Horaz

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Re: Horaz

Beitragvon marcus03 » Mo 1. Jun 2020, 06:58

Laptop hat geschrieben:Unter "Widerfahren-Form" würde ich sinngemäß eher ein täterloses Erleben verstehen,

Das Passiv wird oft verwendet, wenn das Agens unbekannt ist oder nicht genannt wird.
Insofern würde es mMn schon Sinn machen.

Nur am Rande:
In der Theologie spricht man bei der Auferweckung/Auferstehung ("ophte") Jesu von einem Widerfahrnis.

Willi Marxsen: Die Auferstehung Jesu – ein zeitbedingtes InterpretamentWir können mit großer Sicherheit sagen, dass Zeugen ein Sehen des Gekreuzigten widerfuhr. Noch genauer müssen wir formulieren: Zeugen behaupten nach dem Tode Jesu, ihn gesehen zu haben – und eben dieses Sehen drücken sie unterschiedlich, zum Teil schon mit anfäng-lichen Interpretationen dieses Sehens aus. Aufgrund dieses Widerfahrnisses des Sehens aber, das Zeugen behaupteten, kamen sie dann durch reflektierende Interpretation zu der Aussage: Jesus ist von Gott auferweckt worden bzw. er ist auferstanden. – Natürlich waren sie dann auch der Meinung, hier von einem wirklichen Ereignis zu reden. Sie waren nun von dem Ereignet-Sein der Auferweckung Jesu überzeugt.Wir sind aber heute nicht mehr in der Lage, so unmittelbar von der Auferstehung Jesu als von einem Ereignis zu reden, sondern müssen einfach sagen: Es handelt sich um ein Interpreta-ment (Verstehenshilfe), dessen sich diejenigen bedient haben, die ihr Widerfahrnis (damals!) reflektierten. Wenn man heute also historisch (!) die Frage stellt: Ist Jesus auferstanden?, dann können wir nur antworten: Das lässt sich nicht feststellen. Historisch lässt sich nur feststellen (das aber sicher!), dass Menschen nach dem Tode Jesu ein ihnen geschehendes Widerfahrnis behaupteten, das sie als Sehen Jesu bezeichneten – und die Reflexion dieses Widerfahrnisses führte diese Leute zur Interpretation: Jesus ist auferweckt worden.Durch das Widerfahrnis des Sehens ausgelöst, wird also die „Sache Jesu“ weitergebracht. [...] Die Sache Jesu wird aber weitergebracht durch seine Zeugen. Sie stehen in ihrer Funktion nun an Jesu statt. Das Recht für dieses Weiterbringen begründen sie damit, dass sie Jesus nach sei-ner Kreuzigung gesehen hätten.Man darf aber dabei immer dieses nicht vergessen: Solches Sich-Einlassen auf die „Sache Jesu“ kann durchaus geschehen, auch ohne dass man expressis verbis sagt: Er ist auferstanden. Es ist also keineswegs nötig, von der Auferstehung Jesu in eben dieser Terminologie zu reden. Nicht die Auferstehung ist das entscheidende Datum (man kann bei der Auferstehung nun ja gerade nicht im eigentlichen Sinne von einem Datum reden), sondern Jesus war das „Datum“, sein Reden und Tun. Jesus wurde in seinem irdischen Wirken als Antizipation des Eschaton erfah-ren, als Ereignung Gottes. Diese – an ihn gebundene – Ereignung Gottes, die mit seinem Tode eigentlich vorbei war, wurde durch das Widerfahrnis des Sehens neu ausgelöst.Marxsen, Willi: Die Auferstehung Jesu – ein zeitbedingtes Interpretament. In: Marxsen, Willi: Die Auferstehung Jesu als historisches und theologisches Problem. Mohn, Gütersloh 1964 S. 19–26, 33–35 in Auszüg


Ähnlich:
https://books.google.de/books?id=hoatyk ... is&f=false
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Mo 1. Jun 2020, 12:51

Laptop hat geschrieben:@ille ego qui
Ich will nicht kleinlich sein, aber wie kann hier desperandum als passive Verbform
ein direktes Objekt annehmen? Akkusativ des Inhalts, ok, aber Objekt?


Das war auf das Verb desperare an sich bezogen, nicht auf den passivischen Satz, in dem das direkte Objekt eines Verbs formal zum Subjekt wird.

P.S.: Im übrigen gibt es sogar - seltene - Belege für ein unpersönliches Gerundiv mit direktem Objekt (im Akkusativ). Das sollte man heute aber wohl eher meiden.
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Re: Horaz

Beitragvon marcus03 » Mo 1. Jun 2020, 13:03

ille ego qui hat geschrieben: Im übrigen gibt es sogar - seltene - Belege für ein unpersönliches Gerundiv mit direktem Objekt (im Akkusativ).

Die da wären? Würde mich interessieren. :)
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Mo 1. Jun 2020, 13:58

marcus03 hat geschrieben:
ille ego qui hat geschrieben: Im übrigen gibt es sogar - seltene - Belege für ein unpersönliches Gerundiv mit direktem Objekt (im Akkusativ).

