Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

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Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

Beitragvon Honigdachs » Fr 11. Nov 2016, 10:34

Liebe Freunde des Altertums,

vielen Dank für die Aufnahme in dieses Forum. Ich freue mich umso mehr, als ich eine Zeit lang auf meine Aktivierung warten musste :-)

Ich habe eine Frage zu einer Textstelle aus Ciceros Werk Laelius de amicitia, das ich gerade lese.

Cicero schreibt im Proömium unter anderem davon, dass er in seinem anderen Werk de Senectute Cato den Älteren als Sprecher auftreten ließ, weil dieser ein geeignetes Vorbild dafür war, wie man in hohem Alter seinen Lebensabend verbringt; entsprechend möchte er in diesem Werk Laelius als Sprecher auftreten lassen, weil dessen Freundschaft zu Scipio so berühmt war. In §4 findet sich in diesem Zusammenhang folgende Textstelle:

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Sed ut in Catone Maiore, qui est scriptus ad te de senectute, Catonem induxi senem disputantem, quia nulla videbatur aptior persona quae de illa aetate loquereter quam eius qui et diutissime senex fuerit, et in ipsa senectute praeter ceteros floruisset; (sic mihi Laeli persona idonea visa est, quae de amicitia dissereret)

Mein Übersetzungsvorschlag:
Denn so, wie ich in dem Buch "Cato Maior", das ich an dich gewidmet über das Greisenalter schrieb, Cato als Greis auftreten ließ, der den Vortrag hielt, weil mir keine Rolle angemessener erschien um über jenes Alter zu reden als (die Rolle) dessen, der sowohl selbst sehr lange ein Greis war, als auch in dem Greisenalter selbst mehr als alle anderen erblüht war; (so schien mir die Rolle des Laelius angemessen, um über die Freundschaft zu reden)
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Den Teil in Klammern habe ich gekürzt wiedergegeben, weil er für meine Frage nicht so relevant ist.
Zu meiner Frage: Ich habe die Oxford-Ausgabe von J.G.F. Powell (2006). In dieser Ausgabe steht an der oben fett markierten Stelle fuerit. Wenn man den Text im Internet sucht, findet man an der Stelle überall fuisset. So soll es, meine ich, auch in der Ausgabe von Simbeck (Stuttgart 1980) stehen. Ich habe diese andere Ausgabe leider nicht zur Hand, aber mir wurde gesagt, dass weder dort bei fuisset ein Verweis auf eine andere Lesart stehen soll, noch finde ich bei Powell eine Bemerkung zu fuerit im Apparat.

Erste Frage: Hat jemand zufällig auch eine textkritische Ausgabe, die dort Abweichungen vorstellt?

Zweite Frage: Die Lesart fuisset lässt sich für meine Begriffe relativ einfach erklären. Das ist eben ein Relativsatz, der in den Konjunktiv getreten ist und der Zeitenfolge folgt. Der Konjunktiv gibt wohl einen konsekutiven Nebensinn wieder.
Ich finde es aber nicht so einfach, die Lesart fuerit zu erklären. Wenn es wirklich beide Möglichkeiten gab, hat Powell vielleicht diese gewählt, weil sie die schwierigere ist, aber lässt sie sich überhaupt rechtfertigen?
Rein semantisch könnte ich es mir vorstellen: Die erste Aussage (senex fuerit) bezieht sich auf eine objektive Wahrheit, die jeder anerkannt (Cato ist eben sehr alt geworden: er lebte von 234 bis 149 v.Chr.); die zweite Aussage (in senectute floruisset) ist eher eine subjektive Wahrnehmung - also entweder Ciceros Vorstellung von Catos Lebensabend oder die Meinung einiger Leute dazu, die aber nicht unbedingt von jedem anerkannt sein muss.
Aber lässt sich fuerit grammatikalisch rechtfertigen? Meine Überlegung war, dass es ein absolutes Tempus sein könnte. Ich habe in der Bibliothek im Menge nach dem Begriff gesucht, bin aber nicht so richtig fündig geworden - jedenfalls mit nichts, was meine Stelle betrifft. Das könnte aber auch aus meiner mangelnden Erfahrung im Umgang mit dem Buch herrühren. Im RHH habe ich dann etwas gefunden: §231 "Absolutes Tempus in konj. Nebensätzen": Häufig in Konsekutivsätzen, und zwar (...) im Konj. perf., wenn die Aussage keine Erzählung, sondern eine Feststellung enthält (unabhängig also das konstatierende Perfekt stünde). ------ Das würde ja auf mein semantisches Verständnis oben passen. Lässt sich dieser Paragraph hier anwenden? Es handelt sich ja nicht direkt um einen Konsekutivsatz, aber immerhin um einen Relativsatz mit konsekutiven Sinn. Etwas Sorgen hat mir gemacht, dass es dann eben auf einer Ebene mit einem abhängigen Konjunktiv stünde. Geht so etwas?

