Der Irrealis (v.a. der Vergangenheit) in der Dichtersprache

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Der Irrealis (v.a. der Vergangenheit) in der Dichtersprache

Beitragvon Honigdachs » Di 4. Jul 2017, 15:35

Liebe Lateinfreunde,

eine Frage vorweg: Gibt es Lehrwerke oder Grammatiken, die sich mit grammatikalischen Eigenheiten der Dichtersprache beschäftigen?
Der RHH deckt ja eher nur klassisches Prosa ab ...

Konkret geht es mir um den Irrealis (vor allem der Vergangenheit) in der Dichtersprache.
Ich habe beim Lesen von Ovids Tristien bemerkt, dass der gerne mit einem Futur-Partizip und einer Form von esse in der Vergangenheit gebildet wird.

In den Tristien 1.7. schreibt Ovid ein Vorwort, das den Metamorphosen vorangestellt werden sollte, die nach seiner eigenen Aussage aufgrund seiner Verbannung nicht den letzten Schliff erhalten konnten:
quidquid in his igitur vitii rude carmen habebit
emendaturus, si licuisset, eram.
(Verse 39-40)

~ Was auch immer das unausgereifte Gedicht in diesen Büchern an Fehlern haben wird,
das hätte ich ausgebessert, wenn es mir erlaubt gewesen wäre

Im Gedicht davor (1.6.) schreibt Ovid an seine Frau und dankt ihr, dass sie zu Hause sein Vermögen behütet:

sic mea nescioquis, rebus male fidus acerbis,
in bona venturus, si paterere, fuit.

~ So wäre auch irgendjemand, der in schlechten Zeiten übel gesinnt ist,
an/auf meine Güter gekommen, wenn du es zugelassen hättest.

Im ersten Beispiel steht die Periphrase mit dem Imperfekt, im zweiten Beispiel mit dem Perfekt von esse.
Gibt es einen Bedeutungs- oder Verwendungsunterschied zwischen dem Imperfekt und dem Perfekt in solchen Konstruktionen?
Gefühlt findet man das Imperfekt häufiger - ich habe aber keine echten Zahl, um mein Gefühl zu belegen.
Metrisch kann man den Unterschied gerade anhand dieser Beispiel ja sicher nicht erklären. Statt "paterere fuit" hätte ja beispielsweise auch locker "patereris erat" stehen können.

Eine weitere Frage: Schränkt die Verwendung des Indikativs in dieser Periphrase die Irrealität der Aussage ein?
Ich meine damit folgendes: Mir ist noch ein Beispiel aus der Aeneis im Kopf, als Laokoon vor dem hölzernen Pferd warnt (Buch 2). Er wirft einen Speer auf das Pferd, der darin stecken bleibt. Leider erfolglos - dem Priester wird kein Glauben geschenkt und der griechische Hinterhalt wird nicht aufgedeckt. Vergil lässt Aeneas dazu sagen:

et si fata deum, si mens non laeva fuisset,
contigerat ferro Argolicas foedare latebras
Troiaque nunc staret, Primiaque arx alta maneres!
(Aen. 2, 54-56)

~ ... und wenn der Götter Geschick, wenn der Verstand nicht linkisch/ungünstig/töricht gewesen wäre,
dann hätte er dazu angetrieben, die griechischen Verstecke durch das Eisen zu zerstören
und Troia würde auch jetzt noch stehen, und du, Priamus' hohe Burg, wärst noch erhalten

Hier steht der Indikativ plusquamperfekt (impulerat) mitten im Irrealis. In einem Kommentar habe ich mal gelesen, das sei bewusst so gewählt worden, weil sich damit quasi auch grammatikalisch widerspiegelt, wie kurz davor Laokoon war, die Griechen zu entlarven. De facto hatte er seine Leute ja angetrieben, etwas zu unternehmen, nur ergab sich daraus keine Wirkung.
Schwingt so etwas auch im oberen Beispiel mit - das also die Handlung schon da war, nur der Effekt fehlte? D.h. dass Ovid schon im Begriff war, sein Werk zu überarbeiten, ihn dann aber das Verbot/ die Verbannung ereilte? Dass da schon jemand dabei war, eine Enteignung Ovids zu bewirken, aber seine Frau es verhinderte?
Oder ist diese Periphrase auch dann möglich, wenn jede Verankerung in der Realität fehlt? Kennt ihr in dem Zusammenhang noch weitere Beispiele?

