M. BEARD Wenn sie vom alten Rom erzählt, kreischen die Girls

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M. BEARD Wenn sie vom alten Rom erzählt, kreischen die Girls

Beitragvon ille ego qui » Mi 23. Nov 2022, 11:40

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Heute u.a. dieser Artikel über Mary Beard (die in der Tat eine Person ist, der ich gerne lausche und die ich ganz gerne lese)



Betreff: NZZ International: Wenn sie vom alten Rom erzählt, kreischen die Girls - 23.11.2022
Wenn sie vom alten Rom erzählt, kreischen die Girls

Mary Beard ist der Pop-Star unter den Altertumswissenschaftern. Wie sie den Nerv dieser Zeit trifft

Thomas Ribi

Sie möchte einen Cappuccino und kommt rasch zur Sache. Meine Frage, wie man eine Frau anspricht, die Dame Commander des Order of the British Empire ist, beantwortet Mary Beard mit einem Lachen. «I’m Mary», sagt sie, setzt sich ans Fenster der Hotelbar im Zürcher Hochschulquartier und fragt, wie lange das Gespräch dauern werde. Es ist erst kurz vor Mittag, aber Dame Mary ist müde. Sie atmet kurz durch, wischt sich die langen weissen Haare aus der Stirn. Am Abend vorher ist es spät geworden. Die Cambridger Historikerin hat am Zentrum für Altertumswissenschaften der Uni einen Vortrag gehalten. Thema: «Does Classics Have a Future?». Jetzt steht ein Workshop mit Studierenden auf dem Programm: «Volle vier Stunden soll das dauern», stöhnt sie.

Mary Beard ist ungeduldig. Nur keine Zeit verlieren, auch wenn die Zeit, mit der sie sich beschäftigt, weit zurückliegt. Rund zweitausend Jahre. Aber vergangen sei sie nicht ganz, sagt sie. Die Formen, in denen in Europa Macht und Herrschaft repräsentiert werde, zum Beispiel: alles aus dem alten Rom. Säulen, Inschriften, Porträtbüsten. Am liebsten aus Marmor, Weiss in Weiss. «Die Menschen sind heute noch fasziniert von den römischen Kaisern», sagt sie, «und dabei verdrängen sie, wie viele von ihnen ermordet wurden.» Ganz so strahlend sei das alles nicht gewesen. «Und, ganz ehrlich, die meisten waren sehr mittelmässige Herrscher.»

Duell mit Boris J.

Das ist keine Offenbarung, aber typisch für Mary Beard. Sie hat keine Angst, am Lack zu kratzen, mit dem die Antike jahrhundertelang übertüncht wurde, auch wenn das, was darunter zum Vorschein kommt, wenig erfreulich ist: Frauenfeindlichkeit, Sklaverei, Gewalt. «Ja», sagt Beard, «die klassische Antike war nicht ‹divers›. Sie war weiss und männlich. Sie war gewalttätig. Und wir realisieren erst heute, wie stark sie missbraucht wurde, um moderne Ideologien zu rechtfertigen: Kriege, Imperialismus, Unterdrückung.»

«Das darf man nicht beschönigen», sagt Mary Beard. Natürlich, die alten Gesellschaften hätten auf Sklavenhaltung beruht. Und auch wenn es Ausnahmen gegeben habe, die meisten Sklaven hätten ein miserables Leben gehabt. «Aber wie ist es denn heute?», fragt sie: «Vielleicht gibt es ja noch immer so etwas wie Sklaven. Menschen, ohne die die Gesellschaft nicht funktionieren würde, aber die nicht zur Gesellschaft gehören. Allzu viel sollten wir uns nicht einbilden.»

Beard ist Professorin für Alte Geschichte. Aber sie ist nicht nur Wissenschafterin, sondern eine «public intellectual». Sie nimmt Stellung zu politischen Fragen, vor allem wenn es um Feminismus geht, sie twittert, moderiert Fernsehsendungen, schreibt Kolumnen für Zeitungen, einen Blog und Bücher über römische Geschichte, die regelmässig zu Bestsellern werden. Ihr Manifest «Women & Power» über Frauenfeindlichkeit und Sexismus in der Antike oder die Essaysammlung «Confronting the Classics», in der sie sich zum Beispiel fragt, was ein Römer machte, wenn er pleite war, oder ob sich Sappho je die Zähne putzte, sind schon zu Klassikern geworden.

Mary Beard ist der Pop-Star unter den Altertumswissenschaftern. Akademische Ehrungen hat sie dutzendweise erhalten, 2018 wurde sie Mitglied des Order of the British Empire und vergangene Woche ist ihr der Times Higher Education Lifetime Achievement Award verliehen worden, eine der prestigereichsten Auszeichnungen der akademischen Welt. Sie inszeniert sich gern. Und gut. Wenn sie vor Publikum steht, zieht sie alle Register. Vor ein paar Jahren zum Beispiel, als sie sich öffentlich mit Boris Johnson stritt.

