oscillum - osculum

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oscillum - osculum

Beitragvon lera1 » Sa 4. Apr 2020, 21:40

Salvete!
In der schönen "Passio S. Pelagii Martyris" der Roswitha von Gandersheim steht in (cap.?) 128, col. 1099, ed. Migne = MPL 137 das Wort oscillum statt osculum, vermutlich aus metrischen, bzw. rhythmischen, Gründen. Daß es "Kuß" und nicht "Mündchen" heißen muß, erhellt der Kontext, auf den ich gleich eingehen werde. Georges kennt oscillum jedoch nicht in der Bedeutung "Kuß", obwohl osculum und oscillum beide gleichermaßen von os abgeleitet sind. Das mittellateinische Glossar von Habel und Gröbel hat "oscillum" sehr wohl in der Bedutung "Kuß", jedoch ohne Belegstellen.
Jetzt meine Frage: Kennt jemand eine möglichst frühe Belegstelle von "oscillum" als "Kuß"?

so, und weil es so schön ist, ganz kurz der Inhalt dieser Passio und der Kontext meiner Frage:
Zur Zeit der arabischen Herrschaft in Spanien wird der junge Christ Pelagius gefangengenommen, an den Hof des Kalifen von Cordoba gebracht, dort inhaftiert und soll hingerichtet werden (damit soll eigentlich primär sein rebellischer - weil christlicher - Vater getroffen werden). Doch die Oberen der Stadt, die wissen, daß der Kalif homosexuell ist (ipsum / corruptum vitiis, cognoscebant, Sodomitis), empfehlen ihm den hübschen Burschen. Der Kalif läßt Pelagius zu sich bringen, heißt ihn, sich neben ihn auf den Thron zu setzen, und verspricht ihm die Hälfte seines Königreichs (oder zumindest die unmittelbar nachgeordnete Stellung: alter / ut in regno sis), wenn er ihm nur zuwillen ist. Und dann kommt die von mir angesprochene Stelle:

Haec ait, et dextra compressit martyris ora,
astrictum laeva complectens colla sacrata,
quo sic oscillum saltem configeret unum.

Wenn also jemandem besagtes oscillum schon mal als Kuß begegnet ist, möge er mich bitte darauf hinweisen!

Danke,

Peter
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon Zythophilus » Sa 4. Apr 2020, 23:40

Die Autorin kennt die Etymologie und verwendet daher den doppelten Deminutiv so, als hätte er keine eigene Bedeutung. Die Form osculum schließt das daktylische Versmaß aus, wenn man sich nicht gerade mit einer Elision bzw. Aphairese behelfen will. Für Ovid ist so etwas kein Problem, da i.d.R. mehrere oscula kommen, aber hier wird der Sg. durch unum betont; da lässt auch mit poetischem Plural nichts erreichen.
Mit Google findet man oscillum in dieser Bedeutung jedenfalls nicht-
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon Tiberis » Sa 4. Apr 2020, 23:42

In der antiken lat. Literatur hat oscillum, anders als osculum, nicht die Bedeutung "Kuss", obwohl beide Wörter Deminutive von os sind, d.h., antike Belegstellen gibt es nicht. Im Mittellatein sind beide Wörter offenbar gleichgesetzt.
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon lera1 » Sa 4. Apr 2020, 23:57

Tiberis hat geschrieben:In der antiken lat. Literatur hat oscillum, anders als osculum, nicht die Bedeutung "Kuss", obwohl beide Wörter Deminutive von os sind, d.h., antike Belegstellen gibt es nicht. Im Mittellatein sind beide Wörter offenbar gleichgesetzt.



ja, eh...aber kennt jemand vielleicht den frühesten Beleg in dieser Bedeutung? - also vielleicht noch vor der Roswitha (die ja sicher keine "Sprachschöpferin" im eigentlichen Sinne war)...
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon Zythophilus » So 5. Apr 2020, 02:17