Mir ist auch noch eine weitere kuriose Verwendung aufgefallen: In Buch 4, Gedicht 8 der Tristien schreibt Ovid über sein voranschreitendes Alter:

nunc erat, ut posito deberem fine laborum
vivere cor nullo sollicitante metu,
(Verse 5-6)

~ Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit, dass ich nach Beendigung meiner Mühen
lebte ohne dass irgendeine Furch mein Herz bekümmert

Es geht also darum, dass er es eigentlich verdient hätte, das hohe Alter in Ruhe in Rom verbringen zu können, stattdessen aber die Verbannung am Ende der Welt ertragen muss.
Hier steht erat statt (wie ich erwartet hätte) esset ... der Irrealis der Gegenwart wird also durch ein Imperfekt ausgedrückt. Gibt es auch hierfür Parallelen und Erklärungen?

Die obigen Beispiele sind nur eine Auswahl. Mir geht es also nicht nur um den konkreten Einzelfall. Ich stolpere häufiger über diese Konstruktionen.

Vielen Dank für euer Interesse an der Frage!
Honigdachs
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Die indikativische Traummaschine

Beitragvon Willimox » Mi 5. Jul 2017, 17:14


Salve, Honigdachs!


(0) Konjunktivabstoßung in Imaginationen

Interessante Überlegungen zu Konjunktivabstoßung in Irrealisphrasen und zum Tempusgebrauch: "de facto-Anmutung oder de facto-Gedankenspiel...."

Mir scheinen deine Deutungen zum Indikativ - Nähe des Sprechers zu einer konjunktivbefreiten Kontrasthandlung als faktisch bis intensiv imaginiert - sehr einleuchtend. Angst- oder Wunschträume indikativisch präsentiert..... und ihrem kausalen Zwangsrahmen für kurze Zeit entsprungen...

Sogar im Konjunktiv funktioniert das bedingt:

Troiaque nunc staret, Primiaque arx alta maneres!

In der "Du-Ansprache" maneres entsteht latent ein Doppelbild, die mögliche unzerstörte und die faktisch zerstörte Burg des Priamus ist Gegenstand und Partner der Apostrophe. Bedingt von dem kontextuell nahen opulenten, mächtigen, pseudomächtigen "impulerat" und seinem Indikativ Plusquamperfekt.

Et si fata deum, si mens non laeva fuisset,
IMPULERAT ferro Argolicas foedare latebras,
Troiaque nunc staret, Priamique arx alta maneres


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Hier ein paar stützende Zusatzbeobachtungen:

(1) Zum Modus-Mix als Thema in den Lehrwerken

1.1 Die Altvertrauten

Nun, RH § 259; 3 konstatiert zumindest das Vorhandensein des Phänomens: Im Folgerungssatz finde sich gelegentlich „statt des Konj. Plusquamperfektes auch das Part. Fut.Akt. mit eram, fui“...

Der alte Menge (§ 382) lokalisiert das Phänomen in der Nähe von Ausdrücken wie „paene cecidi“, sieht also die lebhaft imaginierte Vorstellung eines beinahe möglichen Szenarios am Werk. Bringt ein schönes altdeutsches Beispiel:

Wenn die Kugel einen Zoll weiter nach dem Herz gegangen wäre, so war es um ihn geschehen.

Kühner-Stegmann, Teil II, Bd 2, S. 402ff behandeln das Phänomen ausführlich.

Neuer Menge S. 823f.

1.2 "Hätt er das Wort des Peleiaden bewahret, Traun, er entrann dem bösen Geschick."; (Voss II, 16)

Hermann Paul lässt sich aus zu solchen Wechseln von Konjunktiv im Vordersatz und Indikativ in der Apodosis (und Varianten), viele Belege - vgl. seine „Deutsche Grammatik“, Bd 4, S. 272ff.

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1.3 Harm Pinkster

Ähnlich - lebhafte Vorstellung eines ausbleibenden Hinderungsgrundes als Kontrast zu der konjunktivisch negierten, leider oder dankenswerterweise gegebenen Voraussetzung - argumentiert Pinkster:

The pluperfect indicative, just like the imperfect indicative (§ 7.20), is found in the apodosis with conditional subordinate clauses in the subjunctive to underline that something had almost become reality.
With a few exceptions this usage starts in the Augustan period and then becomes very common in later Latin.123 Two examples are (v) and (w). See § 16.54 for conditional periods in general.