Ein Youtube-Video dokumentiert das Rededuell «Greece vs. Rome», das 2015 in der Westminster Central Hall in London stattfand. Der «New Statesman» bezeichnete es als «clash of the titans». Beard hielt ein flammendes Plädoyer für das antike Rom. Johnson, studierter Altphilologe und damals Bürgermeister von London, gab sich alle Mühe, dagegenzuhalten. Er bezeichnete die Römer als «bastards» und stellte die Griechen als die feinere, raffiniertere und geistig überlegene Kultur dar.

Vergeblich. Beard gewann triumphal. Hätte sie im Römischen Reich zum Rechten gesehen, wäre es nie untergegangen, scherzen ihre Fans. Und wer weiss, vielleicht haben sie recht. Mary Beard sagt, was sie denkt. Und sie würde es wahrscheinlich auch sagen, wenn ihr Kaiser Nero höchstpersönlich gegenübersässe. Deutlich, aber unaufgeregt. Sie ist eine wunderbare Erzählerin. Wenn sie erklärt, was es hiess, als Frau eines Senators oder als Sklave in Pompeji zu leben, begeistert sie nicht nur Antikenfans, sondern auch Leute, die mit Cäsar und Cicero nicht viel am Hut haben. Der «Guardian» spricht von einem «Mary-Beard-Kult». Bei einem Filmdreh in Italien wurde sie von einer englischen Schulklasse erkannt. Die Girls sollen gekreischt haben, als stünden sie vor Beyoncé.

«Exzentrisches altes Mädchen»

Klar, Feinde hat sie auch. Und die sind nicht zimperlich. Internet-Trolle posteten schon Hass-Tweets, auf denen ihr Bild neben weiblichen Geschlechtsteilen zu sehen war. Doch solche Angriffe halten sie nicht davon ab, zu sagen, was sie sagen will. Auch wenn viele es nicht hören wollen. Dass Macht noch immer männlich besetzt sei, zum Beispiel, und Frauen, die Macht haben, zu Männern werden müssten, um akzeptiert zu werden. Und dass so lange nicht von Gleichstellung die Rede sein könne, als es wie eine Kritik klinge, wenn man von einer Frau sage, sie sei ehrgeizig.

Da meldet sich die Feministin zu Wort, die sich selbst einmal als «das exzentrische alte Mädchen» bezeichnet hat, «das von den Römern erzählt». Nun ja, exzentrisch wirkt sie eigentlich nicht, und dass sie siebenundsechzig ist, sieht man ihr auch nicht an. Vom alten Rom sei sie begeistert, seit sie ein Kind war, sagt sie. Aber es ist eine Faszination ohne Schwärmerei. Eine, die Distanz hält. Mary Beard pocht darauf, dass wir vergangene Kulturen nicht betrachten können, ohne uns selbst zu hinterfragen. «Die Fragen, die wir an die alten Römer stellen, müssen wir auch uns stellen», sagt sie. Sonst sei alles nur ein unverbindliches Salongespräch.

So etwas wie ein «safe space»

Die Beschäftigung mit der römischen Geschichte biete so etwas wie einen «safe space», sagt Beard. Einen Raum, in dem wir über Themen wie Macht, Krieg oder Unterdrückung reden könnten, und zwar anhand von Ereignissen, in die wir selbst nicht direkt involviert sind. «Der Blick auf das alte Rom gibt uns die Möglichkeit, aus uns herauszutreten und über Dinge nachzudenken, über die wir sonst nicht auf diese Weise nachdenken.» Gilt das nicht auch für andere Epochen? Doch, sagt Beard. Aber Rom und Griechenland hätten den Vorteil, uns einigermassen vertraut zu sein – und zugleich fremd. «Wir kennen vieles. Und lernen heute, uns über vieles zu wundern, was wir bisher gar nicht gesehen haben, weil wir andere Fragen stellten.»

Trotzdem steht die Altertumswissenschaft heute sogar bei Fachvertretern als «toxische» Disziplin unter Verdacht. Als weiss, männlich, kolonialistisch. Mary Beard zuckt mit den Schultern: «Ja, das Fach hat eine problematische Geschichte. Aber das haben die Nuklearphysik oder die Ethnologie auch. Dem müssen wir uns stellen.» Mit Augenmass, fügt sie hinzu. Und ohne zu vergessen, was wir aus der antiken Geschichte lernen können.

Aus der Geschichte lernen? Das klingt nach bürgerlichem Bildungsoptimismus. Aber Mary Beard geht es nicht um simple Analogien, sondern um Grundsätzliches: «Was Macht ist, wie sie funktioniert und wie leicht Macht die korrumpiert, die sie haben», sagt sie: «Das sehen Sie kaum irgendwo sonst so deutlich wie im alten Rom.» Ausser vielleicht in England? Jetzt gerade? Dame Mary seufzt. «England? It’s not in a great state», sagt sie. Da blitzt ihr gut britisches Understatement auf. Und vielleicht ein Hauch Resignation.

Aus dem E-Paper vom 23.11.2022
Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen et egressus silvis vicina coegi,
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
arma virumque cano ...
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Re: M. BEARD Wenn sie vom alten Rom erzählt, kreischen die G

Beitragvon Medicus domesticus » Mi 23. Nov 2022, 19:38

Mary Beard kenne ich natürlich und habe für sie auch vor nicht wenigen Jahren geworben… :-D :

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