Longipes hat geschrieben:Ich denke, was ihn unangenehm erscheinen lässt, ist sein offensichtlich ich-bezogenes Lebensziel: Wir erkennen sowohl aus seinen Briefen als auch seiner politischen Entscheidungen, dass es ihm grundsätzlich um seine eigene Karriere geht, ohne sich aber einer bestimmten factio anzuschließen. Er attackiert korrupte Senatoren wie Verres, um im nächsten Schritt den ebenso korrupten Fonteius zu verteidigen. Er vertritt mal die Popularen, dann die Optimaten, je nach dem, wie es ihm gerade nützt...
Man kann das positiv oder negativ deuten, ihn als überparteilichen Kämpfer für republikanische Werte betrachten oder als "Fähnchen im Wind". ... Die dunklen Stellen dieser Biographie sind uns gut überliefert,
Ich denke, Ihr solltet bei Cicero zwei Punkte berücksichtigen:
- Er ist
Anwalt gewesen, Sprecher einer Gerichtspartei, zu diesem Berufsbild gehört es, dass man eine Parteimeinung möglichst optimal fördert; nicht der Anwalt ist also der Gerechtigkeit verpflichtet, sondern Richter und Gericht; man kann also Cicero nicht vorwerfen, den Regeln seines Berufsstandes gefolgt zu sein;
- seit mehr als 100 Jahren gibt es die Psychoanalyse, wir wissen heute unendlich viel mehr über das, was sich hinter dem Vorhang des Unbewussten in der Seele abspielt; es hat sich ein fortgeschrittenes Bewusstsein von den Gefährdungen des Seelischen entwickelt, Depression, Burnout, Demenz, Drogen, Alkoholismus sind ein paar Stichworte; Cicero zeigt mit großer Deutlichkeit die Symptome der "narzisstischen Persönlichkeitsstörung"; wenn wir nicht psychoanalytisch-naiv über ihn urteilen wollen, müssen wir dem Rechnung tragen; seine "unsympathischen Züge" sind Krankheitssymptome, seine Handlungsweise ist manchmal zwanghaft; wir sollten den Kranken nicht auch noch dafür schelten, dass er krank ist.
Es kommt mir aber nicht darauf an, jetzt Cicero reinzuwaschen und weiterhin Lobeshymnen auf ihn zu singen; aber wir sollten ihn differenzierter betrachten.
Die von euch angeführte Briefstelle hat eigentlich nichts Peinliches, die literarischen Anforderungen an ein Lobesepos sind andere als an ein Geschichtswerk; bekanntlich haben ja auch die Römer in der "laudatio funebris" dem verstorbenen zusätzliche Konsulate angedichtet, so meine ich es gelesen zu haben.