(v)... quam facile potuerat quiesci, si hic quiesset! (‘How easily things could have been kept quiet if he had kept quiet!’ Ter. An. 691)
(w) Et si fata deum, si mens non laeva fuisset,/ impulerat ferro Argolicas foedare latebras,/ Troiaque nunc staret, Priamique arx alta maneres.
(‘If divine destiny, if the gods’ intent had not been contrary, he would have driven them to darken the Argives’ hiding places with the steel, and Troy would now be standing, and you, high citadel of Priam, would survive.’ Verg. A. 2.54–6—tr. Horsfall)

Supplement:

Quid in Cappadocia, ubi tu quingentos simul,/ ni hebes machaera foret, uno ictu occideras? (Pl. Mil. 52–3);

Inimicum habebas neminem. Si haberes, tamen non ita vixeras ut metum iudici propositum habere deberes. (Cic. Ver. 5.74);

Praeclare viceramus, nisi spoliatum, inermem, fugientem Lepidus recepisset Antonium. (Cic. Fam. 12.10.3);

Perieramus, si magistratus esset. (Sen. Con. 10.1.1);...

et coeperat surgere, nisi signo dato Fortunata quater amplius a tota familia esset vocata. (Petr. 67.3);

Miseramque intrarant protinus urbem,/ ni Megareus specula citus exclamasset ab alta. (Stat. Theb. 10.490–1);
Quod si tradita mihi sequi praecepta sufficeret, satisfeceram huic parti... (Quint. Inst. 6.2.25);

Actum erat, nisi Marius illi saeculo contigisset. (Flor. Epit. 1.38.5);

... ac ni caedem eius Narcissus properavisset, verterat pernicies in accusatorem. (Tac. 11.37.1);

Quod si impetrasset, fulminis modo cuncta vastarat. (Amm. 14.3.1);... quorum mensuram si in agris consul Quinctius possedisset, amiserat etiam post dictaturam gloriam paupertatis. (Amm. 22.4.5);

Pinkster, Harm: Oxford Latin Syntax: Volume 1: The Simple Clause. Oxford University Press. 2015, s. 461


(2) Zur Semantik der Tempuswahl, versuchsweise

Mehrere Zeitsysteme in den Texten implantiert:

2.1 Literarischer Feinschliff

quidquid in his igitur vitii rude carmen habebit
emendaturus, si licuisset, eram. (Verse 39-40)



Es gibt eine Betrachtzeit, in der der zukünftige Rezipient vielleicht auf „etwas rohere Passagen“ stoßen wird. So kann sich der Autor das gut vorstellen.

Der Rezipient kann aber sicher sein, so der Autor in seiner Schreib- und Sprechzeit, dass der Autor (durativ) daran war, in seiner Zukunft am Werk zu feilen.

Allerdings ist dieser Fall eben nur vorgestellt und imaginiert. Wie so vieles, das der Zukunft zugeordnet wird. Hat dem Autor doch die Realität der historischen Zeit, zu welcher der Autor spricht und schreibt, die Möglichkeit eines Perfektionsemendierens genommen.

Immerhin: Das Geschriebene dieser Zeilen reicht weiter über die Sprech- und Schreibzeit hinaus, wenn es gelesen wird, wird es immer wieder lebendig. So lässt sich – fast zeitenthoben - von einer Metaebene aus, die verfahrene Situation betrachten und ihre möglichen Alternativen kommen ins erweiterte Wahrnehmungsfeld.

Also lässt sich poetisch-sprachlich in einer überzeitlichen Kommunikationssituation, zu der das Buch einlädt, die fehlerbehaftete, durch Verbote beschädigte Produktion bis zu einem gewissen Grad korrigieren. Das war drin.

Was auch immer das unausgereifte Gedicht in diesen Büchern an Fehlern haben wird,
ich war ganz gewiss unmittelbar daran/fest entschlossen, es in meiner zukünftig bleibenden Zeit zu verbessern, wenn es mir nur erlaubt gewesen wäre


2.2 Die römische Tigerin

sic mea nescioquis, rebus male fidus acerbis,
in bona venturus, si paterere, fuit.

Ein punktueller Angriff – venturus fuit - auf das Vermögen des abwesenden Autors durch einen Aggressor, vorgestellt als vergangen, vom Angreifer her "zukunftsorientiert - unmittelbar drohend" und bei Durchführung in der Vergangenheit unmittelbar in die vorgestellte Gegenwart reichend und so den Status demolierend.
Das ausbleibende Zulassen in „paterer“ scheint mir als Verwehrverhalten der Frau gleichzeitig zu der invasiven Vorstellung zu sein, daher (?) wohl auch das Imperfekt des Irrealis. Und der Indikativ Perfekt in der literarischen Darstellung einer Angstvision.