Die da wären? Würde mich interessieren. :)


ecce:

Laelius. Atqui, Cato, gratissimum nobis, ut etiam pro Scipione pollicear, feceris, si, quoniam speramus, volumus quidem certe senes fieri, multo ante a te didicerimus, quibus facillime rationibus ingravescentem aetatem ferre possimus. Cato. Faciam vero, Laeli, praesertim si utrique vestrum, ut dicis, gratum futurum est. Laelius. Volumus sane, nisi molestum est, Cato, tamquam longam aliquam viam confeceris, quam nobis quoque ingrediundum sit, istuc, quo pervenisti videre quale sit.


Cic. Cat. II,6

Eventuell ein Archaismus (vgl. ingrediundum statt ingrediendum)? :?
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Mo 1. Jun 2020, 14:25

Addendum:

Via Google kam ich ganz zufällig auf einen alten Thread dieses Forums, wo die Stelle bereits heiß diskutiert wurde.
Dabei kam heraus, dass diese Stelle zwar natürlich sehr ungewöhnlich, aber doch nicht singulär ist, vgl.:

https://books.google.com/books/about/De ... GQT2O-h-sC
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Mo 1. Jun 2020, 14:32

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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Di 2. Jun 2020, 14:18

Obticuit Mārcus.
:D
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Re: Horaz

Beitragvon Sapientius » Di 2. Jun 2020, 19:02

... quam nobis quoque ingrediundum sit, ...
sprechen sollte

Akkusativobjekt bei passivem Gerundiv? Dagegen sträube ich mich, ich sehe hier lieber ein loses Kompositum in - gredi, bei dem in statt als Präfix als Präposition mit Akkusativ auftritt; also als sagte er:
"in quam nobis quoque gradiundum sit"; so dass Marcus wieder sprechen sollte :) .
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Di 2. Jun 2020, 22:59

Dann solltest du dir den zweiten link ansehen, Sapienti!
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Re: Horaz

Beitragvon Sapientius » Mi 3. Jun 2020, 17:00

Dann solltest du dir den zweiten link ansehen, Sapienti!


"... quam nobis quoque ingrediundum sit ..."

Meinst du das Buch von Risch? Aber an der angegebenen Stelle ist nur eine Kapitelüberschrift zugänglich: "Das unpersönliche Gerundiv mit Akkusativobjekt".
Soll die Cicerostelle der Beleg sein? Aber unpersönlich ist es nicht, es ist ja mit "nobis" ein Subjekt gegeben, "wir sollen eintreten".
"quam": Der Satz fängt als Aktiv-Konstruktion an, "wir sollen ihn betreten", Akkusativobjekt, und wird als Passivkonstruktion weitergeführt, "nobis ingrediundum sit", "muss von uns betreten werden".

Der Satz enthält also einen Konstruktionswechsel, wie er wohl in lebendiger Rede vorkommt, man redet schneller, als man denkt. Er ist wohl nicht als grammatisches Musterbeispiel gedacht.
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Fr 5. Jun 2020, 08:42

Salve, Sapienti!
Unpersönlich heißt nach gängiger grammatischer Terminologie in diesem Zusammenhang nur, dass es kein formales Subjekt gibt.
Sehr eigenartig, dass du die Seiten nicht anzeigen kannst. Vielleicht geht es nur, wenn man angemeldet ist.Ich habe die Seiten mal für euch abfotografiert:

https://drive.google.com/drive/folders/ ... sp=sharing

Man sieht, dass vermeintliche Logik nicht zwingend den Usus bestimmt. Dass man es sich während des Sprechens anders überlegt, das gibt es natürlich, aber es gäbe genug Möglichkeiten nach "quam" den Satz noch korrekt abzuschließen. Bei Lukrez würde ich diese Erklärung jedenfalls nicht direkt in Betracht ziehen: eher eine sprachlich-logische Spielerei oder - was ich für wahrscheinlicher halte - gar nicht mal so ungewöhnlich.

Aber natürlich ist das hier nicht der ganz gängige Sprachgebrauch und ich persönlich würde es auch eher nicht nachahmen.
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Fr 5. Jun 2020, 20:32

Ailourophilos hat geschrieben:Sehr gut erklärt. Der Link funktioniert aber glaube ich nicht.


Salve!
Schade, der Link zu GoogleDrive funktioniert nicht? Ich habe ihn extra freigegeben und in mehreren Browsern (in denen ich ausgeloggt war) getestet :?
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Re: Horaz

Beitragvon Laptop » Fr 5. Jun 2020, 23:33

Bei mir funktionieren die Google-Drive-Links!
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Fr 5. Jun 2020, 23:48

Laptop hat geschrieben:Bei mir funktionieren die Google-Drive-Links!


Danke für die Rückmeldung!
Immer diese unberechenbare Technik ...

Ich habe jetzt in den letzten Wochen angefangen, ein paar Studierende und Lehrende ein bisschen via Zoom in Latine loqui und generell im Lateinischen zu coachen und habe gestern sogar eine etwas größere Fortbildung abgehalten (ein erster Probelauf) - sehr spannende Tage für mich! Einerseits toll, was da technisch alles möglich ist (Zoom erlaubt beispielsweise Partner- oder Gruppenarbeit in Unterräumen), andererseits verzweifle ich regelmäßig an der Technik (und nicht zuletzt an den GoogleDrive-Links).

P.S.: Falls hier Latine-loqui-willige Lateinlehrer*innen mitlesen, dürfen sie gerne einen Blick auf das Material werfen:
https://drive.google.com/drive/folders/ ... sp=sharing
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Re: Horaz

Beitragvon ille ego qui » Sa 6. Jun 2020, 22:09

Bene mones, amice! :-)
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