Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

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Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon Honigdachs » So 13. Nov 2016, 14:10

Liebe Lateinfreunde,

beim Lesen von Ciceros Laelius beschäftigen mich weiterhin die Unterschiede zwischen meiner Ausgabe von Powell und anderen Texten. Diesmal geht es um die Interpunktion eines Satzes. In §6 ist gerade das Proömium vorbei und das Gespräch zwischen Laelius und seinen Schwiegersöhnen Fannius und Scaevola beginnt. Gerade ist Laelius' Freund Scipio minor gestorben und Fannius wendet sich an Laelius. Er und Fannius loben Laelius in dieser Passage etwas über den Klee.

Meine Frage bezieht sich auf einen Satz, der in verschiedenen Ausgaben unterschiedlich interpungiert ist. Ich lasse ihn mal ohne Satzzeichen, damit ihr quasi selbst kurz darüber nachdenken könnt, wo ihr sie setzen würdet:

Sunt ista, Laeli; nec enim melior vir fuit Agricano quisquam nec clarior.
Sed existimare debes omnium oculos in te esse coniectos unum te sapientem et appellant et existimant


Mein Übersetzungsvorschlag:
Es ist, wie du sagst, Laelius: und es gab gewiss keinen besseren und berühmteren Mann als Africanus.
Du musst aber davon ausgehen, dass (jetzt) die Augen aller auf dich (allein) gerichtet sind; dich allein nennen sie einen Weisen und dich allein halten sie dafür.


Der Unterschied: Powell setzt einen Doppelpunkt hinter coniectos. Andere Ausgaben interpungieren erst hinter unum (mit einem Semikolon glaube ich). Das führt im Grunde zu zwei unterschiedlichen Textverständnissen: Die einen lesen "die Augen aller sind allein auf dich gerichtet - dich nennen sie ..."; die anderen lesen "die Augen aller sind auf dich gerichtet - dich allein nennen sie ..."

Ich habe Belege für beide Wortstellung, also sowohl für unum te als auch für te unum, in anderen Texten Ciceros gefunden.

Meine Vermutung: Ich finde beide Möglichkeiten, den Text zu verstehen, plausibel. Da die Texte zu Ciceros Zeiten im Grunde (fast) keine Interpunktion hatten, mussten sie den zeitgenössischen Lesern zweideutig vorkommen und das musste Cicero auch klar sein. Ich würde das an dieser Stelle für ein Apokoinu halten und das unum auf beide te beziehen. In der deutschen Übersetzung würde ich entsprechend auch 2x allein schreiben.

Was haltet ihr davon?
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Re: Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon marcus03 » So 13. Nov 2016, 15:27

Honigdachs hat geschrieben: Ich finde beide Möglichkeiten, den Text zu verstehen,


Ein Hyperbaton te...unum halte ich für eher/sehr unwahrscheinlich. Warum sollte man ein Wort, das der Betonung dient, vom zu betonenden Wort trennen? Dadurch ginge dieser Effekt doch verloren. Ferner: Ein Hyperbaton mit dem dazwischengeschobenen Infinitiv eines ACI kommt mir sehr seltsam vor, zumindest in der Prosa.
Ob es auch dafür Belege gibt? :nixweiss:

PS:
Ist nicht esse coniectos eine metrische Klausel? Auch das spräche gegen das Hyperbaton, oder?
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Re: Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon Prudentius » So 13. Nov 2016, 20:29

Ja, ein katalektischer Doppelkretikus, —◡—ˌ—◠, der normale Doppelkretikus wäre —◡—ˌ—◡◠, den finden wir am Ende dieses Satzes: ... -lant et existimant.

Ich denke auch, dass man so interpungieren sollte; einen Gegengrund erkenne ich darin, dass die beiden logischen Wörter omnium - unum korrespondieren.
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Re: Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon Honigdachs » So 13. Nov 2016, 21:09

Vielen Dank für die Antworten!

Zu dem Hinweis mit dem Hyperbaton: Darüber habe ich auch kurz nachgedacht, habe mich aber nicht weiter daran gestört. Dass ein Verb eine Nominalphrase sperrt, war für meine Begriffe immer etwas ganz normales. Ich habe aber nie genauer darauf geachtet. Sollte es so ungewöhnlich sein, dass hier ein Infinitiv sperrt? Was die Betonung angeht: Für mein Empfinden trägt die Spannung, die ein Hyperbaton (wie in diesem Fall) aufbaut, eher sogar zur Betonung bei, als ihr abträglich zu sein. Deshalb hatte die Überlegung kein richtiges Gewicht bei mir.

Zu den Prosarhythmen: Vielen Dank für die Hinweise. Ich weiß zwar, dass es Prosarhythmen gibt und ein Satz nicht gerade auf einen Adoneus enden sollte, aber das ist auch schon alles zu der ganzen Thematik :) Welche Rhythmen es genau gibt und wie wichtig sie sind, dazu habe ich mich nie belesen. Das Argument mit den Rhythmen finde ich gut.
Gegenfrage: Wenn der Satz mit "coniectos unum" aufhören würde, würde der Schluss des Teilsatzes mit fünf Längen aufhören. Wäre das sehr schlimm?