Die Traummaschine Indikativ funktioniert in poetischen und prosaischen Texten ....

3. Das Bikonditional

Mir scheinen - Prudentius ist da allerdings ein supremer Spezialist - irreale Bedingungsgefüge auf ein indikativisches Kontrastkonditional zurückzugehen.

Wenn Du mich besucht hättest, wäre ich darüber sehr froh gewesen.

Wenn Du mich (zu einer bestimmten Angelegenheit) besuchst, dann bin ich darüber sehr froh.

Der indikativische Wenn-Dann-Satz gilt als Hintergrundsatz der konjunktivischen Periode.
Sie negiert per Konjunktiv die Sachverhalte/Propositionen des indikativischen Phrase.

Da die konjunktivische Phrase vor allem dann funktioniert, wenn die indikativische Phrase bereits dann falsch ist, wenn eine der beiden Teilsätze falsch ist, liegt dem Irrealis-Schema ein Bikonditional zugrunde:

p genau dann wenn q

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Nun mag man einwenden, dass der Besuch weder hinreichend noch notwendig ist für eine Freuderegung des Besuchten. Immerhin aber scheint die konjunktivische Folgebeziehung darauf hinzuweisen, dass wohl alle Zusatzbedingungen latent mitzudenken und erfüllt sind, so dass die Addition des Besuches zu diesen Zusatzbedingungen insgesamt eine Hinreichend-Notwendig-Beziehung erstellt.

Das heißt, die im Konjunktiv behauptete Falschheit einer Teilaussage ruft zwangsweise die Falschheit der anderen Aussage hervor. Es gibt keine gemischten Wahrheitswerte (wf, fw - True False, False True).

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Re: Der Irrealis (v.a. der Vergangenheit) in der Dichterspra

Beitragvon Prudentius » Do 6. Jul 2017, 10:50

Honigdachs hat geschrieben: ... wenn jede Verankerung in der Realität fehlt?...


Liebe Lateinfreunde,

unter anderer Rubrik haben wir ja gerade viel von der Stagnation der Altphilologie gelesen, von ihrer mangelnden Anschlussbereitschaft auf die Moderne hin; also versuchen wir es doch anders!

Irrealität ist nicht nur etwas Grammatisches, sondern auch etwas Logisches, vllt. kommt etwas Licht auf die Fragen; logisch gesehen ist hier weder von Verankerung noch von Realität die Rede, man spricht eher von "Wahrheit" oder Satzwahrheit; also nicht was wirklich/unwirklich ist, steht zur Debatte, sondern was wahr oder falsch ist; das ist ein Unterschied. Ein Beispiel: "Wenn A wäre, dann wäre auch B", das ist fast gleichwertig mit "Weder ist A noch B", das ist ganz in der Realität vernakert, wenn man so will; und es hat soherumgesagt nichts Irreales an sich.

Rein logisch gesehen ist der Irrealis eine bestimmte Zurordnung von zwei Teilsätzen zueinander; die Form dieser Zuordnung kann ganz verschieden sein; man kann es beim Konditionalsatz sehen:
"Ama et fac quod vis", Augustinus, das ist soviel wie "Wenn du liebst, kannst du machen, was du willst", also zwei Imperative sind einem Konditional gleichwertig; ebenso auch ein Werbespot für Pillen: "Nimm Darmol, du fühlst dich wohl" = "Wenn du ...".

Also du siehst, es gibt viele Varianten, das irreale Satzverhältnis auszudrücken, und das ganze ist auch nicht sehr spannend.

Lgr. P. :)
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Re: Der Irrealis (v.a. der Vergangenheit) in der Dichterspra

Beitragvon Zythophilus » Mo 11. Sep 2017, 17:09

Irreal sind die Aussagen der si-Sätze und die im Hauptsatz geschilderten Folgen, die eben nicht eintrafen. Die Aussage impulerat trifft doch zu. Laokoon hätte nicht nur dazu angetrieben, er tat es auch, allerdings erfolglos. Im Deutschen neigt man manchmal dazu, erfolglose Tätigkeiten im Konjunktiv auszudrücken, aber im Lateinischen wäre ein solcher fehl am Platz. Ich würde v. 55 als Parenthese zw. Bindestriche oder in Klammern setzen. Eine Parallele zur Ovid-Stelle sehe ich somit nicht.
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Re: Der Irrealis (v.a. der Vergangenheit) in der Dichterspra

Beitragvon Willimox » Mo 11. Sep 2017, 20:50

Ich bin mir nicht sicher, ob das "impellere" wirklich unserem "anfeuern" entspricht (bei dem dann durchaus die erwünschte Reaktion ausbleiben kann). Es scheint doch oft in Richtung auf "veranlassen", "dazu bringen" hinauszulaufen. In diesem Fokus dürfte dann der abhängige Infinitiv und die avisierten Akteure den Stimulus aufnehmen und auch verwirklichen oder es zumindest versuchen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die bei Honigdachs erscheinende Variante "contigerat".