Ich weiß, dass die Foristen, die hier schreiben, sehr kundige Leute sind, deshalb würde mich eure Meinung zu dieser Stelle sehr interessieren.

Meine Fragen noch einmal kurz zusammengefasst:
1) Kann sich jemand erklären, warum das nicht im Apparat steht?

2) Lässt sich fuerit grammatikalisch und semantisch rechtfertigen?

3) Was haltet ihr für die bessere Lesart?
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Re: Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

Beitragvon Medicus domesticus » Fr 11. Nov 2016, 12:59

Die Frage ist, ob im Oxfordtext ein Fehler vorliegt. In der Teubneriana steht fuisset ohne Anmerkungen. Wenn man im Internet sucht, kein Treffer. Ebenfalls in Tusculum fuisset. Da liegt ein Fehler schon sehr nahe...
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Re: Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

Beitragvon Honigdachs » Fr 11. Nov 2016, 13:27

Medicus domesticus hat geschrieben:Die Frage ist, ob im Oxfordtext ein Fehler vorliegt. In der Teubneriana steht fuisset ohne Anmerkungen. Wenn man im Internet sucht, kein Treffer. Ebenfalls in Tusculum fuisset. Da liegt ein Fehler schon sehr nahe...


Wenn das ein Fehler ist, hast du eine Ahnung, wie es zu so einem Fehler kommen kann? So etwas muss einem doch auffallen.

Noch eine Frage: Was ist Tusculum?
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Re: Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

Beitragvon marcus03 » Fr 11. Nov 2016, 13:29

Honigdachs hat geschrieben:Die erste Aussage (senex fuerit) bezieht sich auf eine objektive Wahrheit, die jeder anerkannt (Cato ist eben sehr alt geworden:


Wenn eine objektive, biografische Tatsache ausgedrückt werden soll, würde man Indikativ erwarten,außer man geht von einer Modusangleichung an loqueretur aus, die mMn infrage kommt.
Wenn dem so wäre, spräche auch das für fuisset und gegen fuerit gemäß cons. temp.
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Re: Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

Beitragvon Honigdachs » Fr 11. Nov 2016, 13:39

marcus03 hat geschrieben:
Honigdachs hat geschrieben:Modusangleichung an loqueretur


Ich hatte mich auch gefragt, ob sich der Konjunktiv in dem Nebensatz aus einer Modusangleichung heraus erklären lässt. Die Idee habe ich aber wieder verworfen, weil der Nebensatz ja eigentlich nicht von dem Nebensatz mit loqueretur, sondern von einem indikativischen Hauptsatz abhängig ist. Wenn man alles andere mal weglässt, dann wäre der Satz ja

eius persona apta videbatur, qui ipse senex <...Form von esse...>

Ist eine Modusangleichung an dann denkbar, wenn einfach nur der vorhergehende (von dem betroffenen Satz unabhängige) Nebensatz im Konjunktiv steht?
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Re: Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

Beitragvon marcus03 » Fr 11. Nov 2016, 13:55

Auslöser für den Konj. ist aptior, quae (geeignet, sodass).
Der vergleichende Rel.satz führt den konsekutiven Rel.satz fort. Da ist doch eine Modusangleichung naheliegend,oder?
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Re: Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

Beitragvon Medicus domesticus » Fr 11. Nov 2016, 22:07

Honigdachs hat geschrieben:Wenn das ein Fehler ist, hast du eine Ahnung, wie es zu so einem Fehler kommen kann? So etwas muss einem doch auffallen.

Es gibt ein Review von Powells Ausgabe auf JSTOR:
http://www.jstor.org/stable/30037972
Auf Seite 328 steht folgendes:

Unbenannt.JPG
Review

:book:
Honigdachs hat geschrieben:Noch eine Frage: Was ist Tusculum?

Ich meinte die Tusculumausgabe.
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Re: Cic. amic. 4 - Tempusgebung unklar

Beitragvon Honigdachs » So 13. Nov 2016, 13:52

Vielen Dank für die Hinweise! Das macht das alles etwas klarer für mich.

Verstehe ich das Review richtig als leise Kritik an Powells Umgang mit den Vorleistungen anderer Wissenschaftler?
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