Danke für den Hinweis auf omnium <> unum -- das war mir gar nicht so richtig bewusst.

Ist das Verständnis als Apokoinu auch denkbar? Ich finde das eigentlich nicht abwegig.
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Re: Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 14. Nov 2016, 09:42

Ich bin bei Powell etwas skeptisch geworden, Teubneriana (Simbeck) setzt Semikolon nach unum. Der Nachteil bei Powell ist, dass er seine Änderung nicht richtig angibt, obwohl in alten Ausgaben seine Meinung desöfteren vertreten wird. Ich denke, dass man es hier einfach nicht sicher entscheiden kann. unum kann zum ersten Satzteil gehören, gibt te mehr Gewicht als Endwort und korrespondiert mit omnium, wie Prudentius schon angemerkt hat. Durchaus vertretbar. Genauso könnte nach esse coniectos Schluss sein und unum nicht mehr dazu gehören. Eine eindeutige Zuordnung wird es nicht geben.
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Re: Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon Zythophilus » Mo 14. Nov 2016, 15:05

Sinngemäß gehört unum zu beiden Teilen, aber der schon erwähnte Gegensatz omnium - unum lässt es für mich plausibler erscheinen, dass es zum ersten Teil gehört. Das Hyperbaton kann durchaus der Betonung dienen. Auch beginnen bei dieser Auffassung beide Teile mit dem Personalpronomen (der erste eben mit in te), wodurch sich ein gewisser Parallelismus ergibt.
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Re: Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon Prudentius » Mo 14. Nov 2016, 18:37

Honigdachs hat geschrieben: ... Hinweis auf omnium <> unum -- das war mir gar nicht so richtig bewusst.


Das meine ich so: das "dich allein" bei "dass sich Augen auf dich allein richten" ist noch zu unbestimmt (denn wenn nur 2 Leute da sind, heißt das nicht viel); daher ist "aller Augen" also die Angabe, die das Besondere von "unum" deutlich macht.

Eine Parallelstelle, aus der 3. Catilinaria, etwas verkürzt: "Omnis impetus hostium se in me unum convertit".

Nebenbei bemerkt: Die Formulierung "omnium oculos in me unum conversos esse" zeigt uns, Cicero hätte in die Psychiatrie gehört :-D , Diagnose Narzissmus, Befund "Größenphantasien".
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Re: Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon Honigdachs » Mo 14. Nov 2016, 20:34

Danke für all die Antworten! Da sind einige Dinge dabei, die mir noch gar nicht aufgefallen sind.

Noch einmal die Frage: Wären 5 Längen als Satzende (also coniectos unum) so schlimm?

Prudentius hat geschrieben:Eine Parallelstelle, aus der 3. Catilinaria, etwas verkürzt: "Omnis impetus hostium se in me unum convertit".


Danke für den Hinweis! Hast du diese Parallelstelle aus dem Kopf zitiert oder hast du die irgendwie recherchiert? Wenn letzteres: Wie findet man so etwas?

Nebenbei bemerkt: Die Formulierung "omnium oculos in me unum conversos esse" zeigt uns, Cicero hätte in die Psychiatrie gehört :-D , Diagnose Narzissmus, Befund "Größenphantasien".


Naja, zu Ciceros Ehrenrettung muss man sagen, dass ab §9 dann Laelius anfängt zu sprechen und erstmal ordentlich zurückrudert, jedes Lob von sich weist und sich als bescheidener Philosoph zeigt ... Fannius' und Scaevolas Reden scheinen aber ein wenig Ciceros Vorstellungen von seiner idealen Fanbase zu zeigen :D
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Re: Cic. amic. 6 - Wie würdet ihr interpungieren?

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 14. Nov 2016, 20:58

Ja, dann schau mal auf Cicero in der Rede gegen Verres... ;-) :
Cic. in Verrem II.5,35 hat geschrieben:O di immortales! quid interest inter mentes hominum et cogitationes! Ita mihi meam voluntatem spemque reliquae vitae vestra populique Romani existimatio comprobet, ut ego, quos adhuc mihi magistratus populus Romanus mandavit, sic eos accepi ut me omnium officiorum obstringi religione arbitrarer! Ita quaestor sum factus ut mihi illum honorem tum non solum datum, sed etiam creditum et commissum putarem; sic obtinui quaesturam in Sicilia provincia ut omnium oculos in me unum coniectos esse arbitrarer, ut me quaesturamque meam quasi in aliquo terrarum orbis theatro versari existimarem, ut semper omnia quae iucunda videntur esse, ea non modo his extraordinariis cupiditatibus, sed etiam ipsi naturae ac necessitati denegarem.
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