Diskutabel scheint mir weiterhin die Hypothese, das "impulerat" sei geschmeidig als eine fast zutreffende Voraussetzung, also als Fortsetzung der si-Sätze, und auch als möglicher Folgerungssatz (gelungener Impuls zur Aufdeckung des verderblichen Inhalts) zu lesen. Ein Wunschtraum, der vom Konjunktiv befreit, und bis zu einem bestimmten Grad durch den Aspekt ganz nahe am Glücken "legitimiert" ist.

Manche Politiker, auch Fußballphilosophen, tasten diese Besonderheit des Konjunktivs aus und führen Sie - obwohl der Konjunktiv doch eigentlich schon das Scheitern einräumt - ironisch bitter zur scheinbar geleugneten Konsequenz. Ein überlegenes Spiel mit verschossenen Elfern und Lattenknallern und unberechtigter roter Karte, das verloren geht, ist halt verloren. "Hätte, hätte - Fahrradkette". Der Konjunktiv wird mit "Fahrradkette" vernonsenst(sic), weil im Spiel "moralische" Kategorien einer übergeordneten Gerechtigkeit nicht gelten und die Klage darüber im harten Kampf nur zu Wehleidigkeit und erst recht zur Gefahr weiterer Verluste führen könnte. Der moralische Sieger, der sich auf den moralischen Sieg beruft, ist dann erst recht das Opfer des dominanten Geschehens. Und vom Victim-Viktor-Paradox kann man sich halt trotz deutscher Schillerklassik und Kant nix kaufen.

Übrigens sind die beiden Cicero-Beispiele vielleicht bedenkenswert:

Inimicum habebas neminem. Si haberes, tamen non ita vixeras ut metum iudici propositum habere deberes. (Cic. Ver. 5.74);

Praeclare viceramus, nisi spoliatum, inermem, fugientem Lepidus recepisset Antonium. (Cic. Fam. 12.10.3);
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Re: Die indikativische Traummaschine

Beitragvon Prudentius » Mi 13. Sep 2017, 15:50

Willimox hat geschrieben:Mir scheinen ... irreale Bedingungsgefüge auf ein indikativisches Kontrastkonditional zurückzugehen.


Nicht nur auf eins, sondern auf mehrere; nehmen wir zur Illustration ein simples Beispiel:

- "Wenn 7 ein Teiler von 8 wäre, dann auch von 24".

Indikativ-Form: "Wenn 7 ein Teiler von 8 ist, dann auch von 24".

Dieser Satz ist nicht nur ein Kontrast, sondern er ist allgemeiner, oder unbestimmter; er erlaubt ja drei Kombinationen der Teilsätze, nämlich ww, fw, ff.

Dann auch noch die Indefinit-Form: "Wenn irgendeine Zahl Teiler von 8 ist, dann auch von 24";

Weiterhin noch die "weder - noch-Form": "7 ist weder Teiler von 8 noch von 24",; und dann noch die All-Form:

"Alle Teiler von 8 sind Teiler von 24".

Auf L.: Si hoc diceres, errares,
si hoc dicis, erras,
si quis hoc dicit, errat;
neque hoc dicis neque erras,
omnes, qui hoc dicunt, errant.

Das sind eben die Basisformen, mit denen sich der gewöhnliche Sterbliche herumschlagen muss, und die großen Autoren jonglieren mit diesen Formen und bereiten uns allerhand Verlegenheiten.
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Re: Der Irrealis (v.a. der Vergangenheit) in der Dichterspra

Beitragvon Honigdachs » Mi 7. Feb 2018, 15:11

Hallo an alle!

Ich war leider eine ganze Zeit nicht hier. Ich habe eure Antworten alle gelesen und mich darüber gefreut, kam aber noch nicht dazu euch dafür zu danken.

