Verse von Herrn Ritze.

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon Laptop » Sa 17. Aug 2019, 23:44

Es gibt diese interessanten Titel-Zeilen von Heinrich Ritze, die lauten

HEUS MEDICE
Vis uarias aliter quàm doctus es hactenus herbas
Scire, nouus multas iſte libellus habet.
Vt retinax primum ſibi teſta reſeruet odorem,
Sex niſi quadrantes & breuis hora perit.
Quæ ſi quàm noſtris luſorum perdere chartis
Malis, tunc aliquid doctius æde tuum.


Meine Frage, wie ist das mit der Zeitangabe zu verstehen? Ist gemeint "Wenn ich eineinhalb Stunden, so vergeht zumindest knapp eine Stunde" ? Die Konjunktion "et" irritiert mich, da sie nicht so recht eine Interpretation mit "zumindest" stützt. Aber anders sehe ich keinen Sinn? Zusatzfrage: was meint er damit genau? Etwa ein neuartiges Distillationsverfahren das nur 1-1,5 Stunden braucht, und somit recht schnell ist?

( Mein Versuch: Willst Du allerlei Kräuter anders als Du bisher gelehrt wurdest kennenlernen: dieses neue Büchlein enthält viele. / Damit ein Aufbewahrungs-Gefäß den frischen (Kräuter-)Geruch erhalte, vergeht eineinhalb oder zumindest eine Stunde. / Wenn Du (diese Zeit) lieber mit Spielkarten verlieren möchtest als mit unserm Buch, dann gib ein irgendwas Gelehrteres von Dir heraus. )
Zuletzt geändert von Laptop am So 18. Aug 2019, 03:32, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon cometes » So 18. Aug 2019, 00:58

Außer den sex quadrantes, die das Büchlein nur kostet, muss man eine brevis hora, also ein wenig Zeit investieren, um von der darin beschriebenen Sache einen ersten Eindruck (primum odorem) mitzunehmen, die Metapher vom einen Duft speichernden Tonkrug für einen geistigen Aufnahmeprozess (wobei testa später ja auch Hirnschale, Kopf bedeuten kann), findet sich schon bei Horaz. Wer diese Dinge (quae), d.h. Zeit und Geld lieber mit einer anderen Art von Blättern, nämlich Spielkarten vergeuden möchte, sollte dann aber selbst etwas Gelehrteres veröffentlichen.
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon Laptop » So 18. Aug 2019, 03:15

Aha, "nisi ... et ..." ergibt Sinn, wenn die quadrantes Geldeinheiten sind, ist das so? (*)

Warum "aede" mit ae geschrieben? War das damals wirklich die Schreibung für edere?

(*) Ich führe den Gedanken mal weiter. Das Buch kam u. a. 1534 in Köln heraus. Zu genannter Zeit und Ort galt die Rechnung: 1 Albus = 2 Schilling = 12 Heller = 24 Pfennig. Wenn mit quadrantes Pfennige gemeint sind (wovon ich ausgehe), dann ist der Buchpreis zu errechnen. 1 Schilling hatte um 1500 die Kaufkraft von etwa 5,4 DM 1967. Der Kaufkraft-Multiplikator zwischen DM 1967 und Euro 2019 ist 3,6. Daraus ergibt sich, daß 6 Quadranten/Pfennige heutigen 7,20 Euro entsprechen. Das ist auf gehobenen Reclam-Niveau, und für die damalige Zeit sicherlich spottbillig. Ich finde es überhaupt erstaunlich, daß ein Buch damals so preisgünstig war. P.S. eine andre Quelle gibt einen Multiplikator von 4 an, was aber nicht viel ändert: das Buch wäre demnach für 8 Euro zu haben.
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon cometes » So 18. Aug 2019, 11:29

Aha, "nisi ... et ..." ergibt Sinn, wenn die quadrantes Geldeinheiten sind, ist das so? (*)


sex nisi quadrantes et brevis hora heißt nur sechs Q. und eine kurze Stunde. Zum seit dem Mlat. verstärkten Gebrauch von nisi im Sinne von nur unter Entfallen der Negation siehe Stotzens Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, Bd. IV, § 98.5, das Ritzes Zeitgenossen Luther zitiert: "Wie sehr nisi inzwischen zum einschränkenden Adverb geworden war, zeigt eine Stelle bei L., wo das Wort unmittelbar auf si folgt: si nisi (= wenn nur) unus locus adesset."


Dass ein ganz bestimmter Betrag hier gemeint ist, bezweifle ich allerdings, der quadrans ist Inbegriff der kleinen Münze. Wer also ein bisschen Geld und Zeit investiert (und nicht beim Kartenspiel verschwendet), sagen die Verse, erhält Zugang zu neuem Wissen.
Zuletzt geändert von cometes am Mo 19. Aug 2019, 22:48, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon Laptop » So 18. Aug 2019, 19:51

Für den Buchpreis spricht die genaue Mengenangabe "sex", wie kommt der Autor darauf, wenn er keinen bestimmten Betrag meint? Er hätte paucis verwenden können, oder ganz auf Quadrantes verzichten und nur von nummus oder pecunia sprechen können.
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon cometes » So 18. Aug 2019, 20:56

Ich mag mich irren, aber ich lese sex nisi quadrantes trotz der Zahlenangabe (die ja auch ins Metrum passen muss) als ebenso vages Pendant zu brevis hora, das sich am Viertelas als Inbegriff der kleinen Münze orientiert. Es kostet also sechs Mal Kleingeld, das ist nicht nichts (obschon der von dir errechnete heutige Gegenwert mir sehr gering erscheint), aber auch keine Unsumme. Vielleicht soll der Ausdruck auch auf einen typischen Münzwert der Zeit anspielen, der ähnliche Funktionen hatte (" Sechser"?).
Nebenbei: Ließe es sich ein frühneuzeitlicher Buchverleger bzw. -händler - in diesem Fall Johann Gymnich - überhaupt gefallen, dass der Autor eine Art epigrammatische Buchpreisbindung in sein Werk schreibt?
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon Laptop » Mo 19. Aug 2019, 00:45

Auf Wikipedia wird eine Übersetzung angezeigt, mit "quadrantes" als "Viertelstunden", angeblich nach Peter Dilg https://de.wikipedia.org/wiki/Euricius_Cordus Womit aber Peter Dilg Unrecht getan wird, denn in seiner Dissertation steht eine Münzangabe, keine Zeitangabe! https://i.imgur.com/xZ7Ygeu.png Er schreibt im Großen und Ganzen das was Du, cometes, auch schon geschrieben hast; außerdem gibt er noch an welche Münze gemeint war. Allerdings ist diese Angabe (i.e. der Tiroler Vierer als Münze), die sich auf Halke stützt, etwas dubios und ich möchte sie hinterfragen. Denn der Vierer wird nach DWB eher nicht für eine Münze als Vierteleinheit sondern für eine Münze im Wert von vier Einheiten verstanden. Daher ist schonmal fraglich ob der Autor wirklich "Vierer" meinte. Denn der Autor war ein Gelehrter und man möchte annehmen, daß er "quadrantes" im klassischen Sinne von "Vierteleinheit" verwendet haben sollte. Hinzukommt, dass man sich wundern muss was eine Tiroler Münze in Köln macht?
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon cometes » Mo 19. Aug 2019, 03:25

Es könnte sich auch einfach um ein für die humanistische Dichtung typisches literarisches Spiel mit antiken Vorbildern und ihrer Sprache handeln, in Ritzes Epigrammen taucht der Ausdruck quadrans mehrmals auf - http://carmina-latina.com/cariboost_fil ... IG_TWD.pdf - z.B. in diesen wohl an Martial orientierten Versen, bei dem er sogar die Namen geliehen hat:

Ex Agathocleis edit, Alcime, Baccara vasis,
et mensam cervis ornat aprisque suam,
quos non pluris emit quam quino forte quadrante
et tamen extrema marcuit ecce fame.

Aus agathoklëischen Töpfen*, Alicmus, speist Baccara
und schmückt seine Tafel mit Hirschen und Wildschweinen,
die er für nicht mehr als vielleicht je fünf Q. gekauft hat.
Und doch, sieh an, ist er ganz schlapp (geworden) vor Riesenhunger.

* d.h. aus irdenen Töpfen, die der aus einer Töpferfamilie stammende A. noch als Herrscher auftragen ließ.


Oder im Spott auf einen Geizkragen, der, wir würden heute sagen, nur Billigfleisch kauft:

Nullas emit carnes avarus Urbinus
nisi sola vervecum et caprorum capita, et non
semper quidem, et non omnia, imo tunc postquam
multis diu instabilis diebus autumni,
computruere et sordido fluunt tabo,
et unico prostant decem pro quadrante
tum se Tarentinum et Sybaritanum civem
splendente crapularier putat luxu.

Der geizige Urbinus kauft kein Fleisch
außer Hammel- und Ziegenschädel,
nicht immer freilich und nicht von jeglicher Art,
sind sie aber lange nach vielen unbeständigen Herbsttagen
verfault und triefen vor schmutzigem Verwesungssaft
und stehen zu zehn Stück für einen einzigen Q. zum Verkauf,
dann wähnt er sich wie ein Tarentiner oder Sybarit im Luxusrausch.


In beiden Fällen geht es wohl kaum um eine reale Währungseinheit seiner Epoche, sondern um den Inbegriff des kleinen Geldbetrags.
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon Prudentius » Mo 19. Aug 2019, 16:49

"... wenn du ein paar Groschen und ein knappes Stündchen opfern willst", Cometes hat es schon richtig gesehen. Laptop, du gehst an das Gedicht wie an einen Prosatext heran und willst den echten Buchpreis ermitteln, Poesie schwebt in der musischen Sphäre, für Dichtung gelten bestimmte Konventionen, dazu gehört, dass das Abstrakte, Banale, Triviale gemieden wird; "concretum pro abstracto" heißt hier wohl die Regel, nicht "wenig Geld", sondern "sex quadrantes"; ein Beispiel aus Horaz: er sagt nicht: "Manch einem macht es Spaß, sich auf der Rennbahn abzuhetzen", sondern: "Sunt quos curriculo pulverem Olympicum collegisse iuvat", ... olympischen Staub (auf der Haut) zu sammeln".
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Re: Verse von Herrn Ritze.

Beitragvon Laptop » Di 20. Aug 2019, 06:04

Die Epigramme nach quadranten zu durchsuchen ist natürlich schlau. Dann meint er es i.S.v. "für kleines Geld", ok. Wobei ich nicht ganz bei den Groschen bin, denn zur damaligen Zeit waren "ein paar Groschen" sehr viel, und wenn man es in heutigem Sinne meint, wäre es unrealistisch wenig.

Prudentius, das Abstrakte ist gemein und leer, das gefällt mir! Heute verstehen wir im Allgemeinen eher den umgekehrten Umstand: das Abstrakte wird bewundert, das Konkretwerden abgewehrt und gemieden. Somit ist Dichtung Kontraposition zum Deutsch der Öffentlichkeit (der Ämter, der Büros und der gelehrten Texte) ? :?
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