du die Tusculum-übersetzung als viel zu frei kritisierst, in der ja gerade der aspekt des bedrohlichen völlig ausgeblendet wird. carcer foro imminet bedeutet ja nichts anderes, als dass das gefängnis, welches unmittelbar neben dem forum drohend (!) emporragte, angesichts der steigenden kriminalität, auf die öffentlichkeit (forum!) eine bedrohliche, einschüchternde wirkung haben sollte.
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon iurisconsultus » Di 7. Jun 2016, 11:17

Ich danke dir Tiberis für deine Einschätzung, die mich jedoch zu einer weiteren Frage bringt, die mich immer wieder umtreibt, mag sie auch ein alter Hut sein: Ich, der Latein nur in Mußestunden betreibe(n kann), bin stets auf der Suche nach insbesondere zweisprachigen Werken mit möglichst wortgetreuen englischen oder vorzüglich deutschen Übersetzungen, zum einen weil dann der Lerneffekt bei Gegenüberstellung der eigenen Übersetzung ungleich höher ist, zum anderen weil ich allgemein der Auffassung bin, dass Originaltexte so wenig wie möglich verfälscht werden sollen. Redigieren kann ich meine Übersetzung im zweiten Schritt schließlich immer noch, wenn einmal der Inhalt zutage liegt. Nun hat mich jedoch die Erfahrung gelehrt, dass die meisten Übersetzungen, sofern überhaupt vorhanden bzw. erwerblich, recht frei sind, vor allem die älteren.

Kennst du möglichst wortgetreue Übersetzungen (irgendwelcher) antiker Schriften, die du empfehlen kannst? Kürzlich bin ich auf die Reihe "Königs Übersetzungen" gestoßen, die ausdrücklich mit einer wortgetreuen Übersetzung wirbt. Leider deckt die Reihe nur einen kleinen Teil der antiken Texte ab und ist auch nicht zweisprachig, was allerdings kein K.O.-Kriterium darstellt.

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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon Tiberis » Di 7. Jun 2016, 15:41

salve

iurisconsultus hat geschrieben:weil ich allgemein der Auffassung bin, dass Originaltexte so wenig wie möglich verfälscht werden sollen

in diesem punkt stimme ich dir absolut zu. die frage ist nur, wie man es am besten erreicht, einen lateinischen text durch die übersetzung "möglichst wenig zu verfälschen".
grundsätzlich ist ja jede übersetzung an sich schon eine verfälschung, mag sie auch "wörtlich" und "richtig" sein. eine transskription eines orchesterstücks für klavier, so gut sie sein mag, wird niemals den originalklang wiedergeben können, um einen vergleich aus der musik zu bemühen.
und gerade bei sogenannten wörtlichen übersetzungen - gerade aus dem lateinischen - bin ich besonders skeptisch: abgesehen davon, dass es konsequent wörtliche übersetzungen gar nicht geben kann (wie wollte man beispielsweise einen abl. abs. wörtlich übersetzen??), gehen derartige versuche in der regel zu lasten einer guten deutschen wiedergabe.
jede übersetzung ist naturgemäß interpretation, deren qualität letztlich davon abhängt, wie sehr der übersetzer in der lage ist, alle (!) inhaltlichen und semantischen aspekte der ausgangssprache stilistisch einwandfrei in die zielsprache zu transferieren.
die reihe "königs übersetzungen" ist mir nicht bekannt. aber irgendeine "reihe" oder einen verlag zu empfehlen, wäre sowieso problematisch, da ja naturgemäß immer mehrere übersetzer am werk sind. ich kenne z.b. sehr gute reclam-übersetzungen, aber es gibt eben möglicherweise auch weniger gute.
eine übersetzung, so gut sie sein mag, ist immer nur eine art schattenbild des originals. dies gilt ganz besonders für übersetzungen aus den klassischen sprachen.
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon iurisconsultus » Di 7. Jun 2016, 16:35

Salve denuo!
Tiberis hat geschrieben:...abgesehen davon, dass es konsequent wörtliche übersetzungen gar nicht geben kann (wie wollte man beispielsweise einen abl. abs. wörtlich übersetzen??), gehen derartige versuche in der regel zu lasten einer guten deutschen wiedergabe...

Ich verstehe wortgetreu natürlich so, dass auch der Zielsprache keine Gewalt angetan wird, zumal mir das Deutsche mindestens so sehr am Herzen liegt wie das Lateinische. Meiner bescheidenden Meinung nach haben einige Sprachmittler nur einfach gar zu freie Übersetzungen angefertigt, was mich dann umso mehr ärgert, wenn sie es ungeachtet fehlender schriftstellerischer Begabung getan haben (ein erschreckendes Beispiel ist für mich manches auf Gottwein.de). Deshalb bin ich für jeden Hinweis zu guten Übersetzungen oder Übersetzern dankbar. Und auch wenn ich weiß, dass dieser niemals frei von persönlichen Präferenzen sein kann, vertraue ich auf euer (kein pluralis majestatis :D) Urteil.
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon marcus03 » Di 7. Jun 2016, 17:30

iurisconsultus hat geschrieben:Ich verstehe wortgetreu natürlich so, dass auch der Zielsprache keine Gewalt angetan wird,


Wenn ich da an gewisse Übersetzungen aus der Schulzeit denke, war der Tatbestand der brutalen Vergewaltigung des öfteren voll erfüllt. ;-)
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon Prudentius » Di 7. Jun 2016, 18:33

"carcer ... imminens foro"


"drohend über dem Forum stehend", würde ich sagen. Bei imminere meine ich zwei unterschiedliche örtliche Richtungen zu erkennen, im konkreten und realen Sinne "emporragen", sich erheben, also Bewegung nach oben; im psychologischen oder emotionalen Sinn aber bedrohliche Bewegung nach unten; das Gefühl, das man unter einem wankenden Turm oder einer Lawine empfindet. Es steht ja auch da: "ad terrorem audaciae", zur Abschreckung, wie wir sagen würden, und da wird diese psych. Seite angesprochen.

Das "Oben" ist nicht nur eine Ortsbestimmung, sondern ist emotional aufgeladen: Über-fall, Übermacht, Überlegenheit, Überrumpelung, überwältigen, Hochmut; und umgekehrt: Unter-gang, unterjochen, unterwerfen, untertänig, erniedrigen.
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon Tiberis » Di 7. Jun 2016, 18:49

Prudentius hat geschrieben:"drohend über dem Forum stehend", würde ich sagen. (...) Es steht ja auch da: "ad terrorem audaciae", zur Abschreckung, wie wir sagen würden, und da wird diese psych. Seite angesprochen.


plane tibi assentior, optime Prudenti, praesertim cum id ipsum iam supra scripserim: :D
Tiberis hat geschrieben:carcer foro imminet bedeutet ja nichts anderes, als dass das gefängnis, welches unmittelbar neben dem forum drohend (!) emporragte, angesichts der steigenden kriminalität, auf die öffentlichkeit (forum!) eine bedrohliche, einschüchternde wirkung haben sollte.
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon Prudentius » Fr 10. Jun 2016, 10:04

iurisconsultus hat geschrieben:... bin stets auf der Suche nach insbesondere zweisprachigen Werken mit möglichst wortgetreuen englischen oder vorzüglich deutschen Übersetzungen...


"Loeb Classical Library", besser noch "Collection Budé", wenn dir das Fr. zugänglich ist.
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Re: Livius, Ab urbe condita I 33, 8

Beitragvon iurisconsultus » Fr 10. Jun 2016, 11:02

Prudentius hat geschrieben:"Loeb Classical Library", besser noch "Collection Budé", wenn dir das Fr. zugänglich ist.

Dass ist es leider nicht optime Prudenti. :D Aber die englischen Übersetzungen aus der "Loeb-Reihe" kannst du als möglichst wortgetreu empfehlen?! Dann werde ich da mal reinschauen. Viele Bände sind ohnehin bereits gemeinfrei.

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