Das wollte ich hiermit nachholen. Vielen Dank für eure Hilfe!
Honigdachs
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Re: Der Irrealis (v.a. der Vergangenheit) in der Dichterspra

Beitragvon Prudentius » Do 8. Feb 2018, 10:47

Honigdachs hat geschrieben:quidquid in his igitur vitii rude carmen habebit
emendaturus, si licuisset, eram.
(Verse 39-40)

~ Was auch immer das unausgereifte Gedicht in diesen Büchern an Fehlern haben wird,
das hätte ich ausgebessert, wenn es mir erlaubt gewesen wäre.


Vllt. kann man noch etwas Nachlese machen; ich finde eigentlich hier nichts Unerklärliches; das Futur-Pc. mit esse ist ganz normal gebraucht, hat nichts mit dem Irrealis zu tun: "... ich war drauf und dran zu verbessern", es drückt das unmittelbare Futur aus, wie man sagt.

Auch dass der Satz vorn irreal und hinten real ist, ist leicht nachvollziehbar; es ist ja bekannt genug, dass die grammatisch-logischen Kategorien mit ihren wenigen Schubladen nicht die ganze bunte Vielfalt des Lebens wiedergeben können; der Autor kann mit diesem Sprung vom einen zum anderen gut den Wechsel, das Umschlagen vom einen zum anderen ausdrücken; man kann also die Grammatik "übers Knie brechen", wie man sagen kann; das versteht sich eigentlich leicht, dazu braucht man kaum besondere Kapitel in der Fachliteratur.

"quidquid in his igitur vitii rude carmen habebit
emendaturus, si licuisset, eram.

Mir behagt das rude als Attribut zu carmen nicht, ich würde es lieber prädikativ verstehen, zu quidquid oder zu carmen": "Was immer an Fehlerhaftem das Gedicht als Unvollkommenheit enthält ..." oder "Was immer an Fehlerhaftem als Unvollkommenheit das Gedicht ...". "Das plumpe Gedicht", Ovid über die Metamorphosen, ist sehr unangemessen.
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Re: tris. 1,7

Beitragvon Honigdachs » Di 19. Feb 2019, 09:06

Prudentius hat geschrieben:quidquid in his igitur vitii rude carmen habebit
emendaturus, si licuisset, eram.

Mir behagt das rude als Attribut zu carmen nicht, ich würde es lieber prädikativ verstehen, zu quidquid oder zu carmen": "Was immer an Fehlerhaftem das Gedicht als Unvollkommenheit enthält ..." oder "Was immer an Fehlerhaftem als Unvollkommenheit das Gedicht ...". "Das plumpe Gedicht", Ovid über die Metamorphosen, ist sehr unangemessen.


Ich antworte hierauf zwar mit über einem Jahr Abstand, aber da ich das Gedicht vor kurzem noch einmal gelesen habe, würde ich nach wie vor die Meinung vertreten, dass man rude hier als Attribut zu carmen verstehen kann und sogar verstehen sollte.

In dem Gedicht (tris. 1,7) vergleicht sich Ovid ja nun implizit mit Vergil. Vergil konnte bedingt durch seinen Tod seine Aeneis nicht mehr fertigstellen (d.h. endgültig überarbeiten) und hatte in seinem Nachlass sogar veranlasst, das Werk zu zerstören.
Ovid baut eine Parallele zu sich selbst auf: Seine Abreise ins Exil bezeichnet er hier und woanders immer wieder als Beerdigung (funus) oder Leichenzug (exsequiae) und spricht immer wieder davon, dass er sein Gedicht in die Flammen werfen und verbrennen wollte (das schon in 1,1). In 1,7,27-30 spricht er dann zusätzlich davon, dass dem Gedicht die letzte "Feile", also der letzte Schliff fehle, weil es ihm "mitten vom Amboss" entzogen wurde, und dass er deshalb (31f.) statt Lob nur Nachsicht vom Leser für sein Werk fordert. rude im vorletzten Vers als Attribut auf carmen zu beziehen ("das unausgereifte / nicht zu Ende bearbeitete Gedicht") passt also genau in diese Darstellungsweise, gerade weil rudis ja auch den unbearbeiteten Zustand eines Materials (z.B. auch Marmor oder Stein) bezeichnen kann, bevor der artifex daran Hand angelegt hat.

Dass Ovid selbst seine Metamorphosen sicher nicht so kritisch gesehen hat wie die persona, durch die er sich in den Tristien inszeniert, ist ja eine ganz andere Frage.
Honigdachs
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