Möglich scheinen mir die folgenden Varianten:
a) Roswitha hat eine Vorlage, die man mit Google nicht findet, oder verwendet das Wort, wie es damals verwendet wurde, auch wenn kein literarisches Zeugnis diese Verwendung sonst belegt. Die Gleichsetzung von oscillum mt osculum klingt, die Tiberis meint, durchaus plausibel, allerdings fehlt ein Beleg außer die genannte Stelle.
b) Roswitha bildet gewissermaßen selber oscillum als Synonym zu osculum, weil sie die Etymolgie und die Arten der Wortbildung kennt. In dem Fall wäre die Verwendung des Worts bei Vergil freilich unbekannt.
c) Roswitha verwendet das Wort in einer ungewöhnlichen Bedeutung, vertraut aber darauf, dass der Leser aufgrund des Kontexts und der eindeutigen Etymologie auf die hier gemeinte Bedeutung von oscillum kommt. Das Wort klingt ja auf jeden Fall nach "Mund", nicht nach "Bedeckung".

Aufgrund des Inhalts bzw. der Kombination der ELemente ist auszuschließen, dass die Passio S. Pelagii jemals ein Maturatext in Österreich sein wird.
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon Medicus domesticus » So 5. Apr 2020, 09:00

Im Lexikon des Du Cange steht unter oscillum:

OSCILLUM, στομάτιον, Osculum, parvum os, in Supplemento Antiquarii. Acta SS. Junii tom. 5. pag. 211. de S. Pelagio Martyre :

Sed nec "(decet)" Christicolam, sacrato chrismate tinctum,
Dæmonis Oscillum spurci captare famelli.

Vide Walthar. vers. 1127. et 1141.


Es wird nur auf die unterstrichenen Stellen verwiesen.
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon Zythophilus » So 5. Apr 2020, 10:58

Tiberis' ohnedies plausible These, dass oscillum im Mittellatein lediglich eine Variante zu osculum sei, ist mit den Stellen aus dem Waltharilied belegt.
oscilloque lässt sich mit Google kaum finden, weil man nicht nach dieser Form mit dem Enklitikon sucht, aber bei oscillum v. 1411 wundert es mich doch.
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon lera1 » Mo 6. Apr 2020, 02:18

Danke für eure Antworten! Da das Walthariuslied, das von euch als Referenzstelle genannt wurde, aus dem 10. Jhdt. stammt, und auch Roswitha im 10. Jhdt. lebte, ist es also durchaus möglich, daß sie die Schöpferin des "oscillum" als "Kuß" ist - es ist zwar auch naheliegend (Deminutiv von os), wie ihr ja auch schon erwähnt habt, jedoch war sie mir bis dato als innovative "Wortschöpferin" doch unbekannt...
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon cometes » Mo 6. Apr 2020, 13:22

Möglich scheinen mir die folgenden Varianten:


d) Roswitha (oder ihr Vorläufer) bildet von dem längst lexikalisierten Deminutiv osculum, das sie keineswegs als solches erkennt, ein Deminutiv nach dem (trügerischen) Schema von baculum/bacillum, cingulum/cingillum ...
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon Laptop » Di 26. Mai 2020, 00:30

Was geschätzter cometes sagt würde ich auch annehmen. Der Kontext läßt darauf schließen,
dass der Kalif mit geschürzten Lippen ein vorsichtiges "Küßchen" gibt, was beinahe
schon komisch wirkt bzw. wirken soll. Also kein Kuß, sondern ein Küßchen.

D. h. Roswitha hat hier einfach die Verkleinerungsform von osculum gebildet, und zwar
-- ungeachtet dessen, dass osculum von manchen bereits als Deminutiv betrachtet wird. Ich würde es nicht mehr als Deminutiv betrachten.
-- und ungeachtet dessen, dasss oscillum bereits eine andere klass. Bedeutung hat.

Wogegen auch nichts einzuwenden. So eine neuartige Verkleinerungsform ist im Graubereich zw. "natürliche Ableitung" und "Wortschöpfung". Insofern kein großer Bock.
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Re: oscillum - osculum

Beitragvon ille ego qui » Do 28. Mai 2020, 10:09

Nicht zu vergessen diese Spezialbedeutung von oscillum:

viewtopic.php?f=18&t=29155&p=280962&hilit=oscillum#p280962

;)

Ist eigentlich -illus (-ellus) sozusagen ein Diminutiv zweiten Grades?
